Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 19.02.2007, Az.: S 30 AS 158/07 ER
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs bzw. einer Klage gegen die verfügte Erstattung angeblich überzahlter Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Voraussetzungen des § 39 SGB II
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 19.02.2007
- Aktenzeichen
- S 30 AS 158/07 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 65561
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2007:0219.S30AS158.07ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 39 SGB II
- § 86a Abs. 1 Nr. 4 SGG
- § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Klage vom 15. Februar 2007 gegen die von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 17. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2007 verfügte Erstattung von Leistungen nach dem SGB II aufschiebende Wirkung entfaltet. Soweit bereits vollziehende Maßnahmen durchgeführt wurden, wird die Aufhebung der Vollziehung angeordnet.
Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt F., G., beigeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe
Der zulässige Antrag hat Erfolg. Die Antragsgegnerin hat die Einbehaltung von Leistungen bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu unterlassen und den Antragstellern bereits einbehaltene Beträge zurückzuerstatten.
Verfahrensrechtlich handelt es sich um einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Obwohl in § 86 b SGG nicht ausdrücklich benannt, beinhaltet der einstweilige Rechtsschutz nach dieser Regelung auch die Möglichkeit, die bereits kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage ausdrücklich festzustellen, wenn eine Behörde die aufschiebende Wirkung nicht beachtet (Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, Randnr. 15 zu § 86 b).
So liegt es hier. Die Antragsgegnerin hält ihre Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung vom 17. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Februar 2007 offenbar für sofort vollziehbar und hat daher die Vollstreckung veranlasst. Dies geschah, obgleich die gegen diese Entscheidung von den Antragstellern erhobenen Rechtsbehelfe in Form von Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen die Rückforderung der bereits erbrachten Leistungen richten.
Nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese ist auch nicht entfallen. Insbesondere greift nicht § 86 a Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 39 SGB II. Nach § 39 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der 1. über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet oder 2. den Übergang eines Anspruchs bewirkt, keine aufschiebende Wirkung. Nach der Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschl. v. 23.03.06, Az.: L 9 AS 127/06 ER) entfalten Rechtsbehelfe, soweit sie sich gegen die Rückforderung von bereits erbrachten Leistungen richten, aufschiebende Wirkung. Das Landessozialgericht hat hierzu entschieden:
Tenor:
"Soweit § 39 Nr. 1 SGB II Widersprüche und Klagen gegen solche Verwaltungsakte, mit denen über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entschieden wird, vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung ausnimmt, wird ( ) in der zum SGB II erschienenen Kommentarliteratur überwiegend die Auffassung vertreten, dass dieser Ausschluss die rückwirkende Aufhebung von Bewilligungsbescheiden ebenso wie die Rückforderung von Leistungen für die Vergangenheit erfasse (so trotz sachlicher Bedenken unter Hinweis auf den Wortlaut im Ergebnis Eicher in Eicher / Spellbrink, SGB II, § 38 Rdnr. 12; ebenso Hengelhaupt in Hauck / Noftz, SGB II, § 39 Rdnr. 44, Seegmüller in Estelmann, SGB II, § 39 Rdnr. 6). Indessen wird diese herrschende Literaturmeinung in der Rechtsprechung ebenfalls mit Rücksicht auf den Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II angezweifelt (vgl. LSG Niedersachsen - Bremen, 7. Senat , Beschluss vom 11. November 2005, Az. L 7 AS 292/05 ER; SG Dresden , Beschluss vom 23. Januar 2006, S 6 AS 1393/05 ER unter Hinweis auf weitere Entscheidungen). Auch in der Literatur haben sich Gegenstimmen geäußert (vgl. Conradis in Münder, SGB II, § 39 Rdnr. 7; Pilz in Gagel u.a. Arbeitsförderung, Rn 9 zu § 39 SGB II; Berlit in info also 2005,3,5). Der Senat hält diese zweifelnden Auffassungen in ihrem wesentlichen Ergebnis, nach dem als Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose ausgezahlte Geldbeträge bis zu einer bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht zu erstatten sind, für zutreffend. Er meint allerdings, dass hierbei die Rücknahme oder der Widerruf zugrunde liegender Leistungsbewilligungen auch insoweit nach § 39 Nr. 1 SGB II vom Grundsatz aufschiebender Wirkung ausgenommen sind, als sie vergangene Zeiträume betreffen.
Bereits der Umstand, dass die vorzitierten, divergierenden Auffassungen sich in gleichartiger Weise durch den Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II gerechtfertigt sehen, bildet zur Überzeugung des Senats bei objektiver Betrachtung eher ein Argument für die Annahme, dass der für das Verständnis der Vorschrift entscheidende, zusammengesetzte Rechtsbegriff der "Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende" gerade keine eindeutige Auskunft darüber gibt, ob und in welchem Umfang auch Fälle der Rückabwicklung in der Vergangenheit gewährter Leistungen in den Ausschluss aufschiebender Wirkung einbezogen oder von ihm ausgenommen werden sollen. Es fällt insoweit auf, dass diejenigen Auffassungen, die sich für eine umfassende Anwendung von § 39 Nr. 1 SGB II aussprechen, vor allem auf den Begriffsbestandteil "Entscheidung" abstellen und daran die Annahme knüpfen, dass hiermit in Ermangelung ergänzender Einschränkungen offenbar in einem unfassenden Sinne jede Regelung von Leistungen zur Unterhaltssicherung gemeint sei (so sinngemäß übereinstimmend Eicher, Hengelhaupt und Segmüller, jeweils a.a.O., teilweise sogar unter ausdrücklicher Einbeziehung von Regelungen nach § 50 SGB X). Demgegenüber nimmt die vom Sozialgericht in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis des 7. Senats des erkennenden Gerichts vertretene Gegenmeinung im Anschluss an Conradis (a. a.O.) für sich in Anspruch, dass mit dem weiteren Begriffsbestandteil "Leistungen" eine Anwendung auf alle Rückabwicklungsfälle ("Rückleistungen") insgesamt ausgeschlossen sei. Der Senat hält eine solche, im rein sprachlichen verharrende Betrachtung in ihren beiden Varianten nicht für ausreichend.
Für ihn hat insoweit folgende Überlegung weiterführende Bedeutung: Anders als jede Einstellung bereits zugesprochener, aber nicht (mehr) zustehender Leistungen, zu der es lediglich einer Rücknahme des die Leistung zusprechenden Bescheides für die Zukunft bedarf, vollzieht sich die für vergangene Zeiträume nach Auszahlung rechtswidrig bewilligter Leistungen erforderliche Rückabwicklung in einem zweistufigen Verfahren. Dabei ist in einem sachlogisch ersten Schritt die zusprechende Entscheidung für die Vergangenheit aufzuheben (Widerruf oder Rücknahme nach §§ 45, 48 SGB X). Mit dem Wirksamwerden einer solchen Aufhebung der bewilligenden Entscheidung verlieren sodann die ausgezahlten Geldleistungen ihre rechtliche Zuordnung zu einem bestimmten Rechtsgrund, der den Empfänger bis dahin zum Behalten der Leistung berechtigt hat. Sie werden zu rechtsgrundlosen Bereicherungen, deren Rückzahlung in einem sachlogisch zweiten Schritt vom Empfänger durch weiteren Verwaltungsakt (Rückforderung nach § 50 SGB X) verlangt werden kann.
Mit Rücksicht auf die vorstehend skizzierte Zweistufigkeit der Rückabwicklung zu Unrecht erbrachter Leistungen, wie sie sich auch in dem zur Hauptsache angefochtenen "Rücknahme- und Erstattungsbescheid" der Beschwerdeführerin vom 24. Oktober 2005 widerspiegelt, hält es der Senat für erforderlich, bei der Anwendung von § 39 Nr. 1 SGB II zwischen der Aufhebung von Bewilligungsbescheiden für die Vergangenheit einerseits und der Rückforderung geleisteter Zahlungen andererseits zu unterscheiden (so auch Berlit a.a.O.). Der Ausschluss aufschiebender Wirkung nach § 39 Nr. 1 SGB II erfasst dabei nicht die auf § 50 SGB X gestützte Rückforderung "zu Unrecht erbrachter" Leistungen, weil diese nach wirksamer Aufhebung des zusprechenden Verwaltungsaktes nicht mehr spezifische "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose", sondern rechtsgrundlose Leistungen ohne rechtswirksame Verbindung zu einem bestimmten Leistungsgrund sind, deren Erstattung deshalb auch nur auf der Grundlage einer dem allgemeinen Verfahrensrecht zugehörigen Ermächtigungsgrundlage (§ 50 SGB X) verlangt werden kann. In diesem eingeschränkten Sinne folgt der Senat der auch vom Sozialgericht vertretenen Auffassung, dass Entscheidungen des zuständigen Trägers über die "Rückleistung" ausbezahlten Arbeitslosengeldes II gerade nicht "Leistungen" der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Sinne von § 39 Nr. 1 SGB II betreffen. Anders verhält es sich hingegen bei Rücknahme und Widerruf von Bewilligungsbescheiden für die Vergangenheit. Der Senat sieht insoweit keinen tragfähigen Grund, eine Aufhebung für die Vergangenheit anders zu behandeln als eine Aufhebung für die Zukunft. In beiden Fällen handelt es sich nämlich um eine Umkehr vorausgegangener Bewilligungen (actus contrarius), mit der, nicht anders als mit der Bewilligung selbst, durch Verwaltungsakt über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose entschieden wird.
Die Aufhebung bewilligender Bescheide über Leistungen der Grundsicherung von der Anwendung des § 39 Nr. 1 SGB II auszunehmen, soweit sie die Vergangenheit betrifft, erscheint im übrigen auch nicht zur angemessenen Wahrung des durch Art. 19 Abs. 4 GG grundrechtlich geschützten generellen Aussetzungsinteresses von Leistungsempfängern erforderlich. Soweit diese zugesprochene Leistungen erhalten haben, werden sie allein durch den Eintritt aufschiebender Wirkung von Widerspruch und Klage gegen eine Rückforderung hinreichend davor geschützt, empfangene Geldbeträge grundsätzlich schon vor einer bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache erstatten zu müssen. Vor diesem Hintergrund kommt dem Ausschluss aufschiebender Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die rückwirkende Aufhebung zusprechender Entscheidungen lediglich die Bedeutung zu, dass die Auskehrung bewilligter, aber noch nicht ausbezahlter Leistungen im Falle der Aufhebung der bewilligenden Entscheidung auch nach deren Anfechtung genauso wenig für vergangene Zeiträume wie für zukünftige Zeiträume verlangt werden kann. Auch dies hält jedoch der Senat im Interesse einer vorläufigen Aufrechterhaltung des status quo im Allgemeinen für sachgerecht."
Das Gericht folgt der Rechtsprechung des LSG.
Ausgehend von diesen Überlegungen und von der Tatsache, dass die Antragsgegnerin die per se gegebene aufschiebende Wirkung nicht beachtet, war ohne weitere Sachprüfung festzustellen, dass sowohl der Widerspruch als auch die Klage der Antragsteller gegen die verfügte Erstattung angeblich überzahlter Leistungen aufschiebende Wirkung entfaltet und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen aus der Erstattungsverfügung nicht erfolgen dürfen.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 2 SGG ist die Anordnung der Aufhebung der Vollziehung möglich. Da die Vollstreckung rechtswidrig war, wird die Vollziehung aufgehoben. Etwaige einbehaltene Beträge sind den Antragstellern zurückzuerstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat Erfolg (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.