Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 24.06.2009, Az.: S 75 AS 915/09 ER

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
24.06.2009
Aktenzeichen
S 75 AS 915/09 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 50469
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bekleidungszuschuss im einstweiligen Anordnungsverfahren nach Vorlagebeschluss des BSG

Tenor:

Der Antragsgegner wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller eine Bekleidungsbeihilfe in Höhe von 660,- € als Zuschuss zu zahlen.

Außergerichtliche Kosten des Antragstellers hat der Antragsgegner zu tragen.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller begehrt für seine beiden Kinder (14 und 16 Jahre alt) sowie für seinen 16-jährigen Stiefsohn einen Bekleidungszuschuss als Sonderbedarf.

2

Er erhält gem. Bescheid vom 10. Juni 2009 vorläufig - wegen ausstehender Klärung des Wohn- und Kindergeldes - Leistungen nach dem SGB II in einer Höhe von 295,21 € bzw. 294,57 €. Mit Antrag vom 22. Mai 2009 beantragte er gem. § 23 SGB II eine einmalige Beihilfe für die Bekleidung seiner Kinder, was er dahingehend spezifizierte, dass er den Bedarf für Hosen, Unterhosen, T-Shirts, Pullover, Jacken, Strümpfe, Schuhe, Turnzeug, Badehosen, -tücher und -mäntel, etc. etc. nicht mehr aus den laufenden Leistungen decken könne.

3

Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 10. Juni 2009 mit der Begründung ab, nach § 23 Abs. 3 SGB II könnten zwar Beihilfen zusätzlich zu Regelleistungen gewährt werden, jedoch nur gemäß der abschließenden Aufzählung des Gesetzes. Neu- und Ersatzbeschaffungen seien durch die Regelsätze bereits abgegolten. Die Gewährung einer einmaligen Beihilfe für Bekleidung sei somit nicht möglich.

4

Zur Begründung seines dagegen gerichteten Widerspruchs vom 17. Juni 2009 trägt der Antragsteller vor, es sei ernstlich zweifelhaft, ob diese Regelungen noch mit der Menschenwürde (Art. 1 GG) vereinbar seien. Seine Kinder befänden sich alle in einer Wachstumsphase, so dass er dringend Ersatz für die zerschlissene Kleidung seiner Kinder benötige. Er könne seine Kinder nicht ausreichend bekleiden, da die Kosten dafür seine Kinder weit unter den für sie festgelegten Regelsatz drücken würden und dann ihr Lebensunterhalt nicht mehr gewährleistet wäre. Das sei nicht hinnehmbar, zumal in Art. 20 Abs. 1 GG festgelegt sei, dass die Bundesrepublik Deutschland u.a. ein " sozialer Bundesstaat" sei. Ihm sei nicht nachvollziehbar, dass die SGB II-Leistungen abschließend und bedarfsdeckend sein sollten, während Sozialhilfeempfänger gem. § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII stets einen abweichenden Bedarf für Kinder geltend machen könnten. Das sei mit Art. 3 GG nicht vereinbar. Auch seine Kinder hätten ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, wofür sie den vollen Regelsatz benötigten, von dem ohnehin schon Schulbedarf, Schultagesfahrten, Monatskarten, Sportvereinskosten pp. zu begleichen seien. Über den Widerspruch ist noch nicht entschieden.

5

Zur Begründung seines am 17. Juni 2009 gestellten Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bezieht sich der Antragsteller auf seinen Widerspruch und macht diesen zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Er beantragt sinngemäß,

6

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm den beantragten Bekleidungszuschuss vorläufig zu gewähren.

7

Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,

8

den Antrag abzulehnen.

9

Er trägt vor, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die vom Antragsteller begehrten Ersatzbeschaffungen seien von Erstausstattungen abzugrenzen, die von der Regelleistung nicht umfasst und daher allein erstattungsfähig seien, § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB II. Darüber hinaus aber sehe das SGB II keine Bekleidungshilfe vor. Für eine ggf. darlehensweise in Betracht kommende Bewilligung sei nicht der Antragsgegner zuständig. Als Teil der Exekutive sei er zudem gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden, so dass er gar nicht positiv entscheiden könne.

10

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

11

Der nach § 86 b Abs. 2 SGG zu beurteilende Antrag ist begründet.

12

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System gegenseitiger Wechselbeziehung: Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, § 86b, Rdnr. 29). wenngleich auch in diesem Fall auf den Anordnungsgrund nicht vollends verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss die Sach- und Rechtslage im Eilverfahren abschließend geprüft werden, u.zw. unter Einbeziehung von Fragen des Grundrechtsschutzes, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren etwa nicht mehr zu beseitigen wären (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

13

1. Ein Anordnungsanspruch ist hier gegeben. Denn unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Argumente, wie sie im Vorlagebeschluss des BSG v. 27.1.2009 - B 14/11b AS 9/07 R - dargelegt sind, ist das Vorliegen eines Anspruch des Antragstellers wahrscheinlicher als das Nichtbestehen eines Anspruchs. Die begehrte einstweilige Anordnung ist somit zu erlassen, da es dem Antragsteller unter Berücksichtigung der Interessen auch des Antragsgegners derzeit nicht zuzumuten ist, im vorliegenden Fall die Hauptsacheentscheidung noch abzuwarten (vgl. LSG Nordrhein-W. NZS 02, 498 [LSG Nordrhein-Westfalen 25.02.2002 - L 5 B 3/02 KR ER]; LSG Rheinland-Pf. NZS 05, 671 [LSG Rheinland-Pfalz 11.11.2004 - L 5 ER 75/04 Ka]).

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1.1 Zunächst hat sich - wegen der vom BSG aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Zweifel - ein Anordnungsanspruch nicht mehr an hohen Anforderungen zu orientieren: Aus Gleichheitsgründen (Art. 3 GG) ist dem Antrag des Antragstellers tendenziell eher stattzugeben als das er abzulehnen wäre: Soll der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG) iSe Förderung der Familie und ihres wirtschaftlichen Zusammenhalts (BVerfGE 61, 18/25 und 75, 382/392) - auch unter Beachtung des Möglichen (BVerfGE 87, 1/35 und 103, 242 / 259) - ernst genommen werden, so ist hier gemäß Art. 3 GG iVm § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII bzw. 73 SGB XII ein Anspruch als zumindest glaubhaft gemacht anzusehen - iSe nur überwiegenden Wahrscheinlichkeit bei Vermeidung jeder Überspannung. Vgl. dazu den Vorlagebeschluss des BSG v. 27.1.2009 - B 14/11b AS 9/07 R -

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5. Die Revision rügt zu Recht, dass die Kinder von Sozialhilfeempfängern im Rahmen des SGB XII entgegen Art 3 Abs 1 GG besser behandelt werden als die Kinder von Leistungsempfängern nach dem SGB II, ohne dass Gründe von solcher Art und solchem Gewicht vorhanden sind, die eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen können (vgl BVerfGE 112, 164, 174; 107, 27, 45; 103, 172, 193; vgl zuletzt Urteil des Senats vom 13. November 2008 - B 14 AS 2/08 R). Die Ungleichbehandlung besteht darin, dass nach dem Regelungskonzept des SGB II die Regelleistung - auch und gerade für Kinder und Jugendliche - pauschaliert und abschließend sein soll (vgl BT-Drucks 15/1516, S 56 zu § 20; hierzu Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, § 20 RdNr 8 und RdNr 35 ff). Nach § 28 Abs 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 5 Abs 2 SGB II ist es für Kinder von Leistungsempfängern nach dem SGB II nicht möglich, die Regelleistung ergänzende Leistungen aus dem Bereich der Sozialhilfe zu erhalten (kritisch hierzu Mrozynski, ZfSH/SGB 2004, 198; zur Abgrenzung SGB II/SGB XII vgl S. Knickrehm, Sozialrecht aktuell, 2006, 159; dies NZS 2007, 128). Demgegenüber enthält § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII eine grundsätzliche Öffnungsklausel für abweichende Bedarfe für Kinder von Sozialhilfeempfängern (vgl hierzu BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007, B 8/9b SO 21/06 R). Unterstrichen wird diese Ungleichbehandlung von Kindern im SGB II und SGB XII dadurch, dass § 27 Abs 2 SGB XII im Sozialhilferecht in seinen Regelungen über den notwendigen Lebensunterhalt ausdrücklich vorschreibt, dass bei Kindern und Jugendlichen der notwendige Lebensunterhalt auch den besonderen, insbesondere den durch ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten Bedarf umfasst. Schließlich bestimmt § 9 SGB XII, dass die Sozialhilfe sich jeweils nach den Besonderheiten des Einzelfalles (Individualisierungsgrundsatz) zu richten hat. Grundsätzlich eröffnet damit das SGB XII im Einzelfall die Möglichkeit, abweichenden Bedarf etwa durch besondere schulische Betroffenheit etc - auch für Kinder - geltend zu machen.

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Die Ungleichbehandlung von Empfängern des SGB II und des SGB XII gerade im Bereich des § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII ist im Hinblick auf eine Verletzung des Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 GG bereits mehrfach thematisiert worden (vgl S. Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 5 RdNr 20 ff mwN; Brühl in LPK-SGB II, § 5 RdNr 43 ff; Mrozynski, aaO; H. Schellhorn in Hohm, GK-SGB II, § 5 RdNr 27 ff, Stand 10/07). Diese Ungleichbehandlung mag bei Erwachsenen einen sachlichen Grund darin finden, dass die Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende grundsätzlich noch erwerbsfähig iS des § 8 SGB II sind (vgl hierzu Spellbrink, JZ 2007, 28). Der ggf etwas knapper ausfallende Leistungsrahmen des SGB II lässt sich daher typisierend mit dem Umstand rechtfertigen, dass der (erwachsene bzw erwerbsfähige) Leistungsempfänger nach dem SGB II tatsächlich noch in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt durch Erwerbseinkommen zu verdienen bzw seinen Lebensstandard durch zusätzliche Aufnahme von bezahlten Arbeiten zu steigern. Nach dem Neukonzept und der Neuaufteilung der sozialen Risiken zwischen dem SGB II und dem SGB XII zum 1. Januar 2005 stellt die Sozialhilfe hingegen eine Residualkategorie dar (hierzu auch Rothkegel, SGb 2006, 74, 75), in die die Menschen fallen, die sich grundsätzlich nicht mehr durch Erwerbstätigkeit selbst helfen können. Dieser Gesichtspunkt mag im Lichte des Art 3 Abs 1 GG als hinreichender Grund dafür ausreichen, dass erwachsene Hilfebedürftige nach dem SGB II schlechter gestellt werden als erwachsene Hilfebedürftige nach dem SGB XII.

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Bei Kindern bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres scheidet jedoch der Hinweis auf eine mögliche Erwerbstätigkeit aus. Insofern bestehen zwischen Kindern von Sozialhilfeempfängern und Kindern von Grundsicherungsempfängern nach dem SGB II keinerlei Unterschiede. Beiden ist es nicht möglich, das Niveau ihres eigenen Lebensstandards durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu verbessern. Ebenso wenig kann die Ungleichbehandlung damit gerechtfertigt werden, dass die Eltern von Kindern im SGB II ja noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnten und so durch eine niedrigere Festsetzung der Regelleistung für Kinder im SGB II mittelbar ein Druck auf die Eltern ausgeübt werde, ihrerseits eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Dieser Ansatz verkennt, dass es aus Art 1 iVm Art 20 (und 6 Abs 2) GG einen eigenständigen Rechtsanspruch jedes Kindes auf Deckung des Existenzminimums gibt, der insofern nicht von der Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsneigung der Erwachsenen abhängig gemacht werden darf, mit denen das Kind in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Es ist daher unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht gerechtfertigt, lediglich für Kinder von Sozialhilfeempfängern eine Öffnungsklausel wie den § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII vorzusehen. Dies entspricht im Übrigen auch der bereits zitierten Haltung des Bundesrats (vgl Empfehlung vom 23. Mai 2008, BR-Drucks 329/08). Dort heißt es: "Die Einführung einer Öffnungsklausel in das SGB II, entsprechend der Vorschrift des § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII, ist notwendig, um eine abweichende Bemessung der Regelleistung in atypischen Einzelfällen innerhalb des SGB II zu ermöglichen und die von der oberstgerichtlichen Rechtsprechung beschriebene Schnittstelle zu dem SGB XII sachgerecht zu lösen." Wie unten noch zu zeigen ist, besteht auch keine Möglichkeit, im Rahmen einer (verfassungskonformen) Auslegung des einfachen Rechts, Kindern, die dem SGB II unterfallen, den Zugriff auf die insofern erweiterten Regelleistungen nach dem SGB XII zu ermöglichen (vgl unter 7.)."

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Im Hinblick darauf, dass nur ein Kind des Antragstellers das angesprochene Alter von 14 Jahren hat und zwei der Kinder des Antragstellers bereits 16 Jahre alt sind, ihnen also ggf. eine Erwerbstätigkeit abverlangt werden könnte, bestehen hier jedoch keine durchgreifenden Abweichungen: Es ist bekannt, dass heute gerade Schulkinder einen erheblichen Teil ihrer Zeit für Schule, Hausaufgaben und ggf. Nachhilfeunterricht aufwenden müssen, um die schulischen Lernziele zu erreichen. Dieser Zeitaufwand steigt mit dem Alter und den schulischen Anforderungen. Eine Erwerbstätigkeit von Bedeutung dürfte zudem in der heutigen Wirtschaftslage mit ihrer verbreiteten Jugendarbeitslosigkeit kaum möglich sein.

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1.2 Angesichts des gen. Vorlagebeschlusses des BSG vermag die Kammer nicht dem LSG Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil v. 17.9.2008 - L 12 AS 57/07 - ) zu folgen, das aufgrund der positiven Gesetzeslage ohne Einbeziehung des verfassungsrechtlichen Ansatzes, wie er im gen. Vorlagebeschluss des BSG zum Ausdruck kommt, keine Möglichkeit sah, zu einem in seinem Fall für die Kläger günstigeren Ergebnis zu gelangen:

20

"Soweit die Kläger eine andere Regelung für Kinder und Jugendliche für wünschenswert halten, kann dem gefolgt werden. Der Senat sieht jedoch - wie das SG - keine Möglichkeit, hier aufgrund der geltenden Gesetzeslage zu einem für die Kläger günstigeren Ergebnis zu kommen. Dem Gesetzgeber war bekannt, dass auch Kinder die Regelleistungen in Anspruch nehmen müssen. Auch das Wachstum von Kindern ist eine allgemein bekannte Tatsache. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber dies übersehen haben sollte."

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2. Der Antragsteller hat unter Beachtung des zuvor dargestellten beweglichen Systems sowie angesichts Art. 19 Abs. 4 GG auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Anforderungen an den Anordnungsgrund sind hier nämlich erheblich herabgemindert, weil ein im Vergleich zu § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII möglicherweise rechts- und verfassungswidriger Gesetzeszustand vorliegt, wie der Vorlagebeschluss des BSG vom 27.1.2009 - B 14/11b AS 9/07 R - aufzeigt. Dieser Zustand kann nicht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes - im Wissen um die verfassungsrechtlichen Zweifel - weiterhin vorläufig perpetuiert, die fundierten Zweifel können derzeit mithin nicht mehr ignoriert werden. Diesen ist vielmehr - im Sinne des o. gen. beweglichen Systems - durch herabgeminderte Anforderungen an einen Anordnungsgrund Rechnung zu tragen. Müsste der Antragsteller insoweit eine Entscheidung in der Hauptsache abwarten, könnten möglicherweise Jahre vergehen. Unter Berücksichtigung des Gebotes eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ist somit ein Anordnungsgrund schon bei glaubhafter Darlegung einer gewissen Dringlichkeit der Ersatzbeschaffung gegeben. Das ist hier der Fall.

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Der Antragsteller hat glaubhaft dargelegt, dass ihm durch ein Zuwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache wesentliche Nachteile drohen. Gegenstand des Verfahrens ist ein die Existenz seiner Kinder sichernder Sonderbedarf, der garantieren soll, dass sie ein menschenwürdiges Leben (Art. 1 GG) führen können. Aus diesem Grund kann dem Antragsteller nicht zugemutet werden, sich bis zur Entscheidung in der Hauptsache mit den ihm zugesprochenen Regelleistungen zu begnügen, wenn er einen Anspruch auf einen Sonderbedarf gem. Art. 3 GG iVm § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII zumindest glaubhaft gemacht hat. Die von ihm aufgeführten Kleidungsstücke für die drei Kinder sind als solcher Sonderbedarf zu betrachten, der nicht mehr durch die Regelleistungen gedeckt werden kann. Denn die Erstausstattungen seiner Kinder dürften - wie er glaubhaft vorträgt und wie das bei lebensnaher Betrachtung nachvollziehbar ist - verschlissen sein, so dass ein zusätzlicher Bedarf für Kleidung entstanden sein dürfte. Dieser Bedarf ist gem. §§ 202 SGG, 287 ZPO auf 750,- € geschätzt worden.

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3. Zu demselben Ergebnis führt hier auch eine Interessenabwägung: Würde die begehrte einstweilige Anordnung nicht ergehen, sich jedoch im Hauptsacheverfahren später herausstellen, dass der geltend gemachte Anspruch des Antragstellers auf eine Bekleidungsbeihilfe besteht, so wäre ggf. für die Kinder des Antragstellers schon viel Zeit verloren, in der sie im Widerspruch zu Art. 1 und Art. 6 GG mit nur zerschlissener Kleidung aufwüchsen. Im Vergleich dazu stellte es für den Antragsgegner nur eine finanzielle (Sonder-) Belastung dar, wenn nach dem Erlass der hier begehrten einstweiligen Anordnung sich später im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass ein Anspruch des Antragstellers materiell-rechtlich gar nicht besteht. Hierbei sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers und die zu seinen Gunsten sprechenden Grundrechte einzubeziehen sowie - bei Ausbleiben einer einstweiligen Anordnung - die möglicherweise fortdauernde Verletzung von Grundrechten (Art. 1, 6 GG). Die entsprechende Abwägung geht hier zu Gunsten des Antragstellers aus.

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4. Die vom Antragsteller begehrte Leistung (Bekleidungsbeihilfe) ist nicht etwa - wie der Antragsgegner meint - vorläufig als Darlehen zu zahlen, sondern als Zuschuss. Vgl. dazu SG Dresden v. 5.11.2005 - S 23 AS 982/05 ER - :

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"Unter Geltung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots ist nicht ersichtlich, weshalb der mit § 28 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB XII im Bereich der Sozialhilfe gewährleistete Mindeststandard im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht gelten soll (in dieser Richtung zutreffend: Däubler, NZS 2005, 225, 231; Bieback, NZS 2005, 337, 339; O’Sullivan, SGb 2005, 369, 372; Löschau, DAngVers 2005, 20, 28; ähnlich: SG Schleswig, Beschluss vom 09.03.2005, Az: S 2 AS 52/05 ER; Münder, NJW 2004, 3209, 3212; Brühl, info also 2004, 104, 108; Brünner in: Münder, Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II, 1. Aufl. 2005, § 20, Rn. 22 – 24; Lang in: Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 1. Aufl. 2005, § 20, Rn. 120). Wenn für verfassungsrechtlich relevante Sonderbedarfe im Sozialhilferecht eine Abweichung von der Regelleistung möglich ist, muss dieser Mindeststandard (zur Struktur der verfassungsrechtlich motivierten Mindeststandardargumentation – im Hinblick auf eine fehlende Härteklausel – vgl. unlängst: BSG, Urteil vom 09.12.2004, Az: B 7 AL 30/04 R; BSG, Urteil vom 09.12.2004, Az: B 7 AL 44/04 R; BSG, Urteil vom 09.12.2004, Az: B 7 AL 56/04 R; BSG, Urteil vom 27.01.2005, Az: B 7a/7 AL 34/04 R; BSG, Urteil vom 17.03.2005, Az: B 7a/7 AL 68/04 R; BSG, Urteil vom 17.03.2005, Az: B 7a/7 AL 78/04 R; BSG, Urteil vom 03.05.2005, Az: B 7a/7 AL 84/04 R; BSG, Urteil vom 25.05.2005, Az: B 11a/11 AL 51/04 R; BSG, Urteil vom 25.05.2005, Az: B 11a/11 AL 73/04 R) auch im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende gewährleistet sein, weshalb die Gewährung eines bloßen Darlehens unzureichend und verfassungsrechtlich unzulänglich ist (in dieser Richtung auch: O’Sullivan, SGb 2005, 369, 372). Vor diesem Hintergrund kommt das erkennende Gericht im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller den zusätzlichen, unabweisbaren, anderweitig nicht gedeckten Sonderbedarf zur Ausübung des Umgangsrechts im Wege verfassungskonformer Auslegung der Rechtsfolge des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht lediglich als Darlehen, sondern als Zuschuss in analoger Anwendung der Rechtsfolge des § 28 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB XII zu gewähren hat (angesprochen, aber offengelassen von: SG Münster, Beschluss vom 22.03.2005, Az: S 12 AS 18/05 ER)."

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5. Die Kammer war auch nicht gehalten, gem. Art. 100 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen: Im Rahmen des Art. 100 GG kommt es auf die Endentscheidung an, so dass im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eine Entscheidungserheblichkeit und somit eine Vorlage regelmäßig ausscheidet - solange nicht die Entscheidung der Hauptsache weitgehend vorweggenommen wird (was hier angesichts möglicher Rückforderungen nicht der Fall ist) bzw. ein Hauptsacheverfahren gar nicht mehr stattfindet (womit hier jedoch zu rechnen ist). Somit ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Verfahren nicht in Betracht zu ziehen, sondern die Bekleidungsbeihilfe auf der Grundlage einer Interessenabwägung (s.o.) zunächst einmal zuzusprechen - gerade auch wegen des verfassungsrechtlichen Gebotes eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).

27

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).