Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 23.04.2009, Az.: S 81 AS 531/09 ER
atypischer Fall; Ausschöpfen von Selbsthilfemöglichkeiten ; Darlehen; darlehensweise Bewilligung; drohende Wohnungslosigkeit; einstweilige Anordnung; einstweiliger Rechtsschutz; Energiekostenrückstand; Ermessen; Kind; Minderjährige; minderjähriges Kind; Selbsthilfe; Selbsthilfemöglichkeit; sozialwidriges Verhalten; Stromkostennachforderung; Stromschulden; unwirtschaftliches Verhalten; Ursache der Schulden; Verbrauchsverhalten; Zahlungsrückstand
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 23.04.2009
- Aktenzeichen
- S 81 AS 531/09 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 50459
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs 2 SGG
- § 22 Abs 5 SGB 2
- Art 6 GG
Tenor:
Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern ein Darlehen in Höhe von 945,08 € zur sofortigen Tilgung der bei der I. Energie GmbH entstandenen Energiekostenrückstände zu gewähren, und zwar durch Überweisung unmittelbar an den genannten Energieversorger.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Gründe
Die Antragsteller erstreben vorläufigen Rechtsschutz hinsichtlich einer - seitens der I. Energie GmbH angekündigten - Liefersperre wegen Zahlungsrückständen.
Sie bewohnen ein Eigenheim in J. mit einer Größe von 125 qm (tatsächliche Kosten: 999,04 €) und erhalten Leistungen zum Lebensunterhalt von derzeit - April 2009 - 911,08 €. Mit der Jahresabrechnung vom 4. Februar 2009 war den Antragstellern von der I. Energie GmbH - unter Einbeziehung laufender Abschlagsforderungen ein Gesamtrückstand von 1.095,08 € in Rechnung gestellt worden, der bis zum 20. Februar 2009 zu begleichen war. Ende Februar und Mitte März 2009 mahnte das gen. Versorgungsunternehmen die Zahlung unter Androhung einer Liefersperre an. Hierauf stellten die Antragsteller beim Antragsgegner einen Darlehensantrag zwecks Übernahme der Nachzahlungsforderung. Zeitgleich verhandelten sie mit dem Versorgungsunternehmen über Ratenzahlungen, die jedoch wegen Bedürftigkeit der Antragsteller nicht zustande kamen. Während des gerichtlichen Verfahrens erklärte das Versorgungsunternehmen sich dann angesichts seiner Sperrandrohung vom 2. April 2009 bereit, einen Zahlungsaufschub von drei Wochen zu gewähren und die Sperre zunächst zu widerrufen. Unter dem 9. April 2009 erging ein Anhörungsschreiben des Antragsgegners mit Hinweisen auf die Wohnungsgröße und die Heizkosten.
Die Antragsteller haben am 8. April 2009 um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht, u. zw. mit der Begründung, die Bedarfsgemeinschaft sei nicht in der Lage, die aufgelaufenen Rückstände zu bezahlen - auch nicht in Raten von 190,- € mtl. Vom Antragsgegner seien sie immer wieder "vertröstet" worden, obgleich sie die Sperrandrohung vom 2. April 2009 vorgelegt hätten. Somit lägen Anordnungsgrund und -anspruch vor.
Der Antragsgegner tritt dem Antrag unter Hinweis darauf entgegen, dass die Antragsteller eine unangemessen große Wohnung bewohnten, da hier nur eine solche von 95 qm mit Kosten von 687,50 € in Betracht komme. Für diese unangemessene Wohnung entstünden dann auch überhöhte Heizkosten, die vom Antragsgegner nicht zu übernehmen seien. Die Unterkunft sei nicht erhaltenswürdig. Es sei nicht gerechtfertigt, die zu teuere Wohnung aus Steuermittel zu finanzieren. Somit bestünde auch kein Anspruch auf Übernahme der Energieschulden gem. § 22 Abs. 5 SGB II, der zudem auf eine "Aushöhlung" der Grundnorm des § 22 Abs. 1 SGB II hinausliefe, demgemäß nur die angemessenen Kosten der Unterkunft zu übernehmen seien. Es komme allenfalls eine Nachzahlung für Heizkosten von 143,81 € in Betracht, die direkt an die I. Energie GmbH ausgezahlt werde.
Der Antrag hat Erfolg.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis einstweilige Anordnungen erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile "nötig" erscheint. Das ist hier unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 GG der Fall.
Steht dem Antragsteller ein geltend gemachter Anspruch zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens noch abzuwarten, so hat der Antragsteller Anspruch auf die begehrte Leistung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes - bei Unüberschaubarkeit der Sach- und Rechtslage aufgrund einer Folgenabwägung (LSG Nds.-Bremen, Beschl. v. 2.10.2008 - L 7 AS 463/08 ER - ; BVerfG NVwZ 2005, 927 f. [BVerfG 12.05.2005 - 1 BvR 569/05]).
Ein Anordnungsanspruch ergibt sich hier aus § 22 Abs. 5 SGB II. Er ist glaubhaft gemacht, wenn das Gericht aufgrund einer vorläufigen, summarischen Prüfung, für die der Sachverhalt unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit des Rechtsschutzbegehrens von Amts wegen zu klären ist, zu der Überzeugung gelangt, dass eine Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass den Antragstellern ein Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung zusteht und sie deshalb in einem Hauptsacheverfahren mit dem gleichen Begehren - soweit schon überschaubar - voraussichtlich Erfolg haben würden. Das ist hier der Fall.
Nach § 22 Abs. 5 SGB II können nämlich, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Energiekostenrückstände übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen gem. § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II regelmäßig übernommen werden, wenn das gerechtfertigt und notwendig ist und andernfalls Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Hierunter fällt auch die Übernahme von Energiekostenrückständen (vgl. Berlit in LPK - SGB II, Rdnr. 116 zu § 22).
Vgl. dazu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 12.12.2008 - L 7 B 384/08 AS - :
"Die Antragsteller haben bezüglich der Stromkostennachforderung einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Anspruch der Antragsteller auf Gewährung eines Darlehns bezüglich der Stromkostennachforderung der S AG vom 10.06.2008 in Höhe von 878,32 Euro für den Zeitraum vom 25.05.2007 bis 27.05.2008 ergibt sich aus § 22 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Danach können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden. Mit der in § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II genannten Behebung einer vergleichbaren Notlage sind solche Konstellationen angesprochen, die mit der Gefährdung der Sicherung der Unterkunft vergleichbar sind. Insbesondere in Form von Energiekostenrückständen kommt eine Behebung einer der drohenden Wohnungslosigkeit vergleichbaren Notlage in Betracht. Weiterhin können auch Kosten, die in der Regelleistung enthalten sind, insbesondere Stromschulden, eine vergleichbare Notlage auslösen. Dies gilt vor allem dann, wenn eine andere Entscheidung dazu führen würde, dass die Wohnung unbewohnbar würde (vgl. Lang/Link in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Auflage 2008, § 22 Rn. 105/106)."
Die bei der Ermessensentscheidung im Rahmen einer umfassenden Gesamtschau der Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigenden Umstände, wie Höhe der Rückstände, ihre Ursachen, die Zusammensetzung des von der eventuellen Energiesperre bedrohten Personenkreises und die Möglichkeiten sowie die Zumutbarkeit einer anderweitigen Energieversorgung, das in der Vergangenheit gezeigte Verhalten, insbesondere Bemühungen, das Verbrauchsverhalten einzuschränken bzw. angemessen anzupassen und ein Selbsthilfewillen (vgl. hierzu Berlit LPK - SGB II Rdnr. 118 zu § 22 SGB II) können im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes noch nicht derart umfassend wie in einem Verfahren der Hauptsache geprüft und geklärt werden, da sie sich regelmäßig nicht vollständig den Verwaltungsakten entnehmen lassen. Auch die Frage der Angemessenheit der Wohnung und der Heizkosten ist in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zurückzustellen.
Ein sozialwidriges, unwirtschaftliches und die Möglichkeiten der Selbsthilfe ignorierendes Verhalten, welches das Ermessen der Antragsgegnerin prägen könnte, kommt hier nicht in Betracht (vgl. SG Hannover v. 19.12.2005 - S 51 SO 741/05 ER). Vielmehr ist es so, dass die Antragsteller die Abschläge für Februar und März 2009 gezahlt und sich im Übrigen um eine Ratenzahlung bei der I. Energie GmbH bemüht haben. Außerdem wurde ihnen vom Antragsgegner mit Schreiben vom 9. April 2009 eine Kostensenkung gem. § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II erst zum 31. Oktober 2009 auferlegt, also für einen weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt. Der den Antragstellern vom Antragsgegner angesonnene Auszug aus dem selbst genutzten Hausgrundstück, das offenbar gem. § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II verwertungsgeschützt ist (vgl. Anhörungsschreiben vom 9.4.2009), dürfte - soweit ersichtlich - nicht in Betracht kommen, da für den Fall der Unangemessenheit des Grundstücks und des Hauses, sollte sich diese überhaupt nachweisen lassen, zunächst eine Beleihung oder ggf. auch eine Vermietung abteilbarer Wohneinheiten in Erwägung zu ziehen ist (Brühl in LPK-SGB II, § 12 Rdn. 44 f m.w.N.).
Ein sozialwidriges, unwirtschaftliches Verhalten der Antragsteller hat hier somit außer Betracht zu bleiben - zumal es vom Träger der Leistung nachzuweisen wäre (LSG Nds.-Bremen, Beschl. v. 2.10.2008 - L 7 AS 463/08 ER - ). Derartige Fragen sind letztlich aber auch dem Verfahren der Hauptsache vorzubehalten. Vgl. dazu LSG Nordrhein-Westf. v. 12.12.2008 - L 7 B 384/08 AS - :
"Ob das Auflaufen der Stromschulden und der damit verbundenen drohenden Stromsperrung, wie die Antragsgegnerin im Schreiben vom 26.09.2008 ausgeführt hat, dadurch verursacht worden ist, dass die Antragsteller trotz wiederholter und eindeutiger Hinweise einer Begleichung ihrer eigenen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen sind und sich die Antragsteller ein sozialwidriges Verhalten vorhalten müssen, so dass eine Übernahme der Schulden als Darlehn nicht gerechtfertigt ist, muss unter Berücksichtigung der existentiellen Bedeutung des Wohnraums dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Dort ist auch abzuklären, ob die Antragsteller ihre Selbsthilfemöglichkeiten nicht ausschöpfen."
Im vorliegenden Fall ist das Ermessen der Antragsgegnerin daher auf die Gewährung des im Tenor genannten Darlehens reduziert: Denn das Ermessen des Leistungsträgers nach § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II ist - jedenfalls soweit Wohnungslosigkeit bzw. eine der Wohnungslosigkeit doch sehr nahe kommende Notlage durch Verlust der Energieversorgung droht - unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen dahingehend sehr stark eingeschränkt, dass der Leistungsträger in der Regel auch entsprechende Energiekostenrückstände zu übernehmen hat und lediglich in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon noch abweichen kann (vgl. Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 11.12.2007 - L 28 B 2169/07 AS ER - vgl. JURIS). Eine Differenzierung zwischen einmaligen und laufenden Leistungen erfolgt jedenfalls nicht, auch Nachzahlungen für abgelaufene Heizperioden - wie hier - werden erfasst. Eine erhebliche Einschränkung des behördlichen Ermessens ergibt sich hier zusätzlich daraus, dass zur Bedarfsgemeinschaft minderjährige Mitglieder (die Antragsteller zu 3 und 4) zählen, die besonders schutzbedürftig sind (Art. 6 GG, vgl. den o.g. Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 11.12.2007). Weitere Anhaltspunkte für einen etwa zu Lasten des Antragstellers anzunehmenden atypischen Fall liegen nicht vor und sind für das Gericht nicht ersichtlich.
Soweit es um eine Nachzahlung von Stromkosten geht, ist der Antragsgegner unter Beachtung des Gebotes eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie des Folgenabwägungsgebotes auch insoweit in vollem Umfange zu verpflichten, u.zw. in Höhe des derzeit bestehenden Zahlungsrückstandes. Denn dieser ist der maßgebliche Grund für die drohende Liefersperre. Insoweit ist von der telefonischen Auskunft der SVO Energie GmbH an das Gericht vom 23. April 2009 auszugehen, dass aktuell noch ein Rückstand von 945,08 € bestehe (einschließlich Mahnkosten von 3,- €). Dieser Betrag ist daher vom Antragsgegner darlehensweise zu zahlen. Denn es geht derzeit - unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebotes eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) - zunächst einmal darum, die angekündigte Liefersperre durch Zahlung der von der I. Energie GmbH in Rechnung gestellten Zahlungsrückstände zu unterbinden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.