Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 27.09.2007, Az.: S 15 SB 67/07
Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses für eine Verurteilung des Versorgungsträgers zur isolierten Feststellung weiterer Behinderungen
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 27.09.2007
- Aktenzeichen
- S 15 SB 67/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 65571
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2007:0927.S15SB67.07.0A
Rechtsgrundlage
- § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Bezeichnungen der bei dem Kläger vorliegenden dauernden Funktionsbeeinträchtigungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).
Bei dem im D. geborenen, also derzeit E. Jahre alten Kläger stellte der Beklagte in Ausführung des vor dem Sozialgericht Lüneburg im Verfahren zum Aktenzeichen S F. abgegebenen Anerkenntnisses vom 27. Juni 2006 mit Ausführungsbescheid vom 23. November 2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 ab dem 01. März 2005 sowie die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab dem 30. Januar 1980 fest. Grundlage dieser Feststellung waren folgende Funktionsbeeinträchtigungen:
- 1.
Aortenaneurysma (Einzel-GdB 50),
- 2.
Lendenwirbelsäulensyndrom mit Ausstrahlungen in beide Beine und Fußheberschwäche links (Einzel-GdB 30),
- 3.
künstlicher Kniegelenksersatz rechts (Einzel-GdB 30),
- 4.
Schlafapnoesyndrom und Herzrhythmusstörungen bei Bluthochdruck (Einzel-GdB 30),
- 5.
Unfallfolgen (Einzel-GdB 25),
- 6.
Schulterhochstand links mit Verformung des Schlüsselbeines (Einzel-GdB 20),
- 7.
Zuckerkrankheit mit peripheren Nervenstörungen (Einzel-GdB 20),
- 8.
Hirnschädigung bei Durchblutungsstörungen (Einzel-GdB 20).
Die Gebrauchseinschränkung des linken Daumens wurde mit einem sich nicht erhöhend auswirkenden Einzel-GdB von 10 bewertet.
Hiergegen erhob der Kläger am 06. Dezember 2006 Widerspruch, den er im Wesentlichen damit begründete, dass die von dem Sachverständigen und im Urteil der Kammer vom G. (Az.: S F.) erwähnten Funktionsbeeinträchtigungen nur unzureichend im Ausführungsbescheid berücksichtigt worden seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unzulässig zurück. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, der angefochtene Ausführungsbescheid vom 23. November 2006 basiere auf dem Teilanerkenntnis vom 27. Juni 2005 und gebe dessen Inhalt wieder. Durch den Bescheid vom 23. November 2006 sei der Kläger nicht beschwert, das von ihm angenommene Teilanerkenntnis sei ordnungsgemäß ausgeführt worden. Ferner sei der Widerspruch ohnehin nur gegen die Höhe des Gesamt-GdB und/oder die Feststellung von Merkzeichen zulässig. Einzel-GdB-Werte würden nicht für sich allein in Bindung erwachsen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass bei dem Kläger ohnehin bereits der höchstmögliche Gesamt-GdB von 100 festgestellt sei.
Hiergegen hat der Kläger bei dem Sozialgericht Lüneburg am 30. April 2007 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Er trägt im Wesentlichen vor, bei einer weiteren Verfolgung der Ansprüche hinsichtlich des Merkzeichens "aG" sei es wichtig, dass die vom Sachverständigen und vom Sozialgericht festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen erfasst und bei dem Beklagten dokumentiert seien.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
den Ausführungsbescheid des Beklagten vom 23. November 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2007 zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, die im Urteil zum Aktenzeichen S F. und von dem Sachverständigen festgestellten Einzel-GdB zugrunde zu legen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die Klage bereits für unzulässig und verweist auf die Begründung in seinem Widerspruchsbescheid vom 28. März 2007.
Das erkennende Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 04. September 2007 vor seiner Entscheidung durch Gerichtsbescheid ordnungemäß angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zur Entscheidung durch diese Entscheidungsform gegeben.
Zur weiteren Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Prozessakte im hiesigen Verfahren sowie zum Verfahren S F. sowie auf die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten zum Aktenzeichen I. Bezug genommen. Diese Unterlagen lagen vor und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Kammer konnte gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Beteiligten hierzu vorher angehört worden sind, der Sachverhalt geklärt ist und keine schwierigen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen aufwirft.
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist bereits unzulässig.
Für eine Klage, mit der allein die Verurteilung des Versorgungsträgers zur isolierten Feststellung weiterer Behinderungen erstrebt wird, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis.
Das Rechtsschutzbedürfnis ist nämlich zu verneinen, wenn die begehrte gerichtliche Entscheidung die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung des Klägers nicht verbessern würde (BVerwGE 53, 134, 137 [BVerwG 04.03.1976 - I WB 54/74]; 75, 109, 113 [BVerwG 06.11.1986 - 3 C 72/84]; 78, 85, 91 [BVerwG 28.08.1987 - 4 N 3/86]; Bundessozialgericht SozR 3-7815 Art. 1 § 3 Nr. 4 und Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, RdNr. 16a vor § 51).
Die hier streitige Verpflichtung des Beklagten zur isolierten Feststellung einer weiteren Behinderung kann die Position des Klägers nicht verbessern.
Klarzustellen ist zunächst, dass nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX "das Vorliegen einer Behinderung" festzustellen ist und nicht eine Funktionsbeeinträchtigung oder - wie hier - eine vollständige Vielzahl mehrerer zugleich vorliegender Funktionsbeeinträchtigungen. Das Schwerbehindertenrecht kennt nur einen Gesamtzustand der Behinderung. Daran ändert auch die in Praxis und Rechtsprechung eingebürgerte Übung nichts, schlagwortartig von mehreren "Behinderungen" zu sprechen, auch wenn damit nach dem exakten Sprachgebrauch des SGB IX verschiedene Funktionsbeeinträchtigungen oder gar nur verschiedene körperliche, geistige oder seelische Regelwidrigkeiten gemeint sind (vgl. Bundessozialgericht , Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 - MDR 1998, 166). Bereits seit dem "Diagnoseurteil" des Bundessozialgerichts (SozR 3870 § 4 Nr. 3) ist zudem geklärt, dass die nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX festzustellende Behinderung sich nicht durch medizinische Diagnosen - oder durch die Beschreibung daraus folgender Funktionsbeeinträchtigungen - bezeichnen lässt. Festzustellen ist nicht, wie ein Antragsteller behindert ist, welche Auswirkungen also die bei ihm vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen insgesamt haben, festzustellen ist lediglich, dass eine (unbenannte) Behinderung als denknotwendige Voraussetzung für die Feststellung ihres Grades besteht (vgl. zum Ganzen ausführlich: Bundessozialgericht , Urteil vom 24. Juni 1998 - B 9 SB 17/97 R -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 24 = BSGE 82, 176 ff.). Der vollständige und einzig erforderliche Verfügungssatz eines Bescheides nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX hat danach wie in dem Ausführungsbescheid des Beklagten vom 23. November 2006 nur dahin zu lauten, welcher Gesamt-GdB und ggf. welche Merkzeichen ab welchem Zeitpunkt festgestellt werden.
Führt danach die isolierte Feststellung einzelner Gesundheitsstörungen oder Funktionsbeeinträchtigungen - wie ausgeführt - zu keinen wirtschaftlichen oder rechtlichen Vorteilen für den Behinderten, so ist die auf Verurteilung zu einer solchen Feststellung gerichtete Klage unzulässig. Dies muss in jeder Lage des Rechtsstreits von Amts wegen beachtet werden, so dass das Gericht die Klage abweisen muss (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, RdNr. 13 vor § 51; BSGE 2, 225, 226 f; 10, 218, 219). Dies gilt insbesondere dann, wenn bei dem Behinderten - wie hier - bereits der höchstmögliche Gesamt-GdB von 100 festgestellt worden ist.
Nur ergänzend bleibt mit Blick auf die Ausführungen des Klägers im Klageverfahren anzumerken, dass sich sein Rechtsschutzbedürfnis auch nicht daraus ergibt, dass er zukünftig seinen Begehren auf Feststellung der medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" weiterverfolgen möchte, weil die entsprechende Sachverhaltsaufklärungsverpflichtung des Beklagten nach einem entsprechenden Neufeststellungsantrag ohnehin die Berücksichtigung sämtlicher vorhandener Funktionsbeeinträchtigungen erfordert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie entspricht dem Ergebnis der Hauptsache.