Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.06.2009, Az.: L 7 AS 456/09 B ER
Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Regelungsanordnung bzgl. Unterkunftskosten und Heizungskosten i.S.d. § 22 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei unmittelbar bevorstehender Wohnungslosigkeit oder Vorliegen einer vergleichbaren Notlage; Verweisung des Antragstellers auf die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens trotz grundsätzlich anzunehmendem Anordnungsgrund bei Vorliegen des § 22 Abs. 1 SGB II
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 23.06.2009
- Aktenzeichen
- L 7 AS 456/09 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 17758
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2009:0623.L7AS456.09B.ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 27.03.2009 - AZ: S 43 AS 430/09 ER
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 1 SGB II
- § 22 Abs. 5 SGB II
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 172 SGG
- § 173 SGG
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 27. März 2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zwecks Durchführung des Beschwerdeverfahrens wird abgelehnt.
Gründe
I.
Die 1976 geborene Antragstellerin zu 1) lebt mit ihren 2002 und 2004 geborenen Kindern, den Antragstellern zu 2) und 3) im Haus ihrer Eltern. Sie erhalten laufend vom Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Streitig ist es, ob auch die Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen werden müssen.
Die Antragsteller bewohnen nach eigenen Angaben seit Juni 2005 eine eigene Wohnung im Kellergeschoss. Unter dem 19. Mai 2005 wurde mit dem Vater der Antragstellerin zu 1) ein Mietvertrag über eine Dreizimmerwohnung mit einer Wohnfläche von 67 m² und einer Grundmiete von 335,- Euro nebst Vorauszahlung für Betriebskosten von 150,- Euro monatlich abgeschlossen. Nachdem der Antragsgegner die Höhe dieser Kosten beanstandet hatte, passten die Vertragsparteien am 16. Dezember 2005 den Mietvertrag an die Vorgaben des Antragsgegners über Gesamtkosten von 450,- Euro monatlich an. Daraufhin bewilligte der Antragsgegner auf dieser Basis fortlaufend die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II. Diese Leistung wurde zum Januar 2008 eingestellt, nachdem der Antragsgegner anlässlich eines Hausbesuches am 29.01.2008 zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Kellerwohnung unbewohnbar sei und die Antragsteller deshalb keine eigene Wohnung im Haus ihrer Eltern bewohnten. Im anschließenden Eil-Rechtsschutzverfahren führte das Sozialgericht mit den Beteiligten einen Erörterungstermin vor Ort durch, wobei die Wohnung besichtigt und mit einer Wohnfläche von 90,68 m² nachgemessen wurde. Wegen bauordnungswidriger Zustände lehnte der Antragsgegner weiterhin die Erstattung der Unterkunftskosten ab. Mit Beschluss vom 30. Juni 2008 verpflichtete das Sozialgericht Hildesheim (S 45 AS 827/08 ER) den Antragsgegner zur vorläufigen Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 479,72 Euro monatlich für die Monate Mai bis September 2008.
Ab November 2008 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern nur laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, nicht jedoch die Kosten der Erstattung für Unterkunft und Heizung, weil nach seiner Auffassung keine Abgeschlossenheit der benutzten Bereiche im Keller des Einfamilienhauses der Eltern bzw. Großeltern der Antragsteller vorliege. Am 9. März 2009 stellten die Antragsteller beim Sozialgericht einen neuen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und Verpflichtung des Antragsgegners zur Erstattung von monatlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 479,72 Euro. Sie haben darauf verwiesen, dass der Vermieter am 20. März 2009 das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos gekündigt habe.
Das Sozialgericht Hildesheim hat mit Beschluss vom 27. März 2009 den Antrag abgelehnt. In den Gründen hat es ausgeführt, dass nach senatsübergreifender Rechtsprechung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen der Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung bezüglich Kosten der Unterkunft und Heizung nur in Betracht komme, wenn unmittelbare Konsequenzen für die Beibehaltung der Wohnung, z.B. bevorstehende Wohnungslosigkeit oder eine vergleichbare Notlage, drohen würden. Derartige Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Der Vater der Antragstellerin zu 1) habe nur zum Schein die Kündigung ausgesprochen. Im Übrigen halte das behauptete Mietverhältnis mit dem Vater einem sogenannten Fremdvergleich nicht stand.
Gegen diesen Beschluss haben die Antragsteller am 17.04.2009 Beschwerde eingelegt. Sie tragen vor, auf einen Fremdvergleich komme es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht an. Es liege ein rechtlich wirksamer Mietvertrag vor über eine abgeschlossene Wohnung im Untergeschoss, die zwischenzeitlich wesentlich renoviert worden sei. Die Räumlichkeiten im Keller seien früher durch den Vater als Büro benutzt worden. Hierfür habe eine Genehmigung für die Nutzungsänderung einschließlich einer Ausnahmebewilligung zur Arbeitsstättenverordnung vorgelegen.
Demgegenüber erwidert der Antragsgegner, dass nach seiner Auffassung der Kellerbereich nach wie vor nicht zum dauerhaften Wohnen zugelassen worden sei. Die Unterhaltung bauordnungswidriger Zustände könne nicht durch die Gewährung staatlicher Leistungen gefördert werden.
II.
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragsteller ist unbegründet. Das Sozialgericht hat im Ergebnis zutreffend den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Denn die Voraussetzungen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG, die vom Sozialgericht ausführlich dargelegt worden sind und an dieser Stelle nicht wiederholt werden müssen (§ 153 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Die Antragsteller haben nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ohne die begehrte einstweilige Regelung ihnen aktuell und unmittelbar spürbare Nachteile drohen und deshalb das Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren unzumutbar ist. Es fehlt also an dem Anordnungsgrund.
Der Senat teilt nicht die Auffassung, dass der Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung bezüglich Leistungen der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn Wohnungslosigkeit unmittelbar bevorstehe oder eine vergleichbare Notlage vorliege. Es ist nämlich nicht ersichtlich, was die Anspruchsvoraussetzungen für die Übernahme von Mietschulden gemäß § 22 Abs. 5 SGB II mit der Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums durch Gewährung von Arbeitslosengeld II, zu dem gemäß § 19 Satz 1 auch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung gehören, zu tun haben. Vielmehr ist beim Streit um Arbeitslosengeld II in aller Regel ohne Weiteres ein Anordnungsgrund zu bejahen, weil gerade diese Leistung dazu bestimmt ist, den Lebensunterhalt und ein menschenwürdiges Wohnen zu gewährleisten (ständige Rechtsprechung des Senates). Es stellt einen schwerwiegenden Wertungswiderspruch dar, wenn ein Gericht von einem Bürger, der Rechtsschutz gegen eine rechtswidrige Behördenentscheidung ersucht, verlangt, er solle sich davor gegenüber einem Dritten vertragswidrig verhalten und zunächst nicht vollständig die Miete zahlen oder eine Kündigung des Mietverhältnisses provozieren und abwarten. Dadurch werden nicht nur die Anforderungen an den Anordnungsgrund überspannt, sondern im Ergebnis Rechtsschutz verweigert. Wenn nach der abweichenden Auffassung zunächst die Kündigung des Mietverhältnisses als Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgewartet werden muss, können die erst für die Zeit ab Antragstellung beim Sozialgericht zugesprochenen Kosten für Unterkunft keinen effektiven Rechtsschutz mehr gewährleisten. Denn die Kündigung des Vermieters und der davor durch die rechtswidrige Verwaltungspraxis verursachte Zahlungsverzug bleiben bestehen mit der Folge, dass gleichwohl Wohnungslosigkeit eintreten kann. Man könnte im Gegenteil eher die Auffassung vertreten, dass nach Ausspruch einer Wohnraumkündigung keine Eilbedürftigkeit für danach entstehende Unterkunftskosten bestehe, wenn nicht sichergestellt sei, dass gleichzeitig auch die Mietschulden übernommen werden, so dass der Vermieter aus der ausgesprochenen Kündigung keine Rechte mehr herleiten kann. Um diese unerträglichen Verwerfungen zu vermeiden, geht der Senat davon aus, dass die Sozialleistung Arbeitslosengeld II in der Regel eilbedürftig ist, wenn dem Rechtsuchenden keine anderen zumutbaren Abhilfemöglichkeiten zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes und des menschenwürdigen Wohnens zur Verfügung stehen.
Von diesem Regelfall ist aber an die Anforderung der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes eine Ausnahme in den Fällen zu machen, in denen ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung aktuell und auch in Zukunft keine spürbaren Nachteile zu befürchten sind, so dass die Antragsteller auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens verwiesen werden können. Das gilt im Bereich der Kosten für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II z.B. wenn ein Mietverhältnis unter engsten Familienangehörigen besteht und schon deswegen nicht zu befürchten ist, dass der fehlende Eilrechtsschutz zu Konsequenzen führen könnte. So verhält es sich hier. Nach umfassender Bewertung aller Umstände ist der Senat überzeugt, dass die Antragsteller zur Sicherung ihrer eigenen Rechtsposition nicht auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung angewiesen sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Antragsteller bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren im Hause des Vaters bzw. des Großvaters wohnen bleiben können.
Mangels anderer Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Antragsteller auch vor Juni 2005 in diesem Haus zusammen mit den Eltern/Großeltern gewohnt haben, ohne dafür einen Mietzins zahlen zu müssen. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Vater der Antragstellerin zu 1) diese und ihre Kinder auf die Straße setzen würde, wenn die Miete nicht durch Transferleistungen drittfinanziert wäre, obwohl im Haus Wohnraum vorhanden ist, der nicht an Familienfremde vermietet werden kann. Der Mietvertrag ist für die Belange der Antragstellung nach dem SGB II gefertigt und später angepasst worden, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die Kellerwohnung noch nicht renoviert und auch nicht durch die Antragsteller bewohnt war. Ob die Miete tatsächlich ab Juni 2005 gezahlt wurde, ist nicht belegt worden. Dass der Mietvertrag nicht die Wohnverhältnisse der Antragsteller im Hause der Eltern bzw. Großeltern abschließend regeln wollte, zeigt sich ferner darin, dass die vermietete Wohnfläche unzutreffend angegeben wurde. Der Vater der Antragstellerin zu 1) hat immer nur auf Einwände des Antragsgegners reagiert (Anpassung der Miethöhe, Mahnungen wegen ausstehender Miete und Kündigung). Es ist nach der hier gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass eine Zwangsräumung bis zum Abschluss des Klageverfahrens nicht zu befürchten ist. Das verbietet sich schon aus der sittlichen Verpflichtung des Vermieters gegenüber seiner Tochter und deren Kindern. Vielmehr liegt es in seinem Interesse, die Antragsteller in der Kellerwohnung zu dulden. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass diese Wohnung nicht an Familienfremde vermietet werden kann. Sie hat keinen abgeschlossenen Zugang, sondern ist nur über den gemeinsamen Flur und dem zur Erdgeschosswohnung gehörenden Treppenhaus zu erreichen. Um die anderen Räume im Keller zu benutzen, muss der Vermieter durch diese Kellerwohnung gehen. Schließlich hat der Vermieter ein eigenes wirtschaftliches Interesse daran, dass die Antragsteller bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren in der Wohnung bleiben. Dadurch bleibt die Chance der Realisierung des Mietzinses durch die Gewährung von SGB II-Leistung im Hauptsacheverfahren für eine auf dem Wohnungsmarkt sonst nicht verwertbare Wohnung gewahrt. Der Senat teilt deshalb nach Würdigung dieser Gesamtumstände die Bewertung des Sozialgerichts, dass die vom Vermieter ausgesprochene Kündigung des Mietverhältnisses nur zum Schein erfolgt ist. Daraus drohen für die Antragsteller keine sonst nicht abwendbaren Nachteile. Jedenfalls sind diese Nachteile nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden. Den Antragstellern ist deshalb zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zwecks Durchführung des Beschwerdeverfahrens ist wegen mangelnder Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung).
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).