Sozialgericht Stade
Urt. v. 13.05.2009, Az.: S 5 R 92/05

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
13.05.2009
Aktenzeichen
S 5 R 92/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 43662
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2009:0513.S5R92.05.0A

Tenor:

  1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24. November 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Februar 2005 sowie des Bescheids vom 20. August 2003 verpflichtet, dem Beigeladenen Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung, dh ab 1. Juli 2003 zu gewähren, ausgehend von einem Leistungsfall im März 2001.

    Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers und des Beigeladenen zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung durch die Beklagte an den Beigeladenen.

2

Der Kläger ist erstattungsberechtigter Träger der Sozialhilfe gem § 95 SGB XII. Der Beigeladene bezieht seit März 1999 Sozialhilfe bzw seit Januar 2005 Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB XII vom Kläger.

3

Der Beigeladene, geboren im Jahr 1964, bezog seit 1985 Arbeitslosenhilfe. Bis 1989 war er zweimal in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tätig. Nach anschließender Krebserkrankung mit Operation und Chemotherapie nahm er keine Beschäftigung mehr auf.

4

Die Zahlung der Arbeitslosenhilfe wurde im Frühjahr 1999 seitens der damals zuständigen Bundesanstalt für Arbeit eingestellt, weil der Kläger für nicht mehr erwerbsfähig gehalten wurde. Auf Grundlage eines psychologischen Gutachtens ging die Bundesanstalt für Arbeit davon aus, der Beigeladene könne nur noch in einer Behindertenwerkstatt arbeiten. Dies lehnte der Beigeladene ab.

5

Am 24. Juni 2003 beantrage der Beigeladene selbst die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Diese lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20. August 2003 mit der Begründung ab, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien beim Beigeladenen nicht erfüllt.

6

Am 8. April 2004 stellte der Kläger als Sozialleistungsträger einen Überprüfungsantrag bezüglich des Bescheides vom 20. August 2003 mit der Begründung, nach seiner Auffassung bestehe beim Beigeladenen bereits seit 1999 Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung des Beigeladenen auf neurologischpsychiatrischem Gebiet durch den Facharzt Dr. G., der sein Gutachten am 26. Oktober 2004 erstellte. Nach seiner Diagnose besteht beim Beigeladenen ein frühkindlicher Hirnschaden mit erheblicher Intelligenzminderung. Seiner Einschätzung nach ist der Beigeladene von je her auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erwerbsfähig, sondern kann allenfalls vollschichtig in einer Behindertenwerkstatt arbeiten.

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Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 24. November 2004 den Überprüfungsantrag des Klägers als unbegründet zurück. Der Kläger ging dagegen in Widerspruch und wies darauf hin, die Bundesanstalt für Arbeit habe in den Jahren 1991 und 1998 die Leistungsfähigkeit des Beigeladenen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes festgestellt. Erst seit 1999 werde dort von Erwerbsunfähigkeit ausgegangen.

8

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 7. März 2005 zurück und teilte mit, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen beim Beigeladenen unter der Annahme eines Leistungsfalles im Jahre 2003 nicht erfüllt seien, ebenso bei Annahme eines Leistungsfalls zum Zeitpunkt der Aufgabe der letzten Beschäftigung im Jahre 1989. Bei Annahme eines Leistungsfalles im Jahre 1999 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zwar erfüllt, es ergäbe sich jedoch für einen solchen Leistungsfall kein Hinweis. Am 4. April 2005 hat der Kläger Klage erhoben.

9

Zur Begründung verweist er auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren, wonach davon auszugehen sei, dass der Beigeladene ursprünglich erwerbsfähig gewesen sei und erst seit 1999 nicht mehr.

10

Der Kläger beantragt,

  1. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24. November 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Februar 2005 sowie des Bescheids vom 20. August 2003 zu verpflichten, dem Beigeladenen eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung, dh ab 1. Juli 2003 zu gewähren.

11

Die Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

12

Sie verweist auf ihre bisherigen Ausführungen, auch beständen Hinweise darauf, dass der Kläger noch im Jahre 2006 Tätigkeiten nachgegangen sein könnte.

13

Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 13. Mai 2009 waren, Bezug genommen.

14

Das Gericht hat zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts ein sozialmedizinisches Gutachten bei dem Sachverständigen PD Dr. H., I., eingeholt, der sein Gutachten am 28. Juli 2006 vorlegt. Der Gutachter geht davon aus, dass aufgrund einer Häufung von Leistungseinschränkungen eine Erwerbsfähigkeit des Beigeladenen nicht mehr gegeben sei, und zwar seit März/April 2001 vor dem Hintergrund der Auswirkung eines langjährigen Alkoholmissbrauchs. Zu Einzelheiten des Gutachtens wird auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen verwiesen. Das Gericht hat im Übrigen Arbeitgeberauskünfte eingeholt. Positive Antwort war nur bei der Samtgemeinde J. zu erreichen, bei der der Beigeladene in der 80er Jahren im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Bauhof tätig war. Herbeigezogen wurden im Übrigen die Gutachten der Bundesanstalt für Arbeit von 1991 und 1998.

Entscheidungsgründe

15

Die zulässige Klage hat Erfolg.

16

Die Ablehnung der ursprünglich vom Beigeladenen beantragten Rente wegen Erwerbsminderung durch die Beklagte war rechtswidrig und damit auch die Ablehnung des Überprüfungsantrags des Klägers, so dass entsprechende Beschwer vorlag, § 54 Abs 2 SGG. Der Beigeladene hat Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung, ausgehend von einem Leistungsfall im März 2001.

17

I.

Der Kläger ist klagebefugt gem § 95 SGB XII. Er ist zuständiger Träger der Sozialhilfe und insoweit erstattungsberechtigt im Falle einer Rentengewährung an den Beigeladenen.

18

II.

Die Klage ist begründet. Der Beigeladene hat Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gem § 43 Abs 2 SGB VI. Die Beklagte ist bei Erlass des Ablehnungsbescheids vom 20. August 2003 von einem falschen Sachverhalt ausgegangen und hat daher die begehrte Rente nicht erbracht. Der Bescheid hätte auf den Antrag des Klägers hin gemäß § 44 Abs 1 SGB X zurückgenommen werden müssen.

19

Gemäß § 43 Abs 2 SGB VI haben Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen und wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Lässt das gesundheitliche Leistungsvermögen des Versicherten noch eine Erwerbstätigkeit im Umfang von drei bis unter sechs Stunden zu, besteht gemäß § 43 Abs 1 SGB VI bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Erwerbsgemindert ist dagegen nicht, wer zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

20

Nach diesen Maßgaben sind die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung beim Beigeladenen erfüllt. Im Ergebnis der Ermittlungen des Gerichts muss davon ausgegangen werden, dass der Beigeladene trotz der teilweise seit der Kindheit bestehenden Einschränkungen seines Leistungsvermögens zunächst noch in ausreichendem Maße erwerbsfähig war. Erst durch Hinzutreten weiterer Faktoren, insbesondere eines exzessiven Alkoholmissbrauchs, trat im Frühjahr 2001 dauerhafte Erwerbsunfähigkeit ein.

21

Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. H. bestehen beim Beigeladenen verschiedene degenerative Veränderungen im orthopädischen Bereich. Im Gutachten vom Juli 2006 diagnostizierte er insoweit degenerative Veränderungen im Bereich der schultergelenksnahen Weichteile sowie der Hüftgelenke und im Bereich der Wirbelsäule bei ausgeprägter Fehlhaltung der Wirbelsäule. Zu beobachten war außerdem ein stark ausgeprägtes Stottern, das nach Einschätzung des Gutachters, kommunikative Tätigkeiten bzw Arbeiten mit Publikumsverkehr nicht zulasse. Neben einer Bewegungsstörung mit leicht spastischataktischem Gangbild und leichter Einschränkung rasch abwechselnder Bewegungen an den oberen Extremitäten steht im Vordergrund eine Minderbegabung beim Beigeladenen. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des Gutachters um eine mittelschwere geistige Behinderung. Der Intelligenzquotient liege zwischen 40 und 50. Das logische Denkvermögen sei gering entwickelt und erreiche nur die Norm eines fünfjährigen Kindes bei entsprechender Einschränkung der Urteils- und Kritikfähigkeit. Der Sachverständige führte wörtlich aus: "Fremdbestimmte Arbeitsleistungen könnten daher nur unter regelmäßiger Anleitung und Aufsicht ausgeübt werden. Der Kläger (dh der Beigeladene) hat diese Einschränkungen fraglos ins Erwerbsleben mit eingebracht. Man kann bei den beschriebenen Behinderungen aber nicht automatisch davon ausgehen, dass Erwerbsunfähigkeit vorgelegen hätte."

22

Vor dem Hintergrund dieser Aussagen des Gutachters und unter Berücksichtigung der Feststellungen der Bundesanstalt für Arbeit zum Vorliegen von Erwerbsfähigkeit 1991 und 1998 sowie der Tatsache, dass der Kläger in der Vergangenheit zweimal an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilnehmen konnte, muss davon ausgegangen werden, dass der Beigeladene ursprünglich noch ein ausreichendes Leistungsvermögen für zumindest leichte körperliche Tätigkeiten ohne besondere Anforderungen an das Denkvermögen und an Kommunikation besaß.

23

Entgegen der Auffassung der Beklagten bestehen Anhaltspunkte für eine spätere wesentliche Verschlechterung bzw Aufhebung des allgemeinen Leistungsvermögens des Beigeladenen und damit für den Eintritt eines Leistungsfalls. Der Verlust der Erwerbsfähigkeit des Beigeladenen ist als eine Folge des massiven Alkoholmissbrauchs eingetreten, durch den das ohnehin geringe berufliche Leistungsvermögen des Beigeladenen auf ein Maß verringert wurde, das einen Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr möglich erscheinen lässt. So weist der Sachverständige darauf hin, dass sich die seit Kindheit bestehende Behinderung im Sinne der geistigen Minderbegabung im Laufe der Zeit durch zusätzliche Einflüsse verschlimmert habe. Hierbei verweist er in erster Linie auf exzessiven Alkoholmissbrauch. Dieser erreichte im März/April 2001 seinen Höhepunkt, wie aus einem Arztbericht des behandelnden Hausarztes Dr. K. aus April 2001 zu entnehmen ist. Nach Überzeugung des erkennenden Gerichts ist es aufgrund dieser Feststellungen des Sachverständigen sachgerecht und entspricht der tatsächlichen medizinischen Sachlage, von einem Leistungsfall im März 2001, anknüpfend an den Höhepunkt des Alkoholexzesses und dessen schädlichen Folgen, auszugehen.

24

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen waren im März 2001 erfüllt.

25

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.