Sozialgericht Stade
Beschl. v. 18.06.2009, Az.: S 34 SF 80/08

Höhe erstattungsfähiger Rechtsanwaltsgebühren im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
18.06.2009
Aktenzeichen
S 34 SF 80/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 19984
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2009:0618.S34SF80.08.0A

Redaktioneller Leitsatz

Der gegenüber der Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 des Vergütungsverzeichnisses zu § 3 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) niedrigere Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV RVG ist bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen nicht nur im Hauptsacheverfahren, sondern auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anwendbar.

Tenor:

Die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 18. März 2008 wird zurückgewiesen.

Gründe

1

Streitig ist die Höhe erstattungsfähiger Rechtsanwaltsgebühren.

2

Die zulässige Erinnerung ist unbegründet. Der Ansatz der Verfahrensgebühr in Höhe von 127,50 EUR ist nicht zu beanstanden.

3

Zu Recht hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle für das erstinstanzliche Eilverfahren die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 des Vergütungsverzeichnisses (VV) zu § 3 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) anstelle der beantragten Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV in Ansatz gebracht.

4

Durch den geringeren Gebührenrahmen nach Nr. 3103 VV RVG gegenüber Nr. 3102 VV RVG wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Rechtsanwalt durch seine Tätigkeit im Verwaltungsverfahren oder im Vorverfahren mit der Materie bereits vertraut ist und deshalb die Vorbereitung des Gerichtsverfahrens für ihn weniger arbeitsaufwendig ist als für einen Rechtsanwalt, der erstmals mit der Materie befasst wird. Dies ergibt sich insbesondere aus der Begründung des Gesetzentwurfes zu Nr. 3103 (BT-Drucks 15/1971, Seite 212). Der niedrigere Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV RVG ist auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gerechtfertigt. Die Tätigkeit des Rechtsanwalts in sozialgerichtlichen Eilverfahren wird regelmäßig dadurch erleichtert, dass er in derselben Sache bereits im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren tätig geworden ist. Zwar gilt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ein anderer Maßstab als im Hauptsacheverfahren. So genügt zum Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG, dass der Antragsteller das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes glaubhaft macht. Der Vortrag des Rechtsanwalts zur Begründung des Anordnungsanspruchs ist aber inhaltlich regelmäßig deckungsgleich mit der Widerspruchsbegründung. In beiden Fällen sind die Voraussetzungen für das Vorliegen des materiell-rechtlichen Anspruchs vorzutragen. Lediglich hinsichtlich der Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Verhältnis zum Widerspruchsverfahren ein weiterer eigenständiger Vortrag notwendig. Aus den genannten Gründen ist es gerechtfertigt, sowohl im Klagverfahren als auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren von einem einheitlich reduzierten Gebührenrahmen auszugehen (ebenso u.a. SG Hannover , Beschluss vom 1. Dezember 2008 - S 34 SF 177/08; LSG Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 25. August 2006 - L 8 B 31/05 SO; LSG Bayern, Beschluss vom 18. Januar 2007 - L 15 B 224/06 AS KO; SG Aurich , Beschluss vom 09. Mai 2006 - S 25 SF 20/05 AS; SG Stade , Beschluss vom 11. Juni 2009 - S 34 SF 97/08).

5

Das Gericht vermag sich dagegen der Auffassung, dass sich der Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV RVG nur auf solche Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren beziehe, die einem Hauptsacheverfahren vorgelagert sind, nicht aber auf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anwendbar sei, nicht anzuschließen (so aber SG Oldenburg , Beschluss vom 15. August 2005, S 47 AS 169/05 ER). Wie im Hauptsacheverfahren setzt auch die einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG die fristgerechte Einlegung eines Widerspruchs gegen den ablehnenden Bescheid voraus, da es hier anderenfalls regelmäßig am Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Letztlich "profitiert" der Rechtsanwalt regelmäßig sowohl im Klageverfahren als auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von seiner Tätigkeit im Verwaltungsverfahren (vgl SG Aurich , Beschluss vom 09. Mai 2006, S 25 SF 20/05 AS), so dass die Zugrundelegung der verringerten Gebühr für beide Verfahrensarten gerechtfertigt ist.

6

Der Gebührenrahmen für die Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug beträgt vorliegend nach Nr. 3103 VV RVG 20,- bis 320,- EUR. Die Mittelgebühr hieraus beträgt 170,- EUR. Nicht zu beanstanden ist vorliegend die Festsetzung der Verfahrensgebühr in Höhe einer 3/4-Mittelgebühr mit 127,50 EUR.

7

Nach §§ 3, 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Rahmengebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und der Vermögensverhältnisse des Auftragsgebers nach billigem Ermessen. Das Haftungsrisiko ist zu berücksichtigen, § 14 Abs. 1 S 3 RVG. Wenn die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen ist, so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 S 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist.

8

Ausgangspunkt bei der Bemessung der Gebühr ist die sogenannte Mittelgebühr, das heißt die Mitte des gesetzlichen Gebührenrahmens, die anzusetzen ist bei Verfahren durchschnittlicher Bedeutung, durchschnittlichen Schwierigkeitsgrades und wenn die vom Rechtsanwalt/Beistand geforderte und tatsächlich entwickelte Tätigkeit ebenfalls von durchschnittlichem Umfang war. Denn nur so wird eine einigermaßen gleichmäßige Berechnungspraxis gewährleistet. Abweichungen nach unten oder oben ergeben sich, wenn nur ein Tatbestandsmerkmal des § 14 RVG fallbezogen unter- oder überdurchschnittlich zu bewerten ist, wobei das geringere Gewicht eines Bemessungsmerkmals das überwiegende Gewicht eines anderen Merkmals kompensieren kann (Gerold/Schmidt-Mayer, RVG, 18. Auflage 2008, § 14 Rn 11).

9

Vorliegend ist die Urkundsbeamtin der Gebührenbemessung des Rechtsanwalts richtigerweise nicht gefolgt, danach den Kriterien des § 14 RVG eine Qualifikation der Angelegenheit also durchschnittlich nicht zu rechtfertigen ist. Die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung der Gebühr ist unbillig i.S. von § 14 RVG. Die Bedeutung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens für den Antragsteller wird von der Kammer als durchschnittlich eingestuft, Gegenstand des Verfahrens waren nicht existenzsichernde Leistungen. Dagegen erweisen sich insbesondere Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit - bezogen auf ein durchschnittliches Verfahren vor den Sozialgerichten - als unterdurchschnittlich. Ebenso als deutlich unterdurchschnittlich einzustufen sind die Verfahrensdauer und die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers. Allein die Tatsache, dass das einstweilige Anordnungsverfahren in diesem Fall die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen hat bzw. vorwegnehmen musste, führt nicht zu einer anderen Einschätzung. Die Problematik der Vorwegnahme der Hauptsache im Rahmen einer zu treffenden Entscheidung betrifft vor allem und in erster Linie das Gericht, das sich mit dieser Frage ggf. intensiv auseinandersetzen muss. Dagegen erhöht sich durch diesen Gesichtspunkt regelmäßig nicht die Schwierigkeit der Tätigkeit des Rechtsanwalts.

10

Bei einer Gesamtbetrachtung aller Kriterien des § 14 RVG ist demzufolge die Entscheidung der Urkundsbeamtin, dass lediglich der Ansatz der 3/4-Mittelgebühr als Verfahrensgebühr gerechtfertigt ist, nicht zu beanstanden. Da die Gebührenbestimmung des Rechtsanwalts um mehr als 20% von der vom Gericht für angemessen gehaltenen Gebühr abweicht, ist von einer unbilligen und damit nicht verbindlichen Gebührenbestimmung auszugehen (Gerold/Schmidt-Mayer, RVG, 18. Auflage 2008, § 14 Rn 12).

11

Im Übrigen nimmt das Gericht Bezug auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss vom 18. März 2008.

12

Die Entscheidung ist endgültig, § 197 Abs. 2 SGG.