Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 16.09.2009, Az.: S 86 AS 1289/09 ER

Auslegung eines Rechtsschutzantrags als Widerspruch; Ermessensausfall bei einer Aufrechnung bzw. bei der Einbehaltung von Leistungen

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
16.09.2009
Aktenzeichen
S 86 AS 1289/09 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 31101
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2009:0916.S86AS1289.09ER.0A

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 25. August 2009 gegen die Bescheide vom 6. August und 7. August 2009 wird angeordnet. Außergerichtliche Kosten der Antragsteller hat die Antragsgegnerin zu tragen. Den Antragstellerin wird ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. bewilligt.

Gründe

1

Die alleinerziehende Antragstellerin zu 1. wendet sich mit ihren beiden minderjährigen Kindern, den Antragstellern zu 2. und 3., im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die - nach dem zusprechenden Beschluss der Kammer vom 29. Juli 2009 (S 86 AS 1009/09 ER) - durch Bescheide vom 6. und 7. August 2009 in Ausführung und Umsetzung des gen. Beschlusses der Kammer verfügte Aufrechung in mtl. Raten von 75,- EUR gegen das gewährte Darlehen von 2.611,- EUR sowie die Einbehaltung von 75,- EUR mtl. zwecks Tilgung der Mietschulden.

2

Die nach dem gen. Kammerbeschluss verfügte Aufrechnung sowie Einbehaltung durch die Bescheide vom 6. und 7. August 2009 könnte Veranlassung geben, den Beschluss vom 29. Juli 2009 abändernd zu ergänzen (§§ 86 b SGG, 927 ZPO), da durch die Verfügungen der Antragsgegnerin eine veränderte Sachlage geschaffen wurde, die eine einstweilige Anordnung "nötig" erscheinen ließe (§ 86 b Abs. 2 SGG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG). Der gestellte Antrag auf Rechtschutzgewährung könnte jedoch auch bei lebensnaher und einer an der Sach- und Rechtslage orientierten Auslegung als Widerspruch gegen die Bescheide vom 6. August 2009 verstanden werden, so dass die aufschiebende Wirkung gem. § 86 b Abs. 1 SGG anzuordnen wäre.

3

Die Kammer legt den Rechtsschutzantrag als Widerspruch aus, da die Aufrechnung vom 6. August 2009 ebenso wie die Einbehaltung vom 7. August 2009 jeweils in der Form eines Bescheides verfügt wurde, so dass Rechtsschutz gem. § 86 b Abs. 1 SGG in der Form der Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu gewähren ist. Vgl. Urteil des LSG Baden-Württemberg v. 2.7.2009 - L 10 R 2467/08 -: "Richtige Klageart ist die reine Anfechtungsklage. Denn die Beklagte hat hier in aller wünschenswerter Deutlichkeit durch Verwaltungsakt gehandelt. Allein dies bestimmt die richtige Klageart. Insbesondere hängt das Vorliegen eines Verwaltungsaktes nicht von der Befugnis der Behörde zu seinem Erlass (so auch und ausdrücklich Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 18.09.1997, 11 RAr 85/96 in SozR 3-4100 § 34 Nr. 4), sondern von der Handlungsweise und damit dem Willen der Behörde zur Nutzung dieser Handlungsform und der diesbezüglichen Auslegung ab, sodass also - wie hier - schon durch die äußere Form (im vorliegenden Fall: Bezeichnung als "Bescheid", Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung) und ggf. die gestalterische Wirkung (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheides (vgl. nur BSG, a.a.O.: Durch den Widerspruchbescheid kann ein Akt zum Verwaltungsakt werden und umgekehrt) eine Verwaltungsakt-Qualität anzunehmen ist."

4

Die Antragsgegnerin selbst hat ihre Verfügungen als "Bescheide" bezeichnet und sie nach § 96 SGG zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemacht. Damit handelt es sich um die Rechtsstellung der Antragsteller regelnde Verwaltungsakte. Vgl. insoweit auch die Anfrage des 13. Senats beim 4. Senat des BSG v. 5.2.2009 - B 13 R31/08 R -: "Im Übrigen ist - anders als im Zivilrecht - nach dem SGB I auch die Aufrechnung nicht nur davon abhängig, dass sich die Behörde hierfür frei entscheidet und dies erklärt. Vielmehr ist (das Gleiche gilt, wegen der Verweisung in § 52 SGB I, für die Verrechnung) die Erklärung an das pflichtgemäße Ermessen (§ 51 Abs. 1 Halbsatz 1, Abs. 2 Halbsatz 1 SGB I) und an die Pfändbarkeit der Geldleistungen (Abs. 1 Halbsatz 2 a.a.O.) gebunden bzw. (nach § 51 Abs. 2 SGB I) an die Höhenbegrenzung (bis zur Hälfte) sowie die fehlende Hilfebedürftigkeit des Berechtigten nach der Aufrechnung."

5

Der so verstandene, zulässige Antrag hat gem. § 86 b Abs. 1 SGG Erfolg.

6

Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag. in jenen Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Sofern der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden ist, kann das Gericht daneben die Aufhebung der Vollziehung anordnen, § 86b Abs. 1 S. 2 SGG. Eine derartige Sachlage ist hier gegeben, denn nach § 39 Nr. 1 SGB II, der eine Regelung im Sinne des § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG trifft, haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet (Nr. 1) keine aufschiebende Wirkung.

7

1.

Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Diese Abwägung zwischen dem privaten Aussetzungsinteresse und dem öffentlichen Vollzugsinteresse orientiert sich an den wirtschaftlichen Verhältnissen, am Verhalten der Behörde, an den Grundrechten einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie in der Regel an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, weil am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheids rechtsstaatlich kein öffentliches Interesse mehr bestehen kann, während bei einem eindeutig rechtmäßigen Bescheid das öffentliche Interesse regelmäßig Vorrang erhält. Um eine Entscheidung zugunsten des Bescheidadressaten zu treffen, ist es daher lediglich erforderlich, dass bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheides bestehen (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rz. 197 ff.). Hierbei sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten bzw. die Rechtszweifel umso geringer, je schwerer die Auswirkungen der Verwaltungsmaßnahme sind (Berlit, info also 05, 3/7). Ist der eingelegte Rechtsbehelf hingegen - bei einer entsprechend vorzunehmenden richterlichen Wertung - offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, kommt eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur noch in Ausnahmefällen in Betracht ( Finkelnburg /Jank, NJW-Schriften Band 12, 4. Aufl. Rdn. 859 m.w.N.).

8

Lassen sich die maßgeblichen Tatumstände und ggf. Rechtsfragen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedoch aus Zeitgründen oder aber anderen Gründen nicht hinreichend aufklären, so kommt es auf eine Folgenabwägung an. Bei dieser ist unter Berücksichtigung der Grundrechte (Art. 1 GG, Menschenwürde) und sämtlicher Belange des Rechtsschutzsuchenden zu entscheiden. Jedenfalls eine Versagung und Abweisung des gerichtlich erstrebten vorläufigen Rechtsschutzes hätte sich stets auf eine eingehende Aufklärung der Sach- und Rechtslage zu stützen, die in vielen Fällen jedoch nicht mehr möglich ist. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 -: "Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216)). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäßArt. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 (242 f.))."

9

2.

Auf der Grundlage einer summarischen Prüfung ist hier die aufschiebende Wirkung des mit dem Rechtsschutzantrages konkludent verbundenen Widerspruchs gegen die Bescheide vom 7. August 2009 anzuordnen. Im vorliegenden Fall erweist sich nämlich die in diesen Bescheiden verfügte Aufrechnung bzw. Einbehaltung von jeweils 75,- EUR mtl. von SGB II-Leistungen als rechtlich sehr zweifelhaft, so dass eine Interessenabwägung zu Gunsten der Antragsteller ausfällt.

10

#Die Antragsgegnerin hat nämlich das ihr bei einer Aufrechnung bzw. bei der Einbehaltung von Leistungen zukommende Ermessen nicht ausgeübt. Möglicherweise sind die in Vollzug des Kammerbeschlusses gewährten Leistungen tilgungsfrei zu gewähren - schon deshalb, weil die Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO hier nicht überschritten werden. Jedenfalls ist eine dahingehende und dies einbeziehende Ermessenbetätigung nicht ersichtlich. Vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 2.7.2009 - L 10 R 2467/08 -: "Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Beklagte bei Erlass der angefochtenen Bescheide überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat oder ihr betätigtes Ermessen in den angefochtenen Bescheiden lediglich nicht begründet hat, da in beiden Fällen dieselben Rechtsfolgen der Anfechtung eintreten. Die Bescheide sind jedenfalls im Hinblick auf eine Ermessensausübung nicht hinreichend begründet. Die Begründung einer solchen Entscheidung muss zunächst deutlich machen, dass die Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen hat (BSG, a.a.O., auch zum Nachfolgenden). Wie bei einer gebundenen Entscheidung (siehe § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB X) müssen Ermessensentscheidungen die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe anführen, darüber hinaus ("auch") müssen sie die Gründe für die darauf beruhende und somit erst daran anschließende Ausübung des Ermessens erkennen lassen. Formelhafte Wendungen, etwa dass "keine Besonderheiten gegeben" seien oder "hinsichtlich der Umstände nichts Besonderes ersichtlich" bzw. "nach pflichtgemäßem Ermessen geprüft worden" sei, reichen für die vorgeschriebene Begründung von Ermessensentscheidungen häufig, jedenfalls wenn mehrere Handlungsalternativen in Betracht kommen, nicht aus, weil bei derartigen "Leerformeln" nicht nachgeprüft werden kann, ob die Verwaltung von ihrem Ermessen überhaupt und ggf. in einer dem Zweck der ihr erteilten Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Erforderlich ist vielmehr eine auf den Einzelfall eingehende Darlegung, dass und welche Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen stattgefunden hat und welchen Erwägungen dabei die tragende Bedeutung zugekommen ist, damit dem Betroffenen bzw. dem Gericht die Prüfung ermöglicht wird, ob die Ermessensausübung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Daran mangelt es hier. "

11

Die Antragsgegnerin hat in ihren Bescheiden vom 6. und 7. August 2009 die Aufrechnung wie auch die Einbehaltung schlichtweg obrigkeitlich "verfügt", ohne auch nur ansatzweise irgendwelche Ausführungen dazu zu machen, aus welchen Gründen und mit welchen Erwägungen hier überhaupt eine Aufrechnung bzw. Einbehaltung angesichts der Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO in Betracht kommt und weshalb die festgelegte Höhe der Einbehaltung bzw. Aufrechung den Antragstellern gegenüber gerechtfertigt ist. Auch die von den Antragstellern aufgeworfenen Fragen zu den§§ 23 SGB II, 51 Abs. 1, 54 Abs. 4 SGB I sind nicht behandelt und erörtert worden.

12

Ein Nachschieben von Ermessensgründen erst im gerichtlichen Verfahren kommt hier nicht in Betracht, weil die angefochtenen Bescheide nicht ansatzweise irgendwelche Erwägungen zum Ermessen enthalten. Bei einem Nichtgebrauch von Ermessen kann jedoch nicht im gerichtlichen Verfahren noch etwas "nachgeschoben" werden, da es an einem Ansatz ("Torso") für Ermessenserwägungen von Anfang an fehlt.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs.1 und 4 SGG.

14

Den Antragstellern ist Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Verfahrens unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. zu bewilligen, weil das Verfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 73a SGG in Verbindung mit §§ 114ff. ZPO).