Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 15.11.2007, Az.: S 2 U 185/03

Anspruch auf Gewährung eines höheren Übergangsgeldes; Berechnung des Übergangsgeldes nach den im Bemessungszeitraum erzielten Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen; Übergangsgeld nach dem Arbeitsentgelt aufgrund einer Teilzeitbeschäftigung

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
15.11.2007
Aktenzeichen
S 2 U 185/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 65558
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2007:1115.S2U185.03.0A

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Beklagten vom 12.08.2003 und der Widerspruchsbescheid vom 28.10.2003 werden aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verurteilt, das der Klägerin gewährte Übergangsgeld unter Anwendung der Vorschrift des § 48 SGB IX zu berechnen und zu zahlen.

  3. 3.

    Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines höheren Übergangsgeldes.

2

Die im Jahr 1966 geborene Klägerin ist in der DDR aufgewachsen. Am 17. Dezember 1982 erlitt sie beim Schulsport einen Unfall, bei dem sie sich eine Verletzung des rechten Kniegelenks zuzog. Hierfür wurde ihr in der DDR eine Rente gezahlt. Im Jahr 1993 wurde die Beklagte der zuständige Unfallversicherungsträger. Von dort erhält die Klägerin seit dem 1. April 1993 eine Verletztenrente nach einer MdE i. H. v. 20%.

3

Die Klägerin erlernte den Beruf einer Krankenschwester und war zuletzt im Krankenhaus E. als Op-Schwester tätig. In der mündlichen Verhandlung hat sie ausgeführt, dass sie ab Januar 2001 von einer Vollzeit- in eine Teilzeitbeschäftigung mit einer Wochenarbeitszeit von 20 Stunden gewechselt sei. Wegen zunehmender Schmerzen im verletzten Knie wurde am 22. Juni 2001 eine Operation durchgeführt. Seitdem war die Klägerin auch arbeitsunfähig. Ab dem 3. August 2001 erhielt sie ein kalendertägliches Verletztengeld i. H. v. 51.78 DM (später 26,87 EUR). Eine Arbeits- und Belastungserprobung wurde abgebrochen, da sie wegen der Unfallfolgen nicht mehr in der Lage war, als Op-Schwester zu arbeiten und innerbetriebliche Umsetzungsmöglichkeiten nicht bestanden. Mit dem Bescheid vom 20. Dezember 2002 gewährte ihr die Beklagte eine Feststellungsmaßnahme, eine Umschulung zur Bürokauffrau und dem Grunde nach Übergangsgeld. Mit dem Bescheid vom 30. Januar 2003 wurde der Klägerin ein Übergangsgeld i.H.v. täglich 21,97 EUR bzw. ab dem 1. Februar 2003 i. H. v. 22,43 EUR. gewährt. Darin wurde ausgeführt, dass als Grundlage das Arbeitsentgelt herangezogen werde, welches sie zuletzt vor der Maßnahme von November 2000 bis zum 31. Januar 2001 bezogen habe.

4

Am 24. Juli 2003 beantragte die Klägerin gem. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB X) die Überprüfung des Übergangsgeldbescheids. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Berechnung in Anwendung des § 48 S. 1 Nr. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB IX) unter Zugrundelegung eines vergleichbaren Tarifentgelts aus einer Vollzeitbeschäftigung hätte erfolgen müssen. So würde auch in entsprechenden Fällen von der Deutschen Rentenversicherung verfahren, bei denen stets eine Vergleichsberechnung durchgeführt würde. Mit dem Bescheid vom 12. August 2003 lehnte die Beklagte eine Neufeststellung des Übergangsgeldes ab. Da die Klägerin zuvor Verletztengeld bezogen habe, müsse die Berechnung gem. § 49 SGB IX erfolgen. Darin sei bestimmt, dass in diesem Fall die dem Verletztengeld zugrunde gelegte Bemessungsgrundlage auch für das Übergangsgeld gelten würde. Eine Anwendung des § 48 SGB IX sei dadurch ausgeschlossen. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2003 zurückgewiesen.

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Hiergegen hat die Klägerin am 20. November 2003 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben.

6

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.)

    den Bescheid der Beklagten vom 12. August 2003 und den Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2003 aufzuheben,

  2. 2.)

    die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Anwendung der Vorschrift des § 48 SGB IX ein höheres Übergangsgeld zu gewähren.

  3. 3.)

    die Beklagte zur verurteilen, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und waren aufzuheben, weil die Beklagte zu Unrecht die Neufeststellung des Übergangsgeldes unter Anwendung des § 48 SGB IX abgelehnt hat.

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Gem. § 44 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt u.a. dann zurückgenommen werden, soweit sich ergibt, dass das Recht unrichtig angewandt wurde und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht wurden. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt, da sich die Beklagte bei der Berechnung des Übergangsgeldes nicht auf die Vorschrift des § 49 SGB IX hätte beschränken dürfen. Sie hätte vielmehr zusätzlich eine Berechnung gem. § 48 SGB IX durchführen und das nach einer Vergleichsberechnung ermittelte höhere Übergangsgeld zahlen müssen. Dies beruht auf folgenden gesetzessystematischen Überlegungen: Nach dem in § 46 Abs. 1 i.V.m. § 47 SGB IX festgelegten Grundsatz richtet sich die Berechnung des Übergangsgeld zwar eigentlich nach dem tatsächlichen im Bemessungszeitraum erzielten Arbeitsentgelt oder -einkommen. Gem. § 48 SGB IX soll die Bemessungsgrundlage für das Übergangsgeld jedoch zumindest 65% des auf ein Jahr bezogenen tariflichen bzw. am Wohnsitz des Leistungsempfängers geltenden ortsüblichen Arbeitsentgelts betragen, insbesondere dann, wenn die Berechnung nach den §§ 46 und 47 SGB IX zu einem geringeren Betrag führt oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen nicht erzielt wurden. Nach der Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs enthält die Vorschrift Regelungen für die Ermittlung der Übergangsgeldberechnungsgrundlage für die Fälle, in denen eine Orientierung an den tatsächlichen Einkommensverhältnissen des Betroffenen vor Beginn der Leistung zu einer nicht angemessenen Höhe der Übergangsgeldes führt (BT-Drucks. 14/5074). Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers bei einer Unterschreitung des nach § 48 SGB IX ermittelten Betrags stets von einer unangemessenen Höhe des Übergangsgeldes auszugehen ist und der Erfolg der Rehabilitationsmaßnahme aufgrund einer nicht ausreichenden Versorgung gefährdet sein kann. Das Ziel des § 48 SGB IX ist es daher, während einer Leistung zur Teilhabe den Lebensunterhalt sicher zu stellen (so: Köllner in Lauterbach, Unfallversicherung, SGB VII, § 50 Rz. 77). Der Übergangsgeldempfänger soll daher während der Maßnahme nicht gezwungen sein, zur Aufstockung des Übergangsgeldes auf eine angemessene Höhe arbeiten oder ergänzende Sozialleistungen (z.B. nach dem SGB II) in Anspruch nehmen zu müssen. Er soll sich vielmehr ganz auf die Maßnahme konzentrieren können.

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Diese Argumente gelten aber in gleicher Weise für denjenigen, dessen Übergangsgeld nach § 49 SGB IX berechnet wird. Das Argument, dass sich das Übergangsgeld nach den tatsächlichen Verhältnissen richten müsse, sticht in diesem Fall nicht, weil bei einer ausschließlichen Anwendung des § 49 SGB IX ein Übergangsgeldempfänger, der wie die Klägerin Arbeitsentgelt nur aufgrund einer Teilzeitbeschäftigung erhalten hatte, schlechter gestellt wäre, als derjenige, der zuvor gar kein Einkommen erzielt hätte. Für diese Ungleichbehandlung gibt es nach Ansicht der Kammer keine ausreichende Rechtfertigung, zumal auch § 49 SGB IX eine wesentliche wirtschaftliche Verschlechterung bei sog. Anschluss-LTA gerade vermeiden soll (so: Landessozialgericht (= LSG) Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 21.11.2006 - L 1 R 412/06). Die mit § 49 SGB IX offenbar bezweckte Verwaltungsvereinfachung (vgl. hierzu: LSG Niedersachsen-Bremen , Urteil vom 23. März 2006 - L 10 R 339/05; BSG SozR 3 - 4100 § 59 c (AFG) Nr. 1) ist demgegenüber kein ausreichender sachlicher Grund, die Verletztengeldbezieher bzw. die in § 49 SGB IX genannten weiteren Personen, gegenüber allen anderen Übergangsgeldbeziehern schlechter zu stellen, in Gefahr laufen zu lassen, kein angemessenes Übergangsgeld zu erhalten und dadurch den Erfolg der Maßnahme insgesamt zu gefährden. Unter Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Grundgesetz) ist es deshalb in verfassungskonformer Auslegung geboten, auch in den Fällen des § 49 SGB IX eine Vergleichsberechnung nach dem in § 48 SGB IX aufgezeigten Ansatz vorzunehmen und das höhere Übergangsgeld zu gewähren.

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Die vorstehende Problematik wurde und wird offenbar auch schon von anderen Sozialversicherungsträgern erkannt und in der entsprechenden Weise gelöst. Auch die in den Kommentierungen vertretenen Auffassungen sind unterschiedlich, wobei sogar auch nach der Erstkommentierung der drei Bundesverbände der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (!) zum SGB IX eine solche Vergleichberechnung in jedem Fall vorgenommen werden soll (vgl. Köllner in Lauterbach, a.a.O. § 50 SGB VII, Rz. 71, der dort allerdings eine abweichende Ansicht vertritt, siehe Rz. 72 ff.). Da nach der o. g. Gesetzesbegründung zum Regierungsentwurf zu § 48 SGB IX die Berechnung des Übergangsgelds für alle Rehabilitationsträger einheitlich gelten soll, wird daher angeregt, dass sich die Spitzenverbände bald auf eine solche einheitliche Regelung verständigen. Auch der vorliegende Rechtsstreit hat nämlich seine Wurzel in der unterschiedlichen und unabgestimmten Gesetzesinterpretation der Rehabilitationsträger.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.