Sozialgericht Stade
Urt. v. 08.04.2009, Az.: S 30 R 513/08
Anforderungen an das Vorliegen einer teilweisen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 08.04.2009
- Aktenzeichen
- S 30 R 513/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 19081
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2009:0408.S30R513.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Ein Berufsunfähiger im Sinne des § 240 SGB VI kann nur dann auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden, wenn ihm diese gesundheitlich und insbesondere auch sozial zumutbar ist. Letzteres wird für einen langjährigen Handwerker in Bezug auf die Verweisungstätigkeit eines Kundendienstmitarbeiters regelmäßig nicht der Fall sein, wenn ihm jegliche Vorerfahrungen im Bereich des Verkaufs und der Präsentation fehlen.
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 14. September 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. November 2006 verpflichtet, dem Kläger Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe ab 1. Juli 2006 zu gewähren. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der Kläger, geboren im Jahre 1953, ist gelernter Gas- und Wasserinstallateur. Er arbeitete in diesem Beruf von 1975 bis zum Januar 2006 bei der Firma G. in H. und ist seitdem arbeitsunfähig. Es handelt sich dabei nach Angaben des Klägers um einen kleineren Fachbetrieb mit neun Mitarbeitern. Seit November 2007 übt der Kläger in geringem Umfang eine Nebentätigkeit bei seinem bisherigen Arbeitgeber aus und springt z.B. bei Personalengpässen ein, soweit seine Leiden dies zulassen.
Vom 15. März 2006 bis zum 12. April 2006 nahm der Kläger an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme im Rehazentrum Bad I., Therapiezentrum J., teil. Nach den Angaben im Entlassungsbericht vom 18. April 2006 besteht bei dem Kläger ein rezidivierendes Lumbalsyndrom, ein rezidivierendes Dorsalsyndrom, ein Impingementsyndrom an der linken Schulter, ein femoropatellares Schmerzsyndrom links sowie eine chronische Gastritis. Der Kläger wurde aus der Reha arbeitsunfähig entlassen.
Am 26. Juni 2006 beantrage der Kläger bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung und berief sich zur Begründung auf die orthopädischen Leiden und die damit verbundene Schmerzproblematik. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine orthopädische Begutachtung durch den Facharzt Dr. K., der sein Gutachten am 14. August 2006 erstattete und den Kläger mit Einschränkungen noch für vollschichtig erwerbsfähig im bisherigen Beruf einschätzte. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag im Ergebnis mit Bescheid vom 14. September 2006 ab. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. November 2006 als unbegründet zurück. Am 27. November 2006 hat der Kläger Klage erhoben.
Er trägt vor, die Beklagte habe seine Leistungsfähigkeit zu positiv bewertet.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 14. September 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. November 2006 zu verpflichten, dem Kläger Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe ab 1. Juli 2006 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist im Wesentlichen auf ihr bisheriges Vorbringen und teilt mit, dass der Kläger nach ihrer Auffassung noch auf die Verweisungstätigkeiten eines Kunden- und Ersatzteilberaters, eines Maschinisten in der Wasseraufbereitung oder der Chemie sowie eines Sachbearbeiters im Heizungs- und Sanitärverkauf zumutbar verwiesen werden könne.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 8. April 2009 waren, Bezug genommen.
Das Gericht hat zur weiteren Ermittlung des medizinischen und berufskundigen Sachverhaltes zunächst ärztliche Befundberichte eingeholt und dann eine Begutachtung auf orthopädischem Gebiet durch den Facharzt für Orthopädie Dr. L. veranlasst. Dieser diagnostizierte im Gutachten vom 10. Oktober 2007 verschiedene orthopädische Einschränkungen, die aber nur zum Teil mit objektiven Funktionsbeeinträchtigungen einhergingen. Nach seiner Einschätzung ist der Kläger noch in der Lage, ausschließlich leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel von Stehen und Gehen und Sitzen in überwiegend trockenen und temperierten Räumen zu verrichten, wobei ein Heben nur bis 10 kg zumutbar erscheine. Zu vermeiden sei Akkordarbeit, der Kläger könne sich nicht bücken oder in Zwangshaltungen des Rumpfes arbeiten. Wegen Absturzgefahr sollten keine höheren Leitern oder Gerüste bestiegen werden. Nachdem der Kläger daraufhin die Klage nur noch wegen einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit aufrecht erhielt, holte das Gericht ein berufskundliches Gutachten durch den Sachverständigen Dipl.-Verwaltungswirt M. ein. Nach seinen Feststellungen im Gutachten vom 5. Januar 2009 ist der Kläger nicht mehr in der Lage, als Gas- und Wasserinstallateur zu arbeiten. Verschiedene Berufe werden von ihm diskutiert. Im Ergebnis erscheint nach seinen Feststellungen der Beruf eines Kunden- und Ersatzteilberaters noch möglich und zumutbar. Zu den weiteren Einzelheiten der Diagnosen und Einschätzungen der Sachverständigen wird auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Klage hat Erfolg.
Die angegriffene Entscheidung der Beklagten erweist sich als rechtswidrig und beschwert daher den Kläger, § 54 Abs. 2 SGG. Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß §§ 43, 240 SGB VI.
Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen und wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Lässt das gesundheitliche Leistungsvermögen des Versicherten noch eine Erwerbstätigkeit im Umfang von drei bis unter sechs Stunden zu, besteht gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Erwerbsgemindert ist dagegen nicht, wer zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Als Übergangsregelung bestimmt ferner § 240 SGB VI, dass Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren wurden, einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch haben, wenn sie berufsunfähig sind. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist (§ 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Maßgeblich ist dabei nicht, ob der Versicherte sein Leistungsvermögen noch in irgendeiner leidensgerechten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in mehr als geringfügigem Umfang einbringen kann, sondern allein, ob ihm dies noch in einer für ihn auch sozial zumutbaren Tätigkeit möglich ist.
Die Voraussetzungen einer teilweisen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit sind im Falle des Klägers erfüllt. Nach Überzeugung des erkennenden Gerichts ist dem Kläger die Ausübung seiner erlernten und bisherigen Tätigkeit als Gas- und Wasserinstallateur nicht mehr im relevanten Umfange gesundheitlich möglich und zumutbar. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des berufskundlichen Gutachters ist der Kläger auch nicht auf die Tätigkeit eines Kunden- und Ersatzteilberaters im Sanitärbereich verweisbar.
Volle Erwerbsminderung besteht nicht. Die medizinischen Ermittlungen von Amts wegen haben ergeben, dass das Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vollständig aufgehoben bzw. auf unter drei Stunden abgesunken ist. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. im Gutachten vom Oktober 2007 gibt der Kläger wiederkehrende Nackenschmerzen an, ohne dass dies durch entsprechende objektive Befunde untermauert werden kann. Im Bereich der Brustwirbelsäule besteht eine Entfaltungsbehinderung bei geringgradiger Fehlstatik und röntgenologisch im Wesentlichen alterstypischen Formveränderungen. Weiterhin ist nach den Feststellungen des Gutachters eine linkskonvexe Fehlstatik der LWS mit dem Alter vorauseilenden Aufbrauchserscheinungen in den untersten beiden Bewegungssegmenten festzustellen. Diese gehen mit nachvollziehbaren lokalen Schmerzzuständen einher. Aus den weiteren Diagnosen, wie z.B. einem Zustand nach einer Innenmeniskusoperation und dem Bestehen von Spreiz- und Senkfüßen, folgen nach den Feststellungen des Gutachters keine Funktionsbeeinträchtigungen. Dennoch geht der Gutachter im Ergebnis davon aus, dass der Kläger aus orthopädischer Sicht nur noch ausschließlich körperlich leichte Tätigkeiten mit Heben und Tragen bis zu 10 kg ausführen kann. Mittelschwere körperliche Tätigkeiten würden hingegen die Situation an der unteren LWS des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit überfordern und zum Auftreten unzumutbarer lokaler Schmerzzustände führen. Nach den Aussagen des Sachverständigen sollte der Kläger in einem sinnvollen Wechsel zwischen den einzelnen Körperhaltungen beschäftigt werden, ohne dass ein tatsächlicher Wechselrhythmus zwischen Stehen, Gehen und Sitzen erforderlich ist. Zugleich sollten Bückarbeiten sowie Tätigkeiten in anderweitigen Zwangshaltungen des Rumpfes weitgehend unterbleiben.
Aufgrund der Anforderungen an die Arbeitsumgebung und der Einschränkungen, die hinsichtlich der Einsatzfähigkeit nach Überzeugung des Gutachters zu machen sind, insbesondere die Vermeidung von Bückarbeiten und anderen Zwangshaltungen des Rumpfes, macht dem Kläger eine vollumfängliche Ausübung seiner bisherigen Tätigkeit als Gas- und Wasserinstallateur unmöglich. Denn eine solche Tätigkeit ist üblicherweise mit Arbeiten in gebückter oder gehockter Position und in Zwangshaltungen zu verrichten, z.B. bei der Montage eines Waschbeckens und dem Anschluss der dazugehörigen Rohre. Der bisherige Beruf des Klägers ist ihm daher aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr möglich. Die Tatsache, dass er den alten Beruf noch nebentätig ausübt, steht dieser Einschätzung dabei nicht entgegen. Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargestellt, dass er zwar zugunsten seines ehemaligen Arbeitgebers bei dortigen personellen Engpässen einspringe und mitarbeite. Gerade die Tätigkeiten wie z.B. die Montage von Rohren in gebückter Haltung oder auf den Knien würden jedoch durch die Kollegen wahrgenommen. Auch ist hierbei der zeitliche Umfang einer Nebentätigkeit im Vergleich zu einer vollschichtigen Tätigkeit von mindestens sechs Stunden täglich zu beachten.
Beim Kläger besteht eine teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit im Sinne des § 240 SGB VI. Gesundheitlich und sozial zumutbare Verweisungstätigkeiten konnten nicht zur Überzeugung des Gerichts benannt werden. Der Kläger ist insbesondere auch nicht auf den Beruf eines Kunden- und Ersatzteilberaters im Sanitärbereich verweisbar. Sowohl die körperlichen Anforderungen als auch die notwendigen kommunikativen und kaufmännischen Voraussetzungen sieht das Gericht beim Kläger nicht als in ausreichender Weise gegeben an.
Zwar teilt der berufskundliche Sachverständige Stemmann mit, die körperlichen Anforderungen eines entsprechenden Kunden- und Ersatzteilberaters gingen nicht über den Rahmen von gelegentlich bis zu 10 kg hinaus. Das Gericht kann dieser Einschätzung jedoch nicht folgen. Auch ein Kundenberater vor Ort ist ggf. gehalten, dem Kunden Produkte zu präsentieren und darzustellen sowie die Produkte oder Ersatzteile herbei zu tragen oder zu heben. Dabei ist im Sanitärbereich nicht auszuschließen, dass auch größere Gewichte als 10 kg zu heben sind. Ein Kundendienstberater im Außendienst muss beispielsweise auch in der Lage sein, defekte Geräte mitzunehmen.
Durchgreifende Bedenken bestehen auch hinsichtlich der notwendigen Sozialkompetenzen. Nach den Beschreibungen in der Datenbank berufenet der Bundesagentur für Arbeit ist für den Beruf eines Kundendienstmitarbeiters Sozialkompetenz und ggf. auch Durchsetzungsvermögen unabdingbar. Vor allem sei Kommunikationsfähigkeit eine wichtige Voraussetzung. Redegewandtheit sowie Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit auch im Umgang mit schwierigen Kunden sei unerlässlich. Die ausführliche Erörterung insbesondere dieses Punktes im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat ergeben, dass sich der Kläger eine Arbeit als Kundenberater, der üblicherweise auch Termine vor Ort bei möglichen Kunden wahrnehmen muss, nicht zutraut. Er hat seit 1975 langjährig als Handwerker im Team gearbeitet und dort seine Arbeit verrichtet, ohne für die Kundengewinnung und die Kundenbetreuung zuständig gewesen zu sein. Dies haben nach der Darstellung des Klägers die Geschäftsführer übernommen. Dem Kläger fehlen insofern die Vorerfahrungen im Bereich des Verkaufs und der Präsentation. Aus Sicht des Gerichts ist dies jedoch für einen Kunden- und Ersatzteilberater unerlässlich. Ein Kundenberater muss in der Lage sein, auf die Wünsche der Kunden und deren Vorstellungen einzugehen und mit ihnen überzeugende Lösungen zu erarbeiten. Dabei muss er ihnen auch auf freundliche Weise deutlich machen können, welche Möglichkeiten bestehen und was gerade auch nicht möglich ist. Es muss ihm gelingen, den Kunden zu binden und zum Vertragschluss bzw. zur Auftragsvergabe zu bringen. Sind diese Fähigkeiten nicht vorhanden, erscheint eine Tätigkeit als Kunden- und Ersatzteilberater nicht erfolgreich und im Interesse des entsprechenden Arbeitgebers durchführbar.
Andere mögliche Verweisungsberufe kommen aus Sicht des Gerichts nicht in Betracht. Zu den Tätigkeiten als Hausmeister oder Hauswart, als Maschinist sowie als Sachbearbeiter oder Verkäufer im Sanitärhandel und den diesbezüglichen Anforderungen wird auf die Ausführungen des berufskundlichen Gutachters im Gutachten vom Januar 2009 Bezug genommen. Das Gericht stimmt mit den Einschätzungen des Sachverständigen insoweit überein, dass diese Tätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen und aufgrund fehlender kaufmännischer Vorbildung nicht zumutbar erscheinen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.