Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 01.10.2007, Az.: S 2 U 88/04

Ablehnung der Abfindung einer Verletztenrente aufgrund der zukünftigen vagen Möglichkeit einer Absenkung der Minderung der Erwerbsfähigkeit unter 40 Prozent; Grenzen der Ermessensentscheidung eines Unfallversicherungsträgers über die Bewilligung oder Ablehnung einer Abfindung

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
01.10.2007
Aktenzeichen
S 2 U 88/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 52953
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2007:1001.S2U88.04.0A

Tenor:

  1. 1.)

    Die Bescheide der Beklagten vom 18.03.2004 und vom 11.11.2005 sowie die Widerspruchsbescheide vom 27.05.2004 und vom 15.12.2005 werden aufgehoben.

  2. 2.)

    Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.

  3. 3.)

    Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Abfindung von Verletztenrenten.

2

Der im Jahr 1969 geborene Kläger war von 1989 bis 2001 Eishockeyspieler. Seitdem betreibt er eine physiotherapeutische Praxis.

3

Am 10. Oktober 1993 erlitt er einen Unfall mit einer Verletzung des rechten Schultergelenks. Mit Bescheid vom 27. Januar 1998 gewährte die Beklagte hierfür eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (= MdE) i. H. v. 20%. Diese Rente wurde bereits abgefunden. Mit Bescheid vom 16. Dezember 2003 stellte die Beklagte fest, dass die MdE nunmehr 30% betragen würde und gewährte eine Rente nach einer MdE i. H. des Verschlimmerungsanteils von 10%. Den Antrag auf Abfindung dieser Rente lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 18. März 2004 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass mit einer wesentlichen Besserung des Unfallfolgenzustands zu rechnen sei, sofern sich der Kläger einer entsprechenden Operation unterziehen würde. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2004 zurückgewiesen.

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Hiergegen hat der Kläger am 11. Juni 2004 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben (Az. S 2 U 88/04) und erklärt, dass er sich wegen der damit verbundenen Risiken einer Operation unterziehen werde. Im Übrigen sei es völlig offen, ob eine Operation erfolgreich sei. Demgegenüber hat die Beklagte die Auffassung vertreten, dass der Kläger dafür nachweispflichtig sei, dass durch eine Stabilisierungsoperation keine wesentlich niedrigere MdE zu erwarten sei.

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Bereits am 20. Oktober 1996 hatte der Kläger einen weiteren Unfall erlitten, bei dem er sich eine Nasenverletzung zuzog. Mit Bescheid vom 2. August 2005 gewährte die Beklagte hierfür eine Verletztenrente nach einer MdE i. H. v. 20%. Den Antrag auf Abfindung dieser Rente lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 11. November 2005 ab. Zur Begründung wurde ebenfalls ausgeführt, dass nach einer entsprechenden Operation mit einer wesentlichen Besserung des Unfallfolgenzustands zu rechnen sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005 zurückgewiesen.

6

Hiergegen hat der Kläger am 5. Januar 2006 beim SG Lüneburg Klage erhoben (Az. S 2 U 8/06). Die Rechtsstreite wurden mit dem Beschluss vom 13. Januar 2006 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Führend blieb das Aktenzeichen S 2 U 88/04.

7

Mit Bescheid vom 30. März 2007 hat die Beklagte außerdem den Antrag auf eine Rentenvorauszahlung gem. § 96 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VII) abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger nicht in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen leben würde. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit im Jahr 2004 nur 0,00 EUR betragen habe, so dass der Lebensunterhalt ausschließlich aus der Verletztenrente gedeckt werden könne. Bei deren Wegfall würde der Kläger daher voraussichtlich zu Lasten der Allgemeinheit hilfebedürftig werden. Der Bescheid wurde nicht angefochten, jedoch dem Gericht zur Kenntnis gebracht.

8

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger darauf hingewiesen, dass sich seine Gewinnsituation gegenüber 2004 deutlich verbessert habe, weil er seinerzeit durch die hohen Investitionskosten belastet gewesen sei.

9

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

  1. 1.)

    die Bescheide der Beklagten vom 18. März 2004 und vom 11. November 2005 sowie die Widerspruchsbescheide vom 27. Mai 2004 und 15. Dezember 2005 aufzuheben,

  2. 2.)

    die Beklagte zu verurteilen, die wegen der Arbeitsunfälle vom 10. Oktober 1993 und vom 20. Oktober 1996 gezahlten Verletztenrenten abzufinden, hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, den Kläger entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden,

  3. 3.)

    die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

12

Die zulässige Klage ist im Hilfsantrag begründet. Die angefochtenen Bescheide waren aufzuheben, da die Beklagte bei der Prüfung des Abfindungsantrags von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen ist. Da die Entscheidung über die Abfindung jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten steht, konnte sie nur dazu verurteilt werden, den Kläger entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.

13

Gem. § 78 Abs. 1 S. 1 SGB VII können Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer MdE von 40% oder mehr haben, auf ihren Antrag durch einen Geldbetrag abgefunden werden. Das gleiche gilt auch für Versicherte, die Anspruch auf mehrere Renten haben, deren MdE zusammen 40% erreicht oder übersteigt. Da die MdE aufgrund des Unfalls vom 10. Oktober 1993 30% beträgt und dem Kläger im Laufe aufgrund des Unfalls vom 20. Oktober 1996 eine weitere Verletztenrente nach einer MdE i. H. v. 20% gewährt wurde, ist die zuletzt genannte Voraussetzung erfüllt. Die Entscheidung über die Abfindung ist daher nach § 78 SGB VII zu beurteilen.

14

Gem. § 78 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII darf die Abfindung allerdings nur dann bewilligt werden, wenn nicht zu erwarten ist, dass die MdE wesentlich sinkt. Diese - negative - Tatbestandsvoraussetzung ist im vorliegenden Fall allerdings nicht erfüllt. Das Argument der Beklagten, dass die MdE nach der Durchführung von entsprechenden Operationen noch sinken könne, stützt die Ablehnung der Abfindung nicht. Solche Eingriffe sind nämlich stets auch mit erheblichen Risiken verbunden, so dass ein Erfolg völlig offen wäre. Sie sind auch nicht duldungspflichtig. Es handelt sich daher nach Auffassung der Kammer allenfalls um eine spekulative und vage Möglichkeit einer Änderung, die nicht an die im Rahmen des § 78 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII geforderte ernsthafte und konkret begründete Besserungsmöglichkeit heranreicht (vgl. zu der insoweit inhaltgleichen Vorschrift des § 76 Abs. 2 SGB VI: BereiterHahn/Mehr-tens, Kommentar, § 76 SGB VII, Rz. 5; Sacher in Lauterbach; Unfallversicherung, § 76 SGB VII, Rz. 18). Bereits aus diesem Grund waren daher die angefochtenen Bescheide aufzuheben.

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Für die weitere, von der Beklagten vorzunehmende Prüfung ist noch auf folgende Umstände hinzuweisen: Aus dem in § 76 Abs. 1 S. 1 SGB VII enthaltenen Wort "können" geht hervor, dass der Unfallversicherungsträger über Anträge auf Bewilligung einer Abfindung nach Ermessen zu entscheiden hat. Dies bedeutet, dass die Beklagte ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat (§ 39 Abs. 1 S. 1 SGB I). Umgekehrt hat der Kläger nur einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens, nicht aber einen Rechtsanspruch auf Gewährung der Abfindung, sofern nicht eine "Ermessensreduzierung auf Null" hinsichtlich der Bewilligung der begehrten Leistung eingetreten ist (vgl. BSG, Urt. v. 18. April 2000 - B 2 U 19/99 R). Da dem Unfallversicherungsträger ein Ermessen eingeräumt ist, hat dies auch Auswirkung auf die Überprüfungsmöglichkeiten des Gerichts. Gem. § 54 Abs. 2 SGG sind Verwaltungsentscheidungen, die auf Ermessensnormen beruhen, nur eingeschränkt überprüfbar. Eine Beschwer liegt nur dann vor, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.

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Bei ihrer Entscheidung hat die Beklagte bei Beachtung der Zweckbestimmung der Abfindung nach sachlichen Gesichtspunkten das eigene Verwaltungsinteresse und das Interesse der Versicherten gegeneinander abzuwägen (Wiesner, Die BG 1985, 327; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 21. Dezember 1994 L 3 U 173/94 = Breithaupt 1995, 613, 614), wobei eine rein formelhafte Ermessensausübung unzulässig ist (vgl. BSG, Urt. v. 18. April 2000 - B 2 U 19/99 R). Nach der gesetzlichen Zielsetzung soll mit § 76 SGB VII u.a. Versicherten, die neben der Verletztenrente Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen beziehen, die Möglichkeit gegeben werden, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern (BT Drucks. 13/2204, S. 94). Schutzwürdige, vom Unfallversicherungsträger zu wahrende Interessen der Allgemeinheit werden demgegenüber verletzt, wenn der Antragsteller ohne seine Dauerrente sofort oder wahrscheinlich in absehbarer Zeit hilfebedürftig nach dem SGB II oder SGB XII oder in höherem Maß als zuvor hilfebedürftig würde (vgl. Bereiter-Hahn/Mertens, a.a.O., § 76 SGB VII, Rz 3. 2., m.w.N.). Diese Situation lag beim Kläger möglicherweise im Jahr 2004 vor. Da der Kläger aber eine verbesserte Gewinnsituation schlüssig vorgetragen hat, muss eine aktuelle Einkommensprüfung zeigen, ob beim Wegfall der Verletztenrente auch jetzt noch Hilfebedürftigkeit droht. Schließlich wäre auch die Lebenserwartung des Klägers durch eine entsprechende Untersuchung zu prüfen. Ein Interesse des Unfallversicherungsträgers, die Abfindung aufgrund einer herabgesetzten Lebenserwartung zu verweigern, kann sich ergeben, wenn

  • die Lebenserwartung erheblich geringer ist, als diejenige des Durchschnitts der gleichaltrigen Personen und
  • die Lebenserwartung diejenige Zeit unterschreitet, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert entspricht.

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Auf die überzeugenden Ausführungen im o. g. Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 21. Dezember 1994 wird hingewiesen

18

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.