Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 17.12.2009, Az.: S 7 AL 39/08

Antrag eines Selbstständigen auf freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung nach Ablauf eines Monats seit Aufnahme der zur Versicherung berechtigenden Beschäftigung

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
17.12.2009
Aktenzeichen
S 7 AL 39/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 31974
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2009:1217.S7AL39.08.0A

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Februar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2008 verurteilt, den Kläger ab dem 31. Januar 2008 freiwillig in der Arbeitslosenversicherung zu versichern, soweit ab diesem Zeitpunkt eine selbständige Tätigkeit ausgeübt wurde. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt von der Beklagten die freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung ab dem 31. Januar 2008.

2

Der F. geborene Kläger nahm am 02. Juli 2007 eine selbständige Tätigkeit auf. Er stellte am 31. Januar 2008 einen Antrag auf freiwillige Weiterversicherung.

3

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. Februar 2008 ab und begründete dies damit, dass der Antrag nicht innerhalb eines Monats nach Aufnahme der zur Versicherung berechtigenden Beschäftigung gestellt worden sei.

4

Dagegen legte der Kläger am 18. Februar 2008 Widerspruch ein, den er damit begründete, dass er auf diesen Umstand nicht hingewiesen worden sei. Er habe erst im Januar 2008 von einem Kollegen erfahren, dass diese Möglichkeit bestehe.

5

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2008 zurück und begründete dies im Wesentlichen folgendermaßen:

6

Der Antrag könne nur in der Monatsfrist gestellt werden. Es handele sich um eine absolute Ausschlussfrist, so dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht statthaft sei.

7

Dagegen hat der Kläger am 25. Februar 2008 Klage erhoben.

8

Er trägt vor:

9

Wenn er richtig beraten worden wäre, hätte er den Antrag rechtzeitig gestellt. Er habe im April 2007 ein Gespräch über die berufliche Situation bei der Beklagten gehabt, bei dem ihm die Beratung hätte zuteil werden können.

10

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Februar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2008 zu verurteilen, den Kläger ab dem 31. Januar 2008 freiwillig in der Arbeitslosenversicherung zu versichern, soweit ab diesem Zeitpunkt eine selbständige Tätigkeit ausgeübt wurde.

11

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Sie trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:

13

Eine Beratungspflicht habe nicht bestanden.

14

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeuginnen G. H. und I. J. zu den Umständen der Beratung des Klägers durch die Beklagte im Jahre 2007.

15

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Klage hat Erfolg.

17

Der Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2008 erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten.

18

Rechtsgrundlage der angegriffenen Bescheide ist § 28 a SGB III in der Fassung vom 24. März 1997 (BGBl. I S. 594), zuletzt abgeändert durch Artikel 3 des Gesetzes zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen vom 19. April 2007 (BGBl. I S. 538) (a.F.). Diese Norm besitzt erstmalige Gültigkeit seit dem 01. Februar 2006.

19

Nach § 28 a Absatz 1 Satz 1 SGB III a.F. können ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag (unter anderem) Personen begründen, die (2.) eine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufnehmen und ausüben.

20

Gemäß Satz 2 ist Voraussetzung für die Versicherungspflicht, dass

  1. 1.

    der Antragsteller innerhalb der letzten 24 Monate vor Aufnahme der Tätigkeit oder Beschäftigung mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis nach den Vorschriften des Ersten Abschnitts gestanden oder eine Entgeltersatzleistung nach diesem Buch bezogen hat,

  2. 2.

    der Antragsteller unmittelbar vor Aufnahme der Tätigkeit oder Beschäftigung, die zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt, in einem Versicherungspflichtverhältnis nach den Vorschriften des Ersten Abschnitts gestanden oder eine Entgeltersatzleistung nach diesem Buch bezogen hat und 3. Versicherungspflicht (§§ 26, 27) anderweitig nicht besteht.

21

Nach Absatz 2 Satz 1 der Norm beginnt das Versicherungsverhältnis mit dem Tag des Eingangs des Antrags bei der Agentur für Arbeit, frühestens jedoch mit dem Tag, an dem erstmals die nach Absatz 1 Satz 1 geforderten Voraussetzungen erfüllt sind.

22

Gemäß Satz 2 muss der Antrag spätestens innerhalb von einem Monat nach Aufnahme der Tätigkeit oder Beschäftigung, die zur Weiterversicherung berechtigt, gestellt werden.

23

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob eine fristgerechte Antragstellung stattgefunden hat. Die übrigen materiellrechtlichen Voraussetzungen der Weiterversicherung des Klägers, welcher am 02. Juli 2007 eine selbständige Tätigkeit mit mindestens als 15 Wochenstunden aufgenommen hat, sind unstreitig erfüllt.

24

Der Kläger hat mit Antragstellung 31. Januar 2007 die Monatsfrist versäumt. Ein Anspruch auf eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht nicht. Dabei kann offen bleiben, ob diese Norm überhaupt auf die vorliegende Fallkonstellation und auf § 28 a Absatz 2 Satz 2 SGB III a.F. (§ 28 a Absatz 1 Satz 3 der ab 01. Juli 2008 geltenden, aktuellen Fassung des Gesetzes) anwendbar ist. Denn selbst für den Fall, dass es sich um keine absolute materielle Ausschlussfrist im Sinne von § 27 Absatz 5 SGB X handeln sollte (Hauck/Noftz/Timme, Kommentar zum SGB III, § 28 a, Rd.23; Niesel-Brand, Kommentar zum SGB III, § 28 a, Rd.3; a.A. Gagel/Fuchs, Kommentar zum SGB III, § 28 a, Rd. 69 bis 71), lägen die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nicht vor.

25

Gemäß § 27 Absatz 1 Satz 1 SGB X ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

26

Die bloße Unkenntnis einer Norm kann keinen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen (vgl. Urteile desBundessozialgerichtes vom 09. Februar 1993 - 12 RK 28/92 - und 22. Oktober 1996 - 13 RJ 23/95 -). Denn nach dem Grundsatz der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen gelten diese mit ihrer Verkündung im Bundesgesetzblatt allen Normadressaten als bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wie diese dann davon Kenntnis erlangt haben.

27

Jedoch sind die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gegeben, bei deren Vorliegen der Betroffene rechtlich so zu stellen ist, wie es bei fehlerfreier Beratung der Fall gewesen wäre (vgl. Kasseler Kommentar/Seewald, § 14 SGB I, Rd. 24).

28

Dieses Rechtsinstitut ist grundsätzlich neben § 27 SGB X anwendbar (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 02. Februar 2006 - B 10 EG 9/05 -).

29

Tatbestandliche Voraussetzung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist:

  1. 1.

    eine Pflichtverletzung, die der Beklagten zuzurechnen ist,

  2. 2.

    ein dadurch beim Kläger eingetretener sozialrechtlicher Nachteil und

  3. 3.

    die Befugnis der Beklagten, durch eine Amtshandlung den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht begangen worden wäre

(vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 18. Februar 2004 - B 10 EG 10/03 R -).
30

Der Kläger hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, in deren Rahmen zwei Angestellte der Beklagten als Zeuginnen vernommen wurden, nachgewiesen, dass die Beklagte eine Beratungspflichtverletzung beging.

31

Es liegt ferner eine Verletzung der Beratungspflicht nach § 14 SGB I vor. Nach Satz 1 dieser Norm hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Nach Satz 2 sind zuständig für die Beratung die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind.

32

Voraussetzung ist ferner, dass die verletzte Pflicht dem Sozialleistungsträger gerade gegenüber dem Versicherten obliegt, diesem also ein entsprechendes subjektives Recht einräumt (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 22. Oktober 1996 - 13 RJ 23/95 -).

33

Prämisse für das Entstehen einer Beratungspflicht nach § 14 SGB I ist ein Beratungsbegehren oder zumindest ein konkreter Anlass zur Beratung (vgl. Urteile des Bundessozialgerichtes vom 28. September 1976 - 3 RK 7/76 -, 21. März 1990 - 7 RAr 36/88, - 16. Dezember 1993 - 13 RJ 19/92 - und 16. Juni 1994 - 13 RJ 25/93 -).

34

Eine Beratungspflicht kann auf §§ 29, 30 SGB III gestützt werden, nach denen die Beklagte auch eine Berufsberatungspflicht trifft, welche unter anderem die Leistungen der Arbeitsförderung beinhaltet.

35

Der Kläger hat glaubhaft darlegen können, dass er mit einem hinreichend konkreten Beratungsbegehren an die Beklagte herangetreten ist. Ein konkreter Anlass für eine Spontanberatung wurde nachgewiesen, so dass eine Pflichtenstellung der Beklagten zur Beratung über die Norm des§ 28 a SGB III a.F. erwiesen ist. Die spontane Beratungspflicht besteht nur bei einem engen Verhältnis Bürger-Verwaltung (vgl. Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB I, § 14, Rd.17), dessen Voraussetzung im vorliegenden Fall bejaht werden muss, da der Kläger arbeitslos war und die Arbeitsvermittlung bzw. Wiederaufnahme einer selbständigen Tätigkeit zu klären waren.

36

Es bestand im Beratungsgespräch mit der Zeugin K. am 16. Januar 2007 ein konkreter Anlass, nach dem die Beklagte auf die Weiterversicherungsmöglichkeit bei Selbständigkeit hätte hinweisen müssen. Eine Beratungspflicht erstreckt sich auf Gestaltungsmöglichkeiten, die der Betroffene anspricht und deren Relevanz auch unmittelbar für die Behörde erkennbar ist. Letztere muss nicht gleichsam ins Blaue hinein, vermutete Beratungsbedarfe ermitteln und befriedigen, wenn sie nicht klar zu Tage treten (vgl. Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB I a.a.O..) oder sich unmittelbar aus der Beratungssituation aufdrängen. Es müsste dabei im Übrigen für die Behörde klar erkennbar sein, dass die Wahrnehmung der Rechte offensichtlich so zweckmäßig ist, dass sie jeder vernünftige Bürger sie mutmaßlich nutzen würde (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes vom 18. Dezember 1975 - 12 RJ 88/75 -).

37

Der Kläger hat glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass er gegenüber der Zeugin J. am 16. Januar nachgefragt hat, was mit dem Anspruch auf Arbeitslosengeld nach Ablauf von vier Jahren geschehe. Ihm sei dann nach eigenen, nachvollziehbaren Angaben erklärt worden, dass er dann lediglich Grundsicherungsleistungen für Arbeitssuchende nach dem SGB II beanspruchen könne. Die Zeugin kann sich zwar nicht an diese konkrete Nachfrage erinnern, was aufgrund des Zeitablaufs und der konkreten Arbeitsbelastung in der Arbeitsvermittlung nachvollziehbar ist. Jedoch ist aufgrund des Beratungsvermerkes in jedem Fall erwiesen, dass über die Frage der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit gesprochen und dem Kläger eine Frist von 3 Monaten zur Wiederaufnahme gestellt wurde. Daraus folgt, dass im Januar (zunächst) allein die Aufnahme der selbständigen Beschäftigung im Mittelpunkt stand und eine Arbeitsvermittlung erst später einsetzte, ehe dann im Juli die Abmeldung in eine selbständige Beschäftigung erfolgte. Die Angaben des Klägers erscheinen als glaubhaft und widerspruchsfrei. Auf die gezielte Nachfrage des Vorsitzenden, aus welchen Gründen er sich genau an die Nachfrage an die Zeugin J. erinnern könne, wies der Kläger plausibel darauf hin, dass diese Frage für ihn überragende Bedeutung gehabt habe und er als Person, welche langjährig beschäftigt war, nicht in den Bezug von Grundsicherung für Arbeitslose nach dem SGB II geraten wollte. Darüber hinaus erscheint die genaue Erinnerung an das Gespräch aus dem Grunde glaubhaft, nach dem der Kläger vortrug, dass die Zeugin J., bei welcher er lediglich eine persönliche Vorsprache hatte, im Januar 2007 hellblonde Haare trug, aber zur Zeugeneinvernahme am 17. Dezember 2009 mit dunklen Haaren erschien. Die Änderung der Haarfarbe wurde vom Vertreter der Beklagten bestätigt.

38

Insgesamt folgt die Kammer damit den Ausführungen des Klägers im Hinblick auf die Annahme einer Beratungspflichtverletzung zu diesem Zeitpunkt. Dabei ist unerheblich, dass sich die Beratungssituation im April 2007 kurzzeitig dergestalt änderte, dass eine Arbeitsvermittlung im Vordergrund stand. Denn eine Pflicht zur Beratung besteht unabhängig davon, ob sich die Sachlage zu einem späteren Zeitpunkt ändert.

39

Die Pflichtverletzung ist der Beklagten zuzurechnen und kausal für die unterlassene, rechtzeitige Antragstellung und den eingetretenen Schaden, der in Gestalt der fehlenden freiwilligen Versicherung besteht. Eine Naturalrestitution ist im vorliegenden Fall grundsätzlich möglich, indem die rechtzeitige Antragstellung fingiert und die Beiträge zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung nachentrichtet werden. Letzteres wurde in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes für die Zahlung freiwilliger Beiträge nach Fristablauf ebenso bejaht wie die Heilung des Versäumnisses von Ausschlussfristen (vgl. Urteile des Bundessozialgerichtes vom 12. Oktober 1979 - 12 RK 47/77 - und 26. Oktober 1982 - 12 RK 37/81 -; Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB I, § 14, Rd. 42; Lilge, Kommentar zum SGB I, vor §§ 13 bis 15, Rd. 26).

40

Eine offensichtliche Zweckmäßigkeit einer solchen Gestaltungsmöglichkeit wäre für die Beklagte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und Sachverhaltsaufklärung erkennbar gewesen. Diese entsprach den geäußerten Interessen des Klägers im Monat Januar 2007.

41

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

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Rechtsmittelbelehrung:

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Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

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