Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 31.08.2009, Az.: S 75 AS 1205/09 ER

Amtsermittlungspflicht; Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Aufklärung; Beibringung von Unterlagen; einstweilige Anordnung; einstweiliger Rechtsschutz; Ermessen; Folgenabwägung; Fristsetzung; Kontoauszug; Leistung der Grundsicherung; Mitwirkungspflicht; Offizialmaxime; Sicherung des Lebensunterhalts; Sozialstaatsprinzip

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
31.08.2009
Aktenzeichen
S 75 AS 1205/09 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 50501
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung vom 12. August 2009 an SGB II - Leistungen in Höhe von 546,96 € mtl. bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - längstens jedoch für sechs Monate - zu gewähren.

Außergerichtliche Kosten hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Gründe

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Dem Antragsteller wurden durch Bescheid vom 9. Januar 2009 Leistungen für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 2009 in Höhe von insgesamt 546,96 € - also 316,- € zur Sicherung des Lebensunterhalts und 230,96 € für Unterkunft und Heizung - bewilligt. Mit Bescheid vom 28. Juli 2009 wurden ihm diese Leistungen ab 1. August 2009 "ganz versagt", u.zw. mit der Begründung, "fehlende Unterlagen/Nachweise" seien trotzt Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vollständig vorgelegt worden. Daher sei aufgrund einer Ermessensentscheidung gem. §§ 60 und 66 SGB I die Versagung auszusprechen.

2

Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seinem Widerspruch vom 3. August 2009, zu dessen Begründung er vorträgt, es treffe nicht zu, dass er seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei: Er habe mehrfach um Fristverlängerungen gebeten, seine Einkommenssteuererklärung für 2006 vorgelegt und außerdem Angaben über sein voraussichtliches Einkommen gemacht. Die Bescheide des Finanzamtes x für die Jahre 2007 und 2008 - zugestellt am 30. Juli 2009 - habe er nicht eher vorlegen können.

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Zur Begründung seines am 12. August 2009 bei Gericht gestellten Antrages ergänzt und vertieft der Antragsteller seinen Standpunkt, er habe seine Mitwirkungspflichten erfüllt.

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Die Antragsgegnerin tritt dem Antrag unter Hinweis darauf entgegen, es fehlten Belege für den Ein- und Verkauf von Waren und es sei unklar, auf welche Weise der vom Antragsteller beabsichtigte Hauptschulabschluss finanziert werde. Schließlich würden noch Kontoauszüge der letzten drei Monate benötigt.

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Der Antrag ist gem. § 86 b Abs. 2 SGG zulässig und auch begründet.

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Der Antragsteller hat - im tenorierten Umfang - sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können.

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1. Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)). Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im summarischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) orientierten Folgenabwägung zu entscheiden. Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927ff). Vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 - :

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" Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88] <74>; 94, 166 <216>). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 <242 f.>)."

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2. Der Anordnungsanspruch zugunsten des Antragstellers ergibt sich hier daraus, dass dieser grundsätzlich einen Anspruch auf Regelleistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts hat (§ 20 SGB II), der gemäß den §§ 60, 66 SGB I im Wege des Ermessens nur dann - ausnahmsweise - eingeschränkt und versagt werden darf, wenn von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen ordnungsgemäß Gebrauch gemacht worden ist: Die Formulierung des Gesetzes (§ 66 SGB I) ist einschränkend dahin auszulegen, dass bei relativ geringen Anforderungen an das Aufklärungsverhalten des Leistungsträgers - unterhalb der Grenze des Erheblichen iSv § 66 Abs. 1 SGB I - die Leistung nicht etwa ohne eigene Ermittlungen versagt werden darf. Denn das wäre dann ermessensfehlerhaft (Voelzke in: jurisPK-SGB I, § 66 Rn. 17). Nur dann, wenn das Mitwirkungsdefizit mit einem "umfangreichen Einsatz von Verwaltungsmitteln zu beheben ist, z.B. Beschaffung von Urkunden, Zeugenvernehmungen" (Lilge, SGB I-Kommentar, 2. Aufl. 2009 § 66 Rn. 21 m.w.N.) usw., kann eine Leistung ganz entzogen werden. Ob das hier so liegt, ist offen. Im Übrigen vollzieht sich die Anwendung des § 66 SGB I in einem streng formalisierten Verfahren, "das unbedingt eingehalten werden muss (Lilge, a.a.O., Rn. 6). Schließlich muss der Leistungsträger sein Vorgehen im Einzelfall nach den Grundsätzen des § 39 SGB I treffen, insbesondere den Zweck der Ermächtigung zur Ermessensentscheidung einschließlich der einschlägigen Grundrechte (Art. 1 Abs. 1 GG nebst grundrechtsähnlichem Sozialstaatsprinzip, vgl. Lilge, a.a.O., § 39 Rn. 45, 46 m.w.N.) beachten. Der Hilfebedürftige hat bei alledem stets einen Rechtsanspruch auf pflichtgemäße Ermessensbetätigung, d.h. einen Anspruch darauf, dass die Leitlinien von Ermessensentscheidungen eingehalten werden - u.a. § 2 Abs. 2 SGB I (weitgehende Verwirklichung sozialer Rechte).

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Es bestehen hier erhebliche Bedenken daran, dass die Antragsgegnerin diese Grundsätze bei ihrer Ermessensentscheidung hinreichend beachtet hat.

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Zunächst ist zweifelhaft, ob das auf dem Hintergrund des einzuhaltenden Amtsermittlungsgrundsatzes streng formalisierte Verfahren des § 66 Abs. 3 SGB I eingehalten worden ist, u.zw. vor allem auch hinsichtlich des angesprochenen Hauptschulabschlusses und seiner Finanzierung. Neben einem schriftlichen - unmissverständlichen, auf den jeweiligen Fall bezogenen - Hinweis auf die Folgen der Verletzung von Mitwirkungspflichten (mit Bezeichnung der beabsichtigten Entscheidung) ist stets eine sachangemessene Frist für das Befolgen der Mitwirkung zu setzen, innerhalb derer der Leistungsberechtigte seinen Pflichten nicht nachgekommen sein darf. Da es sich nicht um eine Ausschlussfrist handelt, ist eine sachgerechte Verlängerung der Frist jederzeit möglich und in Betracht zu ziehen. Da der Antragsteller nach seinem Vortrag bislang die ihm zugänglichen Unterlagen, u.a. die Bescheide des Finanzamtes für die Jahre für Jahre 2007 und 2008, so bald ihm das möglich war, der Antragsgegnerin vorgelegt hat, der Antragsteller zudem seinen Antrag auf Weiterbewilligung ausgefüllt und eine Inventurliste eingereicht hat, ist die weitere Forderung der Vorlage von Kontoauszügen für 3 Monate unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht unbedingt nachvollziehbar (vgl. dazu SG Freiburg, Beschluss vom 12.10.2005 - S 4 AS 4006/05 ER -) und möglicherweise ermessenmissbräuchlich.

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Daneben ist die Begründung der Ermessensausübung im Bescheid vom 28. Juli 2009 einseitig ausgefallen und nicht von den gesetzlichen - auch grundgesetzlichen - Zwecken geprägt, so wie das Art. 20 GG vorgibt ("sozialer Bundesstaat"): Die Antragsgegnerin ist nach dem Sozialstaatsprinzip einer Solidargemeinschaft keineswegs nur verpflichtet, "wirtschaftlich zu handeln" und "nur bei nachgewiesener Hilfebedürftigkeit und in rechtmäßiger Höhe Leistungen zu erbringen" (Bescheid v. 28.7.2009), sondern sie hat bei ihrer Ermessensentscheidung, Leistungen gänzlich zu versagen, die sozialen Rechte in den Entscheidungsprozess einzubeziehen und ihrem Inhalt in der Ermessensentscheidung (als Produkt des durch § 2 Abs. 2 SGB I gesteuerten Prozesses) gebührend Rechnung zu tragen. Aus der Begründung des Bescheides ist das nicht herleitbar.

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3. Dies zugrunde gelegt, ist eine Folgenabwägungsentscheidung zu treffen, weil eine abschließende Klärung der tatsächlichen Umstände im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich ist. Diese geht Gunsten des Antragstellers aus. Mit der begehrten Leistung wird nämlich das verfassungsrechtlich gewährleistete „soziokulturelle Existenzminimum" abgesichert. Dem Hilfeempfänger muss es möglich sein, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Für die Abwägungsentscheidung bedeutet dies, dass der Antragsteller eine auf dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) beruhende Position für sich reklamieren kann. Demgegenüber hat das Interesse der Antragsgegnerin daran, dass finanzielle Mittel den gesetzlichen Regelungen - jedoch einschließlich der Grundrechte - entsprechend verwendet werden dürfen, zurückzutreten. Es geht für den Antragsteller um die Befriedigung existenzieller, vom Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG) anerkannter Bedürfnisse in einer Solidargemeinschaft. Hierbei geht die Kammer davon aus, dass die vorenthaltenen SGB II-Leistungen zu den existenziellen Ansprüchen des Antragstellers zählen und somit auch ein Anordnungsgrund gegeben ist (vgl. dazu auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13. Mai 2008, - L 9 AS 119/08 ER).

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG und entspricht dem Ergebnis der Hauptsache. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben.