Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 20.08.2009, Az.: S 69 AS 1157/09 ER

1 Jahr; Anhaltspunkt; Arbeitsuchender; Bedarfsgemeinschaft; Beweis; Beweislast; Beweislastumkehr; Dauer; Ehe; eheähnliche Gemeinschaft; Einstehensgemeinschaft; einstweilige Anordnung; Einstweiliger Rechtsschutz; gesetzliche Vermutung; Glaubhaftmachung; Grundsicherung; Grundsicherungsträger; Haushaltsgemeinschaft; Indiz; Lebensunterhalt; Menschenwürde; Nachweis; nichteheliche Lebensgemeinschaft; objektive Beweislast; qualifiziertes Zusammenleben; Rechtschutzgarantie; Rechtsweggarantie; Regelungsanordnung; Schutz; Sicherung; sozialgerichtliches Verfahren; soziokulturelles Existenzminimum; Verantwortungsgemeinschaft; Verantwortungstragung; Verfassungsmäßigkeit; Verfassungswidrigkeit; Vermutungsregelung; Vermutungstatbestand; vorläufiger Rechtschutz; wechselseitiger Wille; Widerlegung; Wohngemeinschaft; Zusammenleben; Zusammenwohnen

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
20.08.2009
Aktenzeichen
S 69 AS 1157/09 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 50494
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Vorläufiger Rechtsschutz zur Sicherung menschenwürdiger Existenz (Art. 1 Abs. 1 GG) bei fehlendem Nachweis eines qualifizierten Zusammenlebens iSv § 7 Abs. 3 Nr. 3 c und Abs. 3a Nr. 1 SGB II. Das bloße Zusammenwohnen ist nicht schon dem "Zusammenleben" iSe eheähnlichen Gemeinschaft gleichzusetzen.

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit von August 2009 bis Januar 2010 unterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung anrechenbaren Einkommens oder Vermögens der Frau X zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu zahlen.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Schlobohm, Scheeßel, bewilligt.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten darum, ob zwischen dem Antragsteller und Frau Edith X eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft eheähnlicher Art besteht.

2

Der 1960 geborene, seit Juli 2005 rechtskräftig geschiedene und seit April 2009 in Y, Z 61, gemeinsam mit Frau X eine 2 1/2-Zimmer-Wohnung (lt. Mietvertrag vom 30. Januar 2009: 72 qm / 435,- € Miete, 60,- € Betriebskosten) bewohnende Antragsteller arbeitete bis zum 31. März 2009 bei der Fa. V Transport GmbH als Lagerarbeiter und wurde dort mit 1.240,45 € netto entlohnt.

3

Am 14. April 2009 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Bewilligung von SGB II-Leistungen, in dem er angab, bis zum 16. Juni 2008 Arbeitslosengeld bezogen und vom 15. September 2008 an bis Ende März 2009 als Lagerarbeiter gearbeitet zu haben. Seinem Antrag war eine Arbeitsbescheinigung beigefügt.

4

Mit Schreiben vom 4. und 29. Juni 2009 wurde seine Mitbewohnerin, Frau X, unter Androhung der Einleitung eines Bußgeldverfahrens aufgefordert, Einkommensbescheinigungen und die ausgefüllten Formblätter EK sowie VM einzureichen, da andernfalls die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den Antragsteller abgelehnt werden müsse. Mit Schreiben vom 22. Juni 2009 widersprach Frau X der Behauptung, sie lebe mit dem Antragsteller in einer "Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft". Bei Einstellung der Zahlungen werde sie den Antragsteller aus dem Mietvertrag herausnehmen lassen und seinen Auszug erwirken. Durch Schreiben vom 6. Juli 2009 legte Frau X formell Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2009 - unter Anordnung der sofortigen Vollziehung - als unbegründet zurückgewiesen wurde. Im Bescheid vom 15. Juli 2009 wurde unter Hinweis auf die Mitwirkungspflicht ein Zwangsgeld von 250,- € für den Fall angekündigt, dass die angeforderten Unterlagen nicht bis zum 30. Juli 2009 vorlägen. Hierauf legte Frau X die angeforderten Unterlagen (Beschluss des Amtsgerichts W vom 22.11.2007 zur Verbraucherinsolvenz, Urteil des Amtsgerichts O vom 25.3.2003 zum Kindesunterhalt, Beschluss des Amtsgerichts W vom 29.4.2009 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie Gehaltsbescheinigungen nebst Formularerklärungen) unter ausdrücklicher Betonung, dass sie das unter Zwang tue, mit ihrem Schreiben vom 29. Juli 2009 vor.

5

Durch Bescheid vom 3. August 2009 wurden dem Antragsteller und den mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen für die Zeit vom 1. Juni 2009 bis 30. Juni 2009 SGB II-Leistungen in Höhe von 54,52 € mtl. und solche in Höhe von 68,52 € für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Oktober 2009 bewilligt, wobei jeweils ein Netto-Erwerbseinkommen der Frau X in Höhe von 1.427,48 € einbezogen wurde.

6

Zur Begründung seines am 3. August 2009 gestellten Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes betont der Antragsteller, er lebe nicht - wie die Antragsgegnerin annehme - in einer Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft mit seiner Mitbewohnerin, der Frau X. Er habe in der Wohnung ein eigenes, abgetrenntes Zimmer, das nur ihm zur Verfügung stehe, und nutze die anderen Räume nur zu einem Teil mit, ohne dass ein gemeinschaftliches Wirtschaften iSe Einstandsgemeinschaft vorliege. Er sei in die Wohnung eingezogen, weil anderweitiger Wohnraum zu entsprd. finanziellen Bedingungen ihm nicht zur Verfügung gestanden habe. Frau X habe die behauptete Gemeinschaft sehr eindeutig bestritten. Seine Existenz habe er bislang nur durch Darlehen seiner Mutter sichern können, was jedoch kein Dauerzustand sein könne. Er beantragt,

7

die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller Arbeitslosengeld II in ungekürzter Höhe ab dem 1.04.2009 zu bewilligen.

8

Die Antragsgegnerin beantragt,

9

den Antrag abzulehnen.

10

Sie verweist darauf, dass der Antragsteller gemäß der gesetzlichen Vermutung des § 7 Abs. 3 a SGB II mit Frau X in einer Einstandsgemeinschaft lebe, u.zw. schon länger als ein Jahr. Eine Gesamtwürdigung sämtlicher Indizien habe hier ergeben, dass eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft vorliege.

11

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

12

Der zulässige Antrag hat Erfolg.

13

Die Verpflichtung der Antragsgegnerin zu Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des Einkommens von Frau X ergibt sich aus § 86 b Abs. 2 SGG, da hier eine solche Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile der Antragsteller "nötig" erscheint (Art. 19 Abs. 4 GG).

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1. Angesichts der aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG iVm Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG abzuleitenden Verantwortung und Pflicht des Staates als einer Solidargemeinschaft, die materiellen Bedingungen einer (tatsächlich) menschenwürdigen Existenz zu sichern (Bachof, VVDStRL 12, 37/42; Dürig, AöR 81, 117/131 ff., Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, S. 17 ff.; Neumann, NVwZ 1995, 426. ff.; vgl. Sächs. LSG, Beschluss v. 22.4.2008 - L 2 B 111/08 AS-ER -, NZS 2009, S. 458/459 zu 1 b), ist es im grundrechtlichen Spannungsfeld nicht hinnehmbar, wenn einem Hilfsbedürftigen das soziokulturelle Minimum vorenthalten wird. Den insoweit angemeldeten Bedenken gegen das SGB II (vgl. Däubler, NZS 2005, 225; Bieback, NZS 2005, 337; Rothkegel, ZFSH/SGB 2005, 391; Brünner in LPK-SGB II, § 20 Rdn. 19 ff.) muss hier nicht nachgegangen werden, da es auf der Hand liegt, dass der Antragsteller nicht von einem Betrag in Höhe von mtl. 54,52 € bzw. 68, 52 € (Bescheid vom 3. August 2009) in menschlicher Würde so existieren kann, wie der Gesetzgeber sich das vorstellt (Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie, Bedarfe des täglichen Lebens, Beziehungen zur Umwelt, Teilnahme am kulturellen Leben, vgl. dazu § 20 Abs. 1 SGB II).

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Das kann der Antragsteller nur dann, wenn das Erwerbseinkommen von Frau X einbezogen wird. Ob das hier allerdings möglich und zulässig ist, bedarf angesichts des grundrechtlichen Bezuges (s.o.) an sich eingehender gerichtlicher Prüfung, die in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aus Zeitgründen jedoch kaum möglich ist, so dass vielfach auf eine Folgenabwägung zurückgegriffen werden kann und muss (vgl. Wündrich, Vorläufiger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren im Bereich des SGB II, Teil II, SGb 5/09, S. 268/269). Vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 - :

16

"Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88] <74>; 94, 166 <216>). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 <242 f.>)."

17

Ein solcher Rückgriff ist hier jedoch entbehrlich, da der Antragsgegnerin bereits die ihr obliegende Glaubhaftmachung eines Zusammenlebens (§ 7 Abs. 3 a Nr. 1 SGB II) nicht gelungen ist.

18

2. Der erforderliche Anordnungsgrund liegt hier vor, da der Antragsteller auf Hilfeleistungen der Antragsgegnerin angewiesen ist. Dem Antragsteller ist es unter Berücksichtigung von Art. 1 GG (Menschenwürde) nicht zuzumuten, bis zur Entscheidung in der Hauptsache auf ein soziokulturelles Existenzminimum (vgl. Brünner in LPK-SGB II, § 20 Rdn. 7 m.w.N.) zu verzichten und auf diese Weise wesentliche Nachteile in seinem täglichen Leben hinzunehmen. Vgl. dazu LSB Nds-Bremen, Beschl. v. 23.06.2009 - L 7 AS 456/09 B ER - :

19

"Vielmehr ist beim Streit um Arbeitslosengeld II in aller Regel ohne Weiteres ein Anordnungsgrund zu bejahen, weil gerade diese Leistung dazu bestimmt ist, den Lebensunterhalt und ein menschenwürdiges Wohnen zu gewährleisten (ständige Rechtsprechung des Senates). "

20

3. Auch ein Anordnungsanspruch ist hier gegeben. Denn die von der Antragsgegnerin glaubhaft zu machende Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft iSe eheähnlichen Zusammenlebens zwischen dem Antragsteller und Frau X besteht nach den derzeitigen Erkenntnissen nicht.

21

In § 7 Abs. 3 a SGB II werden die Kriterien - rechtlich verbindlich - aufgezählt, die allein vermuten lassen, dass eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft vorliegt. Mit dieser Aufzählung hat der Gesetzgeber die Gesamtheit der Hinweistatsachen in verbindlicher Weise reduziert und verengt (vgl. Tegethoff ZFSH/SGB 2001, 643), was von der Antragsgegnerin rechtsstaatlich zu beachten ist. Über diese Kriterien hinausgehende Verdachtsmomente haben außer Betracht zu bleiben.

22

Nach § 7 Abs. 3a SGB II wird nach der ab 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, nur und erst dann vermutet, wenn die Partner länger als ein Jahr zusammenleben (Nr. 1), mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben (Nr. 2 ), Kinder im Haushalt versorgen (Nr. 3) oder befugt sind, über Einkommen und Vermögen des anderen zu verfügen (Nr. 4). Bei Vorliegen einer der in § 7 Abs. 3a SGB II genannten Tatbestände greift eine gesetzliche Vermutung ein, dass die Partner den „wechselseitigen Willen haben, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen“. Der Gesetzgeber hat dabei auf die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien zurückgegriffen, lässt aber (anders als dieses, das eine Gesamtschau der Umstände fordert und die genannten Kriterien lediglich als Indizien heranzieht) bereits das Vorliegen eines Kriteriums ausreichen. Ob das verfassungsrechtlich zulässig ist, kann hier dahinstehen.

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Es bestehen nach derzeitiger Sachlage zwar Hinweistatsachen für eine Bedarfsgemeinschaft des Antragstellers mit Frau X nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II. Sie sind jedoch aktuell nicht geeignet, um sich mit der nötigen Wahrscheinlichkeit von den anspruchsvernichtenden Indizien und Tatsachen für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft überzeugen zu können. Daher wirken sich die verbleibenden Zweifel zu Lasten der Antragsgegnerin aus: Diese rühren hier zunächst daher, dass ein Hausbesuch in der neuen Wohnung des Antragstellers unstreitig nicht durchgeführt worden ist, die Antragsgegnerin es vielmehr auf dem Hintergrund eines lange zurückliegenden Besuchs in der alten Wohnung des Antragstellers (v. 18.9.2006) bei einem bloßen Vermerk vom 1. Juni 2009 (Bl. 423 VerwV.) mit Vermutungscharakter belassen hat. Dieser Vermerk stellt lediglich auf Buchungsvorgänge ab (Gas/Strom, Telekom/Alice/AOL, Allianz, Kfz-Steuern), die auch bei Wohngemeinschaften in Betracht kommen können. Damit ist eine Beistandsgemeinschaft nicht bewiesen. Gegen eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft spricht hier weiterhin der Umstand, dass - wie auch im Vermerk vom 16. April 2009 (Bl. 362 VerwV.) eingeräumt - bereits im September 2006 eine Einstandsgemeinschaft gerade nicht angenommen und "nachgewiesen" werden konnte, sondern lediglich ein "Eindruck von dem Verhältnis der beiden" gewonnen wurde - mehr nicht. Aufgrund dessen, dass der Antragsteller und seine Mitbewohnerin erst - gemäß Mietvertrag vom 30. Januar 2009 - zum 1. April 2009 in die gemeinsame Wohnung in Y eingezogen sind, ist hier somit noch nicht die Vermutung belegt, dass beide länger als ein Jahr nicht nur zusammen wohnen , sondern vor allem auch qualifiziert zusammen leben . Zudem ist - unter Einbeziehung des Schreibens der Frau X vom 22. Juni 2009 (Bl. 429 VerwV.) - davon auszugehen, dass sich Frau X in gar keiner Weise verpflichtet fühlt, für den Lebensunterhalt des Antragstellers aufzukommen und für diesen ihr Einkommen "zu opfern". Auch eine Unterhaltsverpflichtung ihm gegenüber lehnt sie ab. Damit ist zweifelhaft, ob hier eine Einstandsgemeinschaft im Sinne einer engen (eheähnlichen) Bindung vorliegt. Wollte man anhand der Indizien, die der Antragsgegner anführt, bereits eine Einstandsgemeinschaft annehmen, so würde man die Ehe - Schutzgut des Art. 6 Abs. 1 GG - ihres Kerngehaltes berauben. Vgl. dazu Bundesverfassungsgericht, Urt. v. 17.11.1992 - 1 BvL 8/87 - :

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"Verfuhr der Gesetzgeber jedoch in dieser Weise, durfte er nur solche Gemeinschaften erfassen, in denen die Bindungen der Partner so eng sind, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist ihre Lage mit derjenigen nicht dauernd getrennt lebender Ehegatten im Hinblick auf die verschärfte Bedürftigkeitsprüfung vergleichbar."

25

Soweit vom Antragsgegner unterstrichen worden ist, dass der Antragsteller und Frau X bereits länger als ein Jahr zusammen wohnen, hiermit zugleich in qualifizierter Weise ein Zusammenleben belegt sein soll (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II), ist es so, dass die Dauer des Zusammenlebens und -wohnens zwar ein Indiz für eine Einstandsgemeinschaft sein kann, aber nicht etwa davon ausgegangen werden kann, dass die gesetzlichen Voraussetzungen allein durch diese Dauer schon sozusagen "automatisch" belegt sind (BSG v. 17.10.2002 - B 7 AL 96/00 SozR 3-4100 § 119 Nr. 28). Denn eine Einstandsgemeinschaft im Sinne einer eheähnlichen Gemeinschaft geht über eine Wohngemeinschaft erheblich hinaus. Schon ein „gemeinsamer Haushalt“ im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II setzt nämlich voraus, dass die entsprechenden Personen nicht nur eine gemeinsame Wohnung bewohnen, sondern auch „aus einem Topf wirtschaften" (Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7, Rdnr. 46, § 9, Rdnr. 52). Darüber hinaus müssen sie zudem "so zusammenleben", dass "nach verständiger Würdigung" der "wechselseitige Wille" für eine echte (eheähnliche) Einstandsgemeinschaft angenommen werden kann. Die Anforderungen an das gemeinsame, miteinander verbundene Wirtschaften iSe gegenseitigen Einstehens gehen somit über die nur gemeinsame Nutzung von Bad, Küche und ggf. Gemeinschaftsräumen noch qualitativ erheblich hinaus (Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008,, § 9, Rdnr. 52). Hieraus folgt, dass für das Bestehen einer Einstandsgemeinschaft die gemeinsame Nutzung von Bad, Küche etc. zunächst einmal nur eine Grundvoraussetzung ist, die für sich genommen noch nicht sehr aussagekräftig ist. Nur freundschaftlich miteinander verbundene Personen, die zusammen wohnen, stellen noch keine partnerschaftsähnliche (enge) Gemeinschaft dar. Vgl. insoweit Sächs. LSG, Beschl. v. 18.12.2008 - L 7 B 737/08 AS-ER - :

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"Das Tatbestandsmerkmal des qualifizierten „Zusammenlebens“ im Sinne von § 7 Abs.3 a Nr.1 SGB II muss dahin verstanden werden, dass das „Zusammenleben“ geeignet sein muss, den Schluss auf das Bestehen einer Einstandsgemeinschaft zu begründen, was wenigstens das Vorliegen einer Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft voraussetzt. Sonst würde bei jeder Wohngemeinschaft ohne weiteres die Vermutungsregelung greifen und den Bewohnern der Wohngemeinschaft die Pflicht auferlegt, die Nichtexistenz einer Einstandsgemeinschaft nachzuweisen. Dies dürfte schwerer sein, als die positive Feststellung des Bestehens einer Haushaltsgemein-schaft und die Rechte des Antragstellers über Gebühr beschneiden"

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 Vgl. insoweit auch Hess. LSG, Beschl. v. 16.3.2006 - L 7 AS 23/06 ER - :

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"Desgleichen geht der Senat davon aus, dass auch die fehlende Unterteilung des Kühlschranks keineswegs eine eheähnliche Gemeinschaft zu begründen vermag, sondern sich ebenfalls im Rahmen dessen bewegt, was in einer auf Freundschaftsbasis bestehenden Wohngemeinschaft üblich ist; dasselbe gilt für die vom Antragsgegner monierte fehlende getrennte Aufbewahrung der Badutensilien. Dass das Wasserbett im Schlafzimmer der Frau P. beim Besuch des Außendienstmitarbeiters am 5. Januar 2006 „wie ein Ehebett" bezogen gewesen ist, soll wohl die Annahme des Antragsgegners unterstreichen, dass zwischen dem Antragsteller und Frau P. geschlechtliche Beziehungen bestehen, welche nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17. Oktober 2002 - B 7 AL 96/00 R) und der vom SG mehrfach zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats jedoch nicht die Feststellung einer Verantwortungsgemeinschaft ersetzen kann….

29

Dass gemeinsam gekocht, geputzt und eingekauft wird, hält der Senat bei freundschaftlichen Beziehungen ebenso für üblich, wie die ermittelte Tatsache, dass offenbar auch Wäsche von beiden in gemeinsamen Waschgängen gereinigt wird."

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Daher kann nicht ein aus bloßen Eindrücken, Vermutungen und sonstigen Gründen hergeleiteter (bloßer) Verdacht auf eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ohne Berücksichtigung der im Gesetz und in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung genannten Kriterien Bestand haben.

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Ein Zusammenleben des Antragstellers mit Frau X ist hier - trotz einiger Indizien - mithin keineswegs gerichtsfest nachgewiesen. Vielmehr müssen aktuell - über das Geschehen in vergangenen Jahren hinausgehende - beweiskräftige Gesichtspunkte vorliegen, die eine bloße Wohngemeinschaft ausschließen und eine Einstandsgemeinschaft nachhaltig belegen. Denn heute umfasst eine Wohngemeinschaft vielfältige Formen des Zusammenwohnens. Vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 15.12.2006 - L 10 AS 1404/05 - :

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"So sind weder die gemeinsame oder abwechselnde Zubereitung von Mahlzeiten und deren gemeinschaftliche Einnahme, die Führung einer gemeinsamen Haushaltskasse, die Verantwortlichkeit für die Reinigung der gemeinsam benutzten Räumlichkeiten, das (Mit-) Waschen der Kleidung des/der Mitbewohner/in oder gemeinsame Freizeitaktivitäten unübliche Erscheinungen für eine Wohngemeinschaft. Insbesondere sind Wohngemeinschaften zwischen befreundeten oder verwandten Personen oft von längerer Dauer (vgl. Winkler aaO) und ihnen sind auch gemeinsame Umzüge in vorteilhaftere Wohnungen/Häuser nicht fremd. Die Arten der Haushaltsführung reichen von der gemeinsamen Haushaltskasse, in die monatliche Fixbeträge einzuzahlen sind, der Führung eines Haushaltsbuches mit genauer Abrechnung der Einkäufe/Ausgaben bis zur Beteiligung nach (Selbst-) Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Ebenso vielfältig sind die mietrechtlichen Gestaltungen einer Wohngemeinschaft, die von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der beteiligten Personen, der von ihnen favorisierten Intensität und den Vorstellungen des Vermieters der Wohnung/des Hauses abhängen, so dass neben einem Hauptmieter/Untermieter-Verhältnis oder dem gemeinsamen Hauptmietvertrag auch Einzel-Mietverträge mit jedem Mitglied der Wohngemeinschaft anzutreffen sind."

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Unter diesen Umständen wäre es Aufgabe des Antragsgegners gewesen, im vorliegenden Verfahren zunächst einmal das Vorliegen einer Vermutungstatsache iSv § 7 Abs. 3 a SGB II - dort etwa Nr. 1 - glaubhaft zu machen, was jedoch nicht gelungen ist. Vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 3.8.2006 - L 9 AS 349/06 ER - :

34

"Dieses Tatbestandsmerkmal muss unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen dahin verstanden werden, dass das „Zusammenleben“ geeignet sein muss, den Schluss auf das Bestehen einer Einstandsgemeinschaft zu begründen, was wenigstens das Vorliegen einer Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft voraussetzt (vgl. erneut die Begründung des Gesetzentwurfs a.a.O. S.19; Wenner a.a.O. S.148). Sonst würde bei jeder Wohngemeinschaft ohne weiteres die Vermutungsregelung greifen und den Bewohnern der Wohngemeinschaft die Pflicht auferlegt, die Nichtexistenz einer Einstandsgemeinschaft nachzuweisen. Dies wird auch schon aus der Wortwahl des Gesetzgebers deutlich. Dieser hat ausdrücklich vom „Zusammenleben“ und nicht vom „Zusammenwohnen“ gesprochen. Damit hat er deutlich gemacht, dass zum schlichten gemeinsamen Wohnen in einer Wohnung weitere Gesichtspunkte hinzu treten müssen, um die Tatbestandsmerkmale der Vermutungsregelung auszulösen. Für die Glaubhaftmachung dieser Umstände ist ebenfalls der Leistungsträger pflichtig."

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Ist dem Antragsgegner, der lediglich das bloße Zusammenwohnen des Antragstellers mit Frau X belegt hat, diese Glaubhaftmachung als Ausgangspunkt der nur behaupteten (engen) Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft im Sinne des "gegenseitigen Einstehens in den Not- und Wechselfällen des Lebens" (BVerfG, a.a.O.) nicht gelungen, so ist er insoweit beweisfällig geblieben. Vgl. LSG Nds.-Bremen, Beschl. v. 4.12.2008 - L 9 AS 467/08 ER - :

36

"Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der jeweilige Leistungsträger nach dem bis 31. Juli 2006 geltenden Recht die materielle Beweislast für das Vorliegen einer „eheähnlichen Gemeinschaft“ getragen hat und seit der zum 1. August 2006 in Kraft getretenen Änderungen durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende (BGBl. I S. 1706) nunmehr die materielle Beweislast für das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft gem. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c) SGB II - bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen einer der neu eingeführten Vermutungsregeln nach § 7 Abs. 3 a SGB II - trägt und deshalb im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit auch grundsätzlich darlegungs- und glaubhaftmachungspflichtig ist (so auch Spellbrink, aaO, § 7 Rdnr. 50 u.H.a. LSG Baden-Württemberg; vgl. im Übrigen die amtliche Begründung zu dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende, BT-Drucks. 16/1410, S. 19, zu Nr. 7, Buchst. b), worin die neu eingeführten Vermutungsregeln des § 7 Abs. 3 a SGB II ausdrücklich im Sinne einer Umkehr der Beweislast verstanden werden).

37

Der Senat hat sich insoweit unter Berücksichtigung der Ergebnisse der vom Beschwerdegegner durchgeführten Ermittlungen, des Vortrags der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren beider Instanzen sowie des Ergebnisses des vom Berichterstatter durchgeführten Termins zur Erörterung und Beweisaufnahme am 12. November 2008 nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Beschwerdegegnerin das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft des Beschwerdeführers zu 1) mit Frau E. im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II mit hinreichenden Gründen annimmt und insoweit der ihm zufallenden Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast nachgekommen ist."

38

Unter diesen Umständen bedarf es keiner ausführlichen Darlegungen mehr dazu, dass der Antragsteller den entsprechenden Gegenbeweis hier geführt haben dürfte, an den im Übrigen keine hohen Anforderungen zu stellen sind - zumal es hier um eine sog. "negative Tatsache" geht (Beweis dessen, dass eine Verantwortungs- und Beistandsgemeinschaft gerade nicht vorliegt), deren Nachweis - wie auch sonst im SGB II (Fehlen von Vermögen oder Einkommen) - von der Antragstellerseite stets nur mit Mühe erbracht werden kann (vgl. dazu Wündrich, a.a.O., S. 272: keine Überspannung der Anforderungen "insbesondere im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes").

39

Vielmehr ist bei verfassungskonformer Anwendung (Art. 1, 2 Art. 6 Abs. 1 GG) schon bei einer nur schlüssigen Darlegung davon auszugehen, dass nach "verständiger Würdigung" (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II) des wechselseitigen Gestaltungswillens der Partner, der als solcher von Gesetzes wegen und mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG zu akzeptieren ist, sie gerade keine Verantwortung (etwa iSv § 7 Abs. 3 a Nr. 4 SGB II) füreinander tragen wollen. Damit liegt hier keine Bedarfsgemeinschaft vor. Es ist nämlich auch die negative Eheschließungsfreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG, eine eheähnliche Beziehung gerade nicht eingehen zu wollen, von der Antragsgegnerin verfassungsrechtlich zu beachten. Sowohl der Antragsteller als aber auch Frau X bestreiten jedoch, ihre Wohnbeziehung so ausgestaltet zu haben oder ausgestalten zu wollen, dass sie miteinander in einer engen - eheähnlichen - Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft leben. Hiervon ist somit mangels gegenteiliger Anhaltspunkte derzeit auszugehen.

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4. Soweit die Antragsgegnerin Frau X aufgefordert hat, Unterlagen einzureichen, diese das dann - nach dem Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2009 - auch getan hat, ist darauf hinzuweisen, dass diese keinen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung gestellt hat, so dass sämtliche Angaben, die lediglich im Zusammenhang mit einer Antragstellung auf Leistungen der Grundsicherung regelmäßig abgefragt werden, gerade von ihr z.Z. nicht gefordert werden konnten und können. Erst dann, wenn die Partnerschaft eindeutig feststeht, was hier nicht der Fall ist, ergibt sich eine Auskunftspflicht (Schoch in LPK-SGB II, § 60 Rn 30) - vorher gerade nicht. Die Auskunftsverpflichtung speziell von Frau X muss sich also derzeit an ihrem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 GG) messen lassen. Insoweit steht ihr Widerspruch (Schr. v. 6.7.2009, Bl. 435 VerwV.) mit dem gen. Grundrecht und mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen (Art. 6 Abs. 1 GG) offenkundig in Einklang.

41

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Verfahrens unter Beiordnung von Rechtsanwalt E. Sch., Sch., zu bewilligen, weil das Verfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 73a SGG in Verbindung mit §§ 114ff. ZPO).