Sozialgericht Stade
Urt. v. 10.06.2009, Az.: S 21 VG 30/04
Auschluss der Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund einer Mitverursachung durch das Opfer
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 10.06.2009
- Aktenzeichen
- S 21 VG 30/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 21041
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2009:0610.S21VG30.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 54 Abs. 2 SGG
- § 1 Abs. 1 OEG
- § 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 2. OEG
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 16. Februar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2004 verpflichtet, dem Kläger nach Maßgabe seines Antrags vom 19. Juni 2002 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) für den Kläger aufgrund von Mitverursachung gemäß § 2 Abs. 1 OEG ausgeschlossen sind oder nicht.
Der Kläger, geboren im Juli 1980, wurde am 21. April 2002 um 1.00 Uhr nachts in eine Schlägerei verwickelt und in diesem Rahmen Opfer eines vorsätzlichen rechtwidrigen Angriffs. Der Kläger hatte mit seinem Bruder ein Lokal in G. betreten und sich dort zu Bekannten an einen Tisch gesetzt. An diesem Tisch saß auch der Herr H ... Der Kläger und Herr H. waren sich bereits langjährig bekannt und hatten ein schwieriges Verhältnis. Beide gerieten zunächst verbal aneinander, später eskalierte die Auseinandersetzung. Es kam zu einer Rangelei im Lokal, wobei es dem Kläger gelang, sich auf den Herrn H. zu setzen. Während der Auseinandersetzung stürzte der Tisch um, wobei einige Gläser zerbrachen. Der Wirt des Lokals veranlasste den Kläger und seinen Bruder zum Verlassen des Lokals. Der Kläger und sein Bruder standen noch vor dem Lokal, als der Herr H. ihnen folgte, wobei er ein abgebrochenes Bierglas aus dem Lokal mit sich nahm. Vor dem Lokal griff der Herr H. den Kläger ohne weitere Vorankündigung an und schlug ihm mit dem abgebrochenen Glas ins Gesicht. Anschließend flüchtete er. Der Kläger erlitt eine dauerhafte erhebliche Beeinträchtigung seiner Sehkraft am rechten Auge.
Das Amtsgericht G., Abteilung für Jugendstrafsachen, verurteilte Herrn H. durch Urteil vom 31. März 2003 -22 Ls 125 Js 13062/02- wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Das Gericht hatte im Rahmen der mündlichen Verhandlung neben dem Angeklagten auch den Kläger und dessen Bruder, den Wirt, vier im Lokal anwesende Personen sowie drei im weiteren Verlauf beteiligte Polizisten als Zeugen vernommen sowie einen Suchtberater gehört. Zu den Einzelheiten der Zeugenaussagen wird auf das Sitzungsprotokoll der Verhandlungen des Amtsgerichts G. vom 27. März 2003 und 31. März 2003 und die diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen verwiesen.
Am 19. Juni 2002 stellte der Kläger beim zuständigen Versorgungsamt Verden einen Antrag auf Gewährung von Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 16. Februar 2004 mit der Begründung ab, dass zwar ein rechtswidriger Angriff vorgelegen habe, der Kläger die Schädigung jedoch wesentlich mit verursacht habe. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos und wurde vom Beklagten durch Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2004 zurückgewiesen. Am 18. August 2004 hat der Kläger Klage erhoben.
Zur Begründung der Klage trägt er vor, der Angriff des Herrn H. mit dem angebrochenen Glas sei für ihn völlig unerwartet und nicht vorhersehbar gewesen. Er habe mit seinem Bruder vor der Tür des Lokals gestanden und überlegt, wie die Nacht weiter verbracht werden sollte. Die Auseinandersetzung im Lokal zuvor habe sich auf Schubsen und Wortgefechte beschränkt.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16. Februar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2004 zu verpflichten, dem Kläger Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz nach Maßgabe seines Antrags vom 19. Juni 2002 zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er weist darauf hin, dass dem Kläger bekannt gewesen sei, dass der Herr H. ein stadtbekannter Schläger sei. Man habe sich bereits aus Schulzeiten gekannt und sei in der Vergangenheit schon öfter in Auseinandersetzungen und Hänseleien geraten. Die Auseinandersetzung im Lokal sei vom Kläger provoziert worden. Er habe erkennen können und müssen, dass die Schlägerei vor dem Lokal eine Fortsetzung finden würde, wenn er sich dort weiter aufhalte.
Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Akte der Staatsanwaltschaft Stade, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 10. Juni 2009 waren, Bezug genommen. Das erkennende Gericht hat das Sitzungsprotokoll des Amtsgerichts G. vom 27. März und 31. März 2003 sowie das Strafurteil des Amtsgerichts G. vom 31. März 2003 und Niederschriften der ursprünglichen Aussagen der Zeugen im Rahmen des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens in den Wochen nach der Tat zur Aufklärung des Sachverhalts herbeigezogen. Eine eigenständige Vernehmung der Zeugen erfolgte nicht, da aufgrund des langen Zeitverlaufs seit dem schädigenden Ereignis keine weiteren, über die schriftlich vorliegenden Äußerungen der Zeugen hinausgehenden Erkenntnisse zum Sachverhalt zu erwarten waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Klage hat Erfolg.
Die ablehnende Entscheidung des Beklagten über den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem OEG erweist sich als rechtswidrig und beschwert daher den Kläger, § 54 Abs. 2 SGG. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Diese sind nicht durch Mitverursachung des Klägers ausgeschlossen.
Gem § 1 Abs. 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlich und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Gem § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind die Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
Die Voraussetzungen für eine Gewährung von Leistungen nach dem OEG gem § 1 Abs. 1 OEG sind im Falle des Klägers unstreitig erfüllt. Der Kläger war Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs des Herrn H. und hat dadurch eine gesundheitliche Schädigung erlitten.
Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten sind die Leistungen nicht gem § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen Mitverursachung des Klägers zu versagen. Obwohl der Kläger die Auseinandersetzung im Lokal provoziert hat, kann ihm keine Mitverursachung in Bezug auf den konkreten tätlichen Angriff mit dem abgebrochenen Glas vor dem Lokal vorgehalten werden.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts liegt eine Mitverursachung durch den Geschädigten i.S. des § 1 Abs. 1 OEG dann vor, wenn dieser sich leichtfertig der für ihn subjektiv erkennbaren Gefahr ausgesetzt hat. Dabei ist auf die subjektive Erkenntnisfähigkeit des Opfers hinsichtlich der konkreten Gefährdung abzustellen (vgl BSG, Urteile vom 21. Oktober 1998 -B 9 VG 2/97 R-, -B 9 VG 6/97 R- und -B 9 VG 8/97 R-). Hinsichtlich der subjektiven Erkennbarkeit der konkreten Gefahr kommt es nicht darauf an, dass der Betroffene grundsätzlich mit einer Abwehr zu rechnen hat. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob der Betroffene mit der konkreten Art des Angriffs rechnen musste, wobei dabei nicht nur der Unterschied zwischen Körperverletzung und Tötung maßgeblich ist, sondern bereits der Unterschied zwischen einfacher und schwerer Körperverletzung z.B. mit einer Waffe (Landessozialgericht Bremen , Urteil vom 19. Oktober 2000 -L 3 VG 20/98-).
Es war für den Kläger nicht vorhersehbar, dass er von Herrn H. mit einem abgebrochenen Glas angegriffen werden würde. Zwar kann nach Würdigung der vorliegenden schriftlichen Zeugenaussagen nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger eine Fortsetzung der Auseinandersetzung vor dem Lokal im Anschluss an sein Verlassen des Lokals zumindest billigend vorausgesehen hat. Die Zeugin Hachel gab bei der ersten Vernehmung durch die ermittelnden Polizeibeamten am 29. April 2002 an, der Kläger habe zu Herrn H. gesagt, dass dieser mit aus dem Lokal kommen sollte, was dieser auch getan habe (vgl Bl 20 der Akte der Staatsanwaltschaft). Im Urteil des Amtsgerichts G. vom 31. März 2003 wird ausgeführt, dass es für die anwesenden Zeugen deutlich gewesen sei, dass die Auseinandersetzung vor dem Lokal weitergehen würde. Nach den übereinstimmenden Aussagen aller Beteiligten und Zeugen hatte sich die Auseinandersetzung im Lokal jedoch auf Wortgefechte und Rauferei beschränkt, ohne dass weitere Werkzeuge zur Hilfe genommen wurden. Dass der Herr H. ein abgebrochenes Glas zum Angriff gezielt mit vor das Lokal nehmen würde, als er dem Kläger nach dessen Verlassen des Lokals folgte, stellt vor diesem Hintergrund eine eigenständige neue Entwicklung dar, die sich nicht naheliegend aus dem vorangehenden Geschehen ergab. Selbst wenn unterstellt wird, dass der Kläger eine Fortsetzung der Schlägerei billigend in Kauf nahm, so war das Beisichführen eines abgebrochenen Glases und dessen Einsatz durch den Angreifer Herrn H. subjektiv für den Kläger nicht vorhersehbar. Das Gericht hat nach Aktenlage auch keine Hinweise darauf, dass der Herr H. gerade für die Inanspruchnahme gefährlicher Werkzeuge bei tätlichen Auseinandersetzungen bekannt gewesen wäre und der Kläger insofern generell mit dem Einsatz eines entsprechenden Werkzeugs hätte rechnen müssen.
Es war auch nicht leichtfertig, dass der Kläger sich nach dem Verlassen des Lokals nicht umgehend vom Ort entfernt hatte. Nach den Zeugenaussagen bestand ein naher zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Lokals durch den Kläger und dem Nachfolgen des Herrn H ... Es ist jedoch plausibel und mit Blick auf die allgemeine Lebenserfahrung auch glaubhaft, dass der Kläger und sein Bruder sich nach dem Verlassen des Lokals nicht unmittelbar entfernt hatten, sondern zunächst überlegen wollten, wohin sie sich wenden würden. Denn es war vermutlich nicht geplant, dass sie das Lokal so kurzfristig wieder zu verlassen hatten. Nach den Ausführungen im Strafurteil des Amtsgerichts G. hätten der Kläger und sein Bruder vor dem Lokal auf den Herrn H. direkt gewartet. Das Gericht kann sich nach Kenntnisnahme der schriftlich niedergelegten Aussagen der im Strafprozess vernommenen Zeugen nicht mit der notwendigen Überzeugung anschließen, soweit es ein gezieltes Warten des Klägers vor dem Lokal betrifft. Sowohl die Schlägerei im Lokal als auch das Verbleiben vor dem Lokal reichen nicht als wesentlicher Tatbeitrag i.S. einer Mitverursachung aus, um die konkrete Art des tätlichen Angriffs mit einem abgebrochenen Glas als subjektiv vorhersehbar ansehen zu können. Der eigene Tatbeitrag des Klägers am Gesamtgeschehen hat, selbst wenn entgegen der Darstellungen des Klägers ein bewusstes Warten auf den späteres Angreifer erfolgte, insoweit nur untergeordnete Bedeutung.
Der Einsatz des abgebrochenen Glases ist zugleich kausal für den Eintritt der konkreten Schädigungsfolge. Die Verletzung des Auges beruht unmittelbar auf dem Einsatz des Glases und wäre voraussichtlich durch einen reinen Faustkampf oder nur bei weiteren Wortgefechten nicht in dieser Form eingetreten.
Die Gewährung von Entschädigung erscheint auch nicht unbillig im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt OEG. Es ist mit den Zielen des Gesetzes auch bei vernünftiger Betrachtungsweise aus Sicht eines billig und gerecht Denkenden vereinbar, dem Kläger Leistungen gemäß § 1 OEG zu erbringen, auch wenn er an der Auseinandersetzung als solcher und deren Verlauf einen eigenen Anteil hatte. Dem Kläger kann nicht zum Nachteil gereichen, dass der Kontrahent und Angreifer Herr H. unvorhersehbar und vom Kläger unbemerkt zu einem abgebrochenen Glas griff und ihm dieses ohne weitere Vorwarnung in das Gesicht schlug. Die Auseinandersetzung wurde dadurch mit ungleichen Mitteln und seitens des Herrn H. insoweit unfair geführt. Zugleich ist berücksichtigen, dass beim Kläger eine verhältnismäßig starke gesundheitliche Beeinträchtigung eingetreten ist, indem das rechte Auge dauerhaft und irreversibel geschädigt wurde. Der Kläger hat seine Sehkraft auf dem rechten Auge praktisch verloren. Es erscheint nicht unangemessen oder unbillig, dem Kläger unter diesen Umständen Entschädigungsleistungen zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.