Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 03.09.2009, Az.: S 28 AS 936/08
Bestimmtheit eines Rückforderungsbescheides trotz fehlender Aufschlüsselung des Wegfalls von bestimmten Leistungsanteilen an einzelne Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 03.09.2009
- Aktenzeichen
- S 28 AS 936/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 30666
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2009:0903.S28AS936.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs. 1 SGB II
- § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II
- § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II
- § 330 Abs. 3 SGB III
- § 33 SGB X
- § 37 SGB X
- § 50 SGB X
Tenor:
- 1.
Der Bescheid des Beklagten vom 21. August 2997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2008 wird aufgehoben.
- 2.
Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
- 3.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung geleisteter Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II hinsichtlich des Anteils an Unterkunfts- und Heizkosten in Höhe von 575,40 Euro für die Zeit vom 01. Juni bis 31. August 2007.
Die G. geborene Klägerin bezieht seit dem Jahre 2005 gemeinsam mit ihrem H. geborenen Sohn I. Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende nach dem SGB II. Sie erhielt vom Beklagten als kommunalem Grundsicherungsträger mit Bescheid vom 18. April 2007 die Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 320,- Euro und Heizung in Höhe von monatlich 51,- Euro für die Zeit vom 01. Mai bis 31. Oktober 2007 (Bl. 105 bis 107 der Verwaltungsakte). Dabei entfielen auf die Klägerin und ihren Sohn jeweils hälftig Leistungen in Höhe von 185,50 Euro.
Die Klägerin nahm am 10. Mai 2007 eine Erwerbstätigkeit auf und erzielte für den Monat Mai Einkommen in Höhe von 1.419,35 Euro brutto. Ab dem 01. Juni 2007 bezog sie vom J. ein Nettoeinkommen von 1.337,70 Euro pro Monat.
Mit Bescheid vom 21. August 2007 (Bl. 2 bis 3 der Verwaltungsakte) hob der Beklagte die Bewilligung ab dem 01. Juni 2007 auf und forderte die Rückerstattung eines überzahlten Betrages von 575,40 Euro. Er begründete dies damit, dass mit der Arbeitsaufnahme die Hilfebedürftigkeit der Klägerin entfallen sei. Von den Kosten der Unterkunft seien 44 Prozent der Kosten zu erstatten.
Dagegen legte die Klägerin am 11. September 2007 Widerspruch ein (Bl. 1 der Verwaltungsakte), den sie damit begründete, dass sie ihre Mitwirkungspflichten nicht verletzt habe. Ferner fehle es an einer Anhörung.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2008 zurück und begründete dies im Wesentlichen folgendermaßen:
Die Rückforderung erfolge, weil die Klägerin nachträglich Einkommen erzielt habe und nicht wegen Verletzung einer Mitteilungspflicht.
Dagegen hat die Klägerin am 13. Juni 2008 Klage erhoben.
Sie trägt vor:
Sie habe rechtzeitig im Mai 2007 die Arbeitsaufnahme mitgeteilt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 21. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 21. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2008 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten.
Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide sind §§ 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3, 40 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II, 330 Absatz 3 SGB III in Verbindung mit § 50 SGB X.
Ob die angegriffenen Bescheide trotz Unterlassens einer Anhörung nach § 24 SGB X formell rechtmäßig sind, mag dahin stehen. Insbesondere kann offenbleiben, ob die Ausnahmeregelung des § 24 Absatz 2 Nr. 5 SGB X greift. Dies mag zweifelhaft sein, weil es sich nicht lediglich um eine Anpassung einkommensabhängiger Leistungen handelte, sondern darüber hinaus um eine Rückforderung.
Die angefochtenen Bescheide erweisen sich jedoch als materiell rechtswidrig.
Nach § 48 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 soll ein Verwaltungsakt ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, wenn nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden des Betroffenen an (vgl. von Wulffen/Wiesner, Kommentar zum SGB X, § 48, Rd. 24; Kasseler/Kommentar/Steinwedel, § 48, Rd. 51).
Die Klägerin hat im vorliegenden Fall nach Bewilligung der Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende nach dem SGB II im Monat Mai 2007 Einkommen im Sinne von § 11 Absatz 1 SGB II erzielt, welches bedarfsmindernde Wirkung hatte.
Die angefochtenen Bescheide wurden gemäß § 37 SGB X lediglich gegenüber der Klägerin bekannt gegeben. Da es sich jedoch nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 07. November 2006 (- B 7b AS 8/06 R -) beim Leistungsanspruch um einen Individualanspruch jedes Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft gegen den Grundsicherungsträger handelt, muss dies auch als actus contrarius bei der Rücknahme gelten. Eine Bekanntgabe erfolgte gegenüber dem Sohn der Klägerin als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft nicht. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung wäre aber eine Bekanntgabe gegenüber jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft erforderlich gewesen (vgl. Beschlüsse des Landessozialgerichtes Berlin-Brandenburg vom 25. August 2006 - L 5 B 549/06 AS ER -, info also 2006, 268, 271, und 19. November 2007 - L 18 B 1985/07 AS PKH -).
Eine Bekanntgabe gegenüber dem gesetzlichen Vertreter ist grundsätzlich möglich, jedoch muss sich dies hinreichend bestimmt aus den Bescheiden ergeben. Zweifel daran, dass der Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden rechtswirksame Verfügungen gegenüber der Klägerin als gesetzlicher Vertreterin vornehmen wollte, ergeben sich offensichtlich aus dem Wortlaut der Bescheide und der Tatsache, dass als Adressat allein die Klägerin aufgeführt wurde.
Denn die Bescheide fordern ausdrücklich die Rückzahlung der gesamten Summe, also auch des Anteils der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, von der Klägerin. In den Bescheiden wird ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass die Klägerin zu Unrecht Leistungen erhalten habe, welche von ihr zurückzuverlangen seien. Rechtswirkungen für den Sohn waren aus dem Wortlaut nicht erkennbar. Die hinreichende Bestimmtheit ist grundsätzlich nach dem Empfängerhorizont des Adressaten zu bewerten, welcher erkennen können muss, welches Rechtshandeln von ihm verlangt wird (so auch Urteil des Sozialgerichtes Schleswig vom 13. Juni 2006 - S 9 AS 834/06 -). Insbesondere muss der Verwaltungsakt gemäß § 33 SGB X in sich widerspruchsfrei sein (vgl. von Wulffen/Engelmann § 33, Rd. 3; Beschlüsse des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 2007 - L 20 B 321/06 AS ER - und 13. September 2007 - L 20 B 152/07 AS ER -). Letzteres ist hier gerade offensichtlich nicht der Fall, weil nach dem Wortlaut allein die Klägerin einen Betrag von 575,40 Euro zurückzugewähren habe. Der Sohn wird nicht erwähnt. Der auf die Klägerin entfallende Erstattungsbetrag berechnet sich hingegen lediglich aus der Hälfte der Leistungen des kommunalen Trägers bzw. aus § 40 Absatz 2 Satz 1 SGB II, wie sich aus dem Bewilligungsbescheid vom 18. April 2007 ergibt, welcher die Leistungsanteile der Personen der Bedarfsgemeinschaft aufschlüsselt. Er lässt sich gerade nicht den angegriffenen Bescheiden entnehmen, so dass mangelhafte Bestimmtheit vorliegt (vgl. Urteil des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 19. Juni 2009 - L 7 AS 66/08 -; Beschluss des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 2007 a.a.O.; Beschluss des Landessozialgerichtes Berlin- Brandenburg vom 25. August 2006 a.a.O.; Urteil des Hessischen Landessozialgerichtes vom 12. März 2007 - L 9 AS 33/06 -; Beschluss des Sozialgerichtes Dortmund vom 28. August 2006 - S 31 AS 340/06 ER -; Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 13. November 2006 - S 26 AS 551/05 -).
Der Aspekt der hinreichenden Bestimmtheit gemäß § 33 Absatz 1 SGB X steht einer Auslegung der angefochtenen Bescheide dahingehend entgegen, dass zumindest eine rechtswirksame Aufhebung und Rückforderung gegenüber der Klägerin hinsichtlich des auf sie entfallenden geringeren als tatsächlich im Verfügungssatz genannten Betrages anzunehmen wäre. Denn der Beklagte muss sich am klaren Wortlaut seiner Bescheide festhalten lassen. Verfügungssatz und materielle Rechtslage stimmen nicht überein. Aus der Perspektive des Empfängerhorizontes war aus den angefochtenen Bescheiden nicht zu erkennen, welche Summe die Klägerin zurückzugewähren hatte, zumal der Verfügungssatz ausdrücklich die gesamte Summe nur von ihr verlangte.
Die Kammer folgt nicht dem Urteil des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 30. September 2008 (- L 9 AS 479/07 -), welches sich nicht mit der zitierten Rechtsprechung auseinandersetzt und das Postulat aufstellt, dass der Betroffene zumindest die zu Unrecht erhaltenen Leistungen zurückzahlen solle. Der die Rückforderung regelnde Verwaltungsakt muss aber selbst rechtmäßig sein. Inhalt des Bestimmtheitsgebotes ist, dass der Betroffene klar erkennen kann, welche Rechtsfolge die Behörde gegenüber ihm setzen möchte. Gerade dies ist vorliegend aber nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.
Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer des Beklagten mit 575,40 Euro unterhalb des Schwellenwertes von 750,- Euro liegt.
Die Berufung kann zugelassen werden, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und nicht von einer Entscheidung des Landessozialgerichtes, des Bundessozialgerichtes, des Gemeinsamen Senates der Obersten Gerichtshöfe oder des Bundesverfassungsgerichtes abweicht sowie auf dieser Abweichung beruht.
Die Kammer lässt die Berufung zu, weil teilweise Divergenz zu Entscheidungen des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen besteht. So vertritt der 9. Senat die Rechtsauffassung, dass bei einer Gesamtrückforderung, welche nur gegenüber einem Mitglied einer aus mehreren Personen bestehenden Bedarfsgemeinschaft bekannt gegeben wurde, nur im Hinblick auf letztere Wirksamkeit bestehe und die Bescheide im Übrigen nicht unbestimmt seien, so dass zumindest der Anteil der Person zurückgefordert werden könne, gegenüber dem die Bekanntgabe stattgefunden hat (vgl. Urteil vom 30. September 2008 - L 9 AS 479/07 -). Demgegenüber vertritt der 7. Senat desselben Obergerichtes die Rechtsansicht, dass die Erstattungsforderung insgesamt rechtswidrig sei, weil die Bescheide unbestimmt seien (vgl. Urteil vom 19. Juni 2009 - L 7 AS 66/08 -).