Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 04.12.2008, Az.: L 9 AS 467/08 ER

Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Abgrenzung einer Verantwortungsgemeinschaft und Einstehensgemeinschaft bei gemeinsamen Wohnen mit Kindern von einer bloßen Wohngemeinschaft

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
04.12.2008
Aktenzeichen
L 9 AS 467/08 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 32701
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2008:1204.L9AS467.08ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover, S 47 AS 1857/08 ER vom 29.07.2008

Fundstelle

  • NZS 2009, 684

Redaktioneller Leitsatz

Voraussetzung für die Anwendung der Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3a Nr. 3 SGB II ist ein gemeinsames Wohnen, das in seiner konkreten Ausgestaltung das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft tatsächlich indiziert und sich damit von bloßen Wohngemeinschaften abgrenzt. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juli 2008 wird aufgehoben. Der Beschwerdegegner wird im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig unter dem Vorbehalt des Ausgangs der Hauptsache verpflichtet, den Beschwerdeführern für die Zeit von Juli 2008 bis Dezember 2008 unterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung anrechenbaren Einkommens oder Vermögens der Frau Dena Meier zu gewähren.

Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Gründe

1

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.

2

Das Sozialgericht (SG) Hannover hat es in seinem Beschluss vom 29. Juli 2008 zu Unrecht abgelehnt, den Beschwerdeführern in Anwendung von § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorläufigen Rechtsschutz in Gestalt einer einstweiligen Anordnung zu gewähren. Der Bescheid der Beschwerdegegnerin vom 23. Juni 2008, der seinem Wortlaut nach bewilligte unterhaltssichernde Leistungen entzieht, jedoch in Ermangelung einer Bekanntgabe des bewilligenden Bescheides vom 21. Mai 2008 als bloße Versagung auszulegen ist, ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfung rechtswidrig, weil den Beschwerdeführern ein Anspruch darauf zukommt, unterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB II zu erhalten, ohne dass das Einkommen und Vermögen der Mitbewohnerin Frau E. nach § 9 Abs. 1 SGB II berücksichtigt wird. Frau E. gehört nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der vorliegenden Beschwerdeentscheidung nicht der Bedarfsgemeinschaft der Beschwerdeführer an. Im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts ist insoweit zur Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer zu 1) und Frau F. keine "eheähnliche Gemeinschaft" im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b) SGB II in der bis 31. Juli 2006 geltenden Fassung und damit zugleich auch keine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c) SGB II in der insoweit ab 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes bilden (zur begrifflichen Kontinuität bei heterosexuellen Partnerschaften vgl. Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 Rdnr. 44 und 108).

3

Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der jeweilige Leistungsträger nach dem bis 31. Juli 2006 geltenden Recht die materielle Beweislast für das Vorliegen einer "eheähnlichen Gemeinschaft" getragen hat und seit der zum 1. August 2006 in Kraft getretenen Änderungen durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende (BGBl. I S. 1706) nunmehr die materielle Beweislast für das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft gem. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c) SGB II - bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen einer der neu eingeführten Vermutungsregeln nach § 7 Abs. 3 a SGB II - trägt und deshalb im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit auch grundsätzlich darlegungs- und glaubhaftmachungspflichtig ist (so auch Spellbrink, aaO., § 7 Rdnr. 50 u.H.a. LSG Baden-Württemberg; vgl. im Übrigen die amtliche Begründung zu dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende, BT-Drucks. 16/1410, S. 19, zu Nr. 7, Buchst. b), worin die neu eingeführten Vermutungsregeln des § 7 Abs. 3 a SGB II ausdrücklich im Sinne einer Umkehr der Beweislast verstanden werden).

4

Der Senat hat sich insoweit unter Berücksichtigung der Ergebnisse der vom Beschwerdegegner durchgeführten Ermittlungen, des Vortrags der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren beider Instanzen sowie des Ergebnisses des vom Berichterstatter durchgeführten Termins zur Erörterung und Beweisaufnahme am 12. November 2008 nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Beschwerdegegnerin das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft des Beschwerdeführers zu 1) mit Frau E. im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II mit hinreichenden Gründen annimmt und insoweit der ihm zufallenden Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast nachgekommen ist.

5

Die Beschwerdegegnerin kann sich bei der Darlegung einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zwischen dem Beschwerdeführer zu 1) und Frau F. zunächst nicht auf die Vermutungsregel in § 7 Abs. 3 a Nr. 2 SGB II berufen, da keine gemeinsamen Kinder vorhanden sind. Auch die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3 a Nr. 3 SGB II greift indessen nicht ein. Danach wird der wechselseitige Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, auch dann vermutet, wenn Partner im Haushalt Kinder oder Angehörige versorgen. Nicht anders als die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3 a Nr. 1 SGB II, mit deren Hilfe von einem mehr als einjährigen Zusammenleben von Partnern auf das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft geschlossen werden soll, bedarf auch die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3 a Nr. 3 SGB einer Auslegung, die einerseits berücksichtigt, dass die vom Gesetzgeber gewollte Beweiserleichterung für den Leistungsträger sich nur dann einstellt, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vermutung hinter der Reichweite ihrer Rechtsfolgen zurückbleiben, andererseits aber auch im Blick behält, dass eine gesetzliche Vermutung, die zur Anrechnung fremden Einkommens und Vermögens auf das grundrechtlich garantierte Existenzminimum führt, ohne Verfassungsverstoß nur dann aufgestellt werden kann, wenn ihre Voraussetzungen bei generalisierender Betrachtung objektiv geeignet sind, den Rückschluss auf die vermutete Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft sachlich zu begründen (vgl. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c) SGB II).

6

Ebenso wie sich danach die Anwendung von § 7 Abs. 3 a Nr. 1) SGB II auf Fälle eines qualifizierten, von gemeinsamer Haushaltsführung geprägten Zusammenlebens beschränken und die Angehörigen bloßer, beispielsweise studentischer Wohngemeinschaften von der Anforderung ausnehmen muss, sich von der bereits im Ansatz ungerechtfertigten Vermutung einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft zu entlasten (vgl. dazu Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 Rdnr. 45 f, der insoweit an der für alle Vermutungsregeln geltenden Tatbestandsvoraussetzung der Partnerschaft anknüpft), kann auch die Betreuung von Kindern und Angehörigen, welche der Gesetzgeber nach der amtlichen Begründung zu der Neufassung des § 7 SGB II (BT-Drs 16/1410, Seite 19) ohne weitere Differenzierung aus entsprechenden kurzen Wendungen in Entscheidungen des BSG vom 17. Oktober 2002 (Az. B 7 AL 96/00 R bzw. B 7 AL 72/00) entlehnt hat, nur auf Fallgestaltungen Anwendung finden, in welchen die Betreuung eines Angehörigen oder von Kindern durch die Partner so geartet ist, dass sie indizielle Bedeutung für das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft mit besonderer persönlicher Bindung im Sinne einer Partnerschaft gewinnt. Hierbei ist jedenfalls eine Abgrenzung von einer bloßen Zweckgemeinschaft erforderlich (vgl. dazu BVerfG, Urt. v. 17. November 1992, 1 BvL 8/87, BVerfGE 87, 234).

7

Auf die Gemeinschaft des Beschwerdeführers und der Frau F. findet hiernach die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3 a Nr. 3 SGB II keine Anwendung, ohne dass es insoweit einer abschließenden Festlegung ihres Anwendungsbereiches bedarf. Beide haben nämlich sowohl gegenüber der Beschwerdegegnerin wie auch gegenüber dem Senat übereinstimmend und ohne weiteres einleuchtend bekundet, dass sie sich nach dem Tod der Ehefrau des Beschwerdeführers, deren Freundin die geschiedene Frau F. gewesen sei, zusammengetan hätten, um als alleinerziehende Eltern zweier etwa gleichaltriger Söhne eine angemessene Betreuung der Kinder trotz ihrer jeweiligen Beschäftigung im Schichtdienst zu gewährleisten. Damit haben Frau F. und der Beschwerdeführer zu 1) eine Grundlage für ihre Gemeinschaft substantiiert dargelegt, die nicht zuletzt wegen des beiderseitigen praktischen Nutzens zweckgerichtete Züge trägt und allenfalls unter Hinzutreten zusätzlicher indizieller Umstände in Anwendung der allgemeinen Regeln des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c) SGB II als Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bewertet werden könnte.

8

Solche Umstände hat indessen weder die Beschwerdegegnerin bei dem unangemeldeten Hausbesuch ihres Außendienstes am 30. April 2008 ermitteln können noch sind sie anderweitig zutage getreten.

9

Der Außendienst der Beschwerdegegnerin hat vielmehr am 30. April 2008 im Wesentlichen nur solche Feststellungen getroffen, die die Annahme einer Einstehensgemeinschaft in Frage stellen, anstatt sie zu stützen. Er hat insoweit festgestellt, dass die Beschwerdeführer einerseits und Frau F. mit ihrem Sohn andererseits in dem 110 qm großen angemieteten Reihenhaus unterschiedliche Schlafetagen bewohnen, wobei dem Beschwerdeführer und seinem Sohn im ersten Geschoss jeweils ein eigener Raum zur Verfügung steht, der im Falle des Beschwerdeführers zu 1) mit einem Einzelbett, einem Kleiderschrank und einer Computeranlage ausgestattet ist. Eine gemeinsame Haushaltskasse wird nach den Feststellungen des Außendienstes nicht geführt. Der Beschwerdeführer zu 1) und Frau F. verfügen über getrennte Konten und haben keine Verfügungsvollmacht über das Konto des jeweils anderen. Gemeinsame Versicherungsverträge bestehen nicht, ebenso wenig gegenseitige Begünstigungen aus Lebensversicherungsverträgen. Gemeinsame Anschaffungen von Elektrogeräten und Einrichtungsgegenständen sind nicht getätigt worden. Der Beschwerdeführer zu 1) und Frau F. verfügen, wie vom Außendienst festgestellt, über eigene Telefonanschlüsse und besitzen eigene Geräte der Unterhaltungselektronik. Die Freizeit wird nicht gemeinsam gestaltet. Die vom Außendienst festgestellten Gemeinsamkeiten beschränken sich hiernach im Wesentlichen darauf, dass Lebensmittel gemeinsam eingekauft, zubereitet und verzehrt werden, neben den Individualräumen ein gemeinsam genutztes Wohnzimmer im Erdgeschoss zur Verfügung steht und der vorhandene PKW gemeinsam genutzt wird. Für eine Anwendung der Vermutungsregel des § 7 Abs. 3 Satz 3 Buchst. c) SGB II reichen diese Gemeinsamkeiten in der täglichen Haushaltsführung, die keinen wesentlichen Unterschied zu einer bloßen Wohngemeinschaft erkennen lassen, angesichts der im Übrigen festgestellten Trennung der privaten Lebensführung und der Führung getrennter Kassen und Konten nicht aus.

10

Soweit schließlich der Beschwerdeführer zu 1) und Frau G. r ihren Zusammenzug im Jahr 2000 seinerzeit mit dem gemeinsamen Kauf eines Eigenheims verbunden haben, rechtfertigt auch dieser - als solcher indizielle - Umstand die Annahme einer gegenwärtig bestehenden Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ebenfalls nicht. Abgesehen davon, dass beide glaubhaft und von der Beschwerdegegnerin unbestritten vorgetragen haben, dass sie in dem von ihnen gekauften Haus zwei getrennte Wohnungen mit eigenen Eingängen bewohnt, also seinerzeit nicht einmal eine Wohngemeinschaft unterhalten haben, lässt der inzwischen 8 Jahre zurückliegende gemeinsame Kauf eines Eigenheims zur Überzeugung des Gerichts unterdessen auch deshalb keine Schlüsse auf die rechtlich maßgebliche gegenwärtige Beziehung des Beschwerdeführers zu 1) zu Frau F. mehr zu, weil sich die damaligen Lebensumstände durch die Zwangsversteigerung des Eigenheims, die nachfolgenden Privatinsolvenzverfahren und das Heranwachsen der inzwischen fast volljährigen Söhne grundlegend gewandelt haben. Während Frau G. r als Zeugin glaubhaft bekundet hat, dass sie dem Beschwerdeführer zu 1) in der finanziell angespannten Lage der vergangenen Monate keine finanzielle Hilfe angeboten habe, weil sie selbst zusehen müsse, dass sie und ihr Sohn zurechtkämen, und dass sie sich wegen der Gefahr einer Zwangsräumung des Miethauses um eine andere Wohnung bemühe, hat der Beschwerdeführer zu 1) für das Gericht glaubhaft berichtet, er habe sich erst 2008 von einer Freundin getrennt, weil diese mit seinem Sohn nicht ausgekommen sei und er sich habe zwischen beiden entscheiden müssen. Für das Bestehen einer engen persönlichen Beziehung ergeben sich auch hiernach keine Anhaltspunkte.

11

Die Beschwerdegegnerin hat nach alledem das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft zwischen dem Beschwerdeführer zu 1) und Frau E. nicht substantiieren und glaubhaft machen können.

12

Der Senat hat die Wirkung der von ihm ausgesprochenen einstweiligen Anordnung auf den Zeitraum seit Beantragung der einstweiligen Anordnung am 1. Juli 2008 zu begrenzen. Für die Zukunft ist die einstweilige Regelung auf einen engen Zeitraum zu beschränken. Es erscheint gerechtfertigt, insoweit auf den regelmäßigen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II) abzustellen.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.

14

Der Beschluss ist in Anwendung von § 177 SGG unanfechtbar.