Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 30.03.2007, Az.: S 15 SB 54/05
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 30.03.2007
- Aktenzeichen
- S 15 SB 54/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 61649
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2007:0330.S15SB54.05.0A
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 28. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2005 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. zugestellt am: 30.03.2007 G. Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung der Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch \226 Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen \226 (SGB IX).
Der 1958 geborene Kläger beantragte am 29. März 2004 bei dem Versorgungsamt H. die Feststellung eines GdB, insbesondere die Ausstellung eines Ausweises für schwerbehinderte Menschen sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung).
Nach Einholung verschiedener medizinischer Unterlagen und unter Berücksichtigung einer ärztlichen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten \226 des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Malte I. \226 vom 26. Mai 2004 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Juni 2004 einen GdB von 30 ab dem 29. März 2004 sowie die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest. Diese Entscheidung stützte sich auf die Funktionsbeeinträchtigungen Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit und Bypassoperation. Auf den hiergegen am 16. Juni 2004 erhobenen Widerspruch erteilte das Versorgungsamt H. am 22. September 2004 einen Teilabhilfebescheid dahingehend, dass der GdB ab dem 16. Juni 2004 40 betrage.
Am 12. Oktober 2004 hörte das Versorgungsamt H. den Kläger zu der beabsichtigten Erteilung eines Rücknahmebescheides gemäß § 45 SGB X an und nahm dementsprechend die Bescheide vom 10. Juni 2004 und vom 22. September 2004 unter Hinweis auf § 45 SGB X mit Bescheid vom 28. Februar 2005 zurück und begründete dies damit, dass zum Zeitpunkt der beiden Entscheidungen vom 10. Juni 2004 und vom 22. September 2004 keine Aufenthaltserlaubnis vorgelegen habe. Das Asylverfahren sei bereits beendet gewesen, seit dem 6. August 2003 bestehe eine Duldung. Eine Anerkennung sei erst dann möglich, wenn sich die Duldung über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren erstrecke. Da die Duldung erst sei einem Jahr vorliege, seien die erteilten Feststellungen rechtswidrig erlassen worden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2005 wies der Beklagte den Widerspruch vom 16. Juni 2004 gegen den Bescheid des Versorgungsamtes H. vom 10. Juni 2004 und den Teilabhilfebescheid vom 22. September 2004 sowie den Rücknahmebescheid vom 28. Februar 2005, der nach Auffassung des Beklagten gemäß § 86 Abs. 1 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden ist, zurück. Die Grundvoraussetzungen für die Anerkennung als behinderter bzw. als schwerbehinderter Mensch lägen nicht vor. Die nach § 45 Abs. 2 SGB X erforderliche Abwägung des Vertrauens des Begünstigen in den Bestand des Verwaltungsaktes mit dem öffentlichen Interesse an dessen Rücknahme habe ergeben, dass der rechtswidrige Bescheid zurück zu nehmen sei, weil das öffentliche Interesse \226 auch das Interesse der zuständigen Stellen für die Erbringung von Leistungen aufgrund der Anerkennung als schwerbehinderter bzw. als behinderter Mensch \226 an der Herstellung des rechtmäßigen Zustandes höher einzuschätzen sei. Da das Gesetz bei Ausländern einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetze, bestehe im Falle des Klägers keine Veranlassung, von dieser grundlegenden Voraussetzung abzuweichen und auf die Rücknahme des Feststellungsbescheides zu verzichten.
Hiergegen hat der Kläger am 18. April 2005 Klage bei dem Sozialgericht Lüneburg erhoben und trägt zur Begründung seines Begehrens vor, entgegen der Auffassung des Beklagten erfülle der Kläger die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Schwerbehinderter. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts reiche der Aufenthalt des Klägers im Rahmen der ihm gewährten Duldung aus, um die Voraussetzungen eines rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik zu erfüllen. Gemäß § 2 SGB IX komme es lediglich darauf an, dass der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt rechtmäßig im Geltungsbereich des Gesetzes habe. Nach der Rechtsprechung bleibt es dabei, dass "gewöhnlicher Aufenthalt" im Sinne des Abs. 2 auch bei Asylbewerbern und geduldeten Ausländern vorliege.
Der Kläger beantragt,
den Rücknahmebescheid vom 28. Februar 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2005 aufzuheben, so dass es bei den Anerkennungsbescheiden vom 10. Juni 2004 sowie 22. September 2004 bleibt.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen in den angegriffenen Entscheidungen und vertieft sein Vorbringen dahin, dass das SGB IX mit seinen § 2 und 69 SGB IX Teil des gesamten Sozialgesetzbuches sei und daher den grundsätzlichen Regelungen des SGB I und des SGB X unterliege. So sei in den gemeinsamen Vorschriften für alle Sozialleistungsbereiche des gesamten Sozialgesetzbuches in § 30 Abs. 1 SGB I der Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches geregelt. Danach sei die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltes im Geltungsbereich des SGB eine Grundvoraussetzung, um überhaupt Sozialleistungen nach den verschiedenen Gesetzen des SGB geltend machen zu können. Mithin stehe die Feststellung eines gewöhnlichen Aufenthalts vor einer Feststellung aller möglichen GdB nach § 69 Abs. 1 SGB IX. Eine Duldung stelle nach wie vor keinen rechtmäßigen Aufenthalt dar und begründe mithin nicht die Durchführung eines Feststellungsverfahrens nach § 69 SGB IX.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Schwerbehindertenakten des Beklagten mit dem Az. 386006 ergänzend Bezug genommen. Diese lagen vor und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger wird durch die angegriffenen Entscheidungen, nämlich den Rücknahmebescheid vom 28. Februar 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2005, beschwert, weil diese rechtswidrig sind (§ 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Die Kammer konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Tatbestandsvoraussetzungen der einzig in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch \226 Verwaltungsverfahren \226 (SGB X) liegen nicht vor, weil der Feststellungsbescheid vom 10. Juni 2004 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 22. September 2004 nicht rechtswidrig ist. Soweit der Beklagte die Rechtswidrigkeit seiner Feststellungsbescheide darauf stützt, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidungen nicht rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX aufgehalten hat, ist dies unzutreffend. Er übersieht dabei nämlich, dass § 2 SGB IX zwischen der Frage, ob ein Mensch behindert oder schwerbehindert ist, differenziert. Denn das Tatbestandsmerkmal "rechtmäßiger Aufenthalt" findet sich nur in § 2 Abs. 2. Nur in dieser Vorschrift wird für die Definition des schwerbehinderten Menschen ein rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik gefordert. In § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX, der im Umkehrschluss dazu einen GdB von weniger als 50 ausreichen lässt, ist dieses Tatbestandsmerkmal gerade nicht enthalten.
Diese Auffassung wird nach Überzeugung der Kammer auch dadurch gestützt, dass in § 69 Abs. 1 SGB IX auch zwischen der Feststellung einer Behinderung einerseits (§ 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX) und zwischen der Feststellung einer Schwerbehinderung andererseits (§ 69 Abs. 1 S. 2 SGB IX) differenziert wird.
Soweit der Beklagte einwendet, dieser Sichtweise würde § 30 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch \226 Allgemeiner Teil \226 (SGB I) entgegenstehen, kann er damit schon deshalb nicht durchdringen, weil in dieser Vorschrift nur von dem gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches die Rede ist. Ein rechtmäßiger Aufenthalt \226 wie auch immer dieses Tatbestandsmerkmal auszulegen ist \226 ist nicht Tatbestandsvoraussetzung.
Da somit bereits die Tatbestandsvoraussetzung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht erfüllt ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die weiteren Voraussetzungen des § 45 SGB X überhaupt vorliegen und ob der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.
Da der Kläger nur die Aufhebung des Rücknahmebescheides vom 28. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2005 begehrt hat, musste die Kammer nicht darüber entscheiden, ob der Feststellungsbescheid vom 10. Juni 2004 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 22. September 2004 die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers zutreffend bewertet hat.
Durch die Aufhebung des Rücknahmebescheides vom 28. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2005 leben die ursprünglichen Feststellungsbescheide vom 10. Juni 2004 sowie 22. Juni 2004 wieder auf.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 S. 1 SGG, wobei das Gericht das ihm eingeräumte billige Ermessen dahin ausgeübt hat, dem Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers aufzuerlegen, da dieser mit seinem Begehren vollumfänglich durchdringen konnte.