Sozialgericht Stade
Urt. v. 25.05.2009, Az.: S 28 AS 23/09
Teilweise Nachbewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) durch den Leistungsträger nach einer nachgeholten Mitwirkung des Antragstellers; Ermessensfehler bei der Ablehnung der begehrten Leistungen
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 25.05.2009
- Aktenzeichen
- S 28 AS 23/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 20555
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2009:0525.S28AS23.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 54 Abs. 2 SGG
- § 66 Abs. 3 SGB I
- § 67 SGB I
- § 37 Abs. 2 S. 2 SGB X
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
§ 67 SGB I hat keinen Bestrafungscharakter.
- 2.
Es ist unverhältnismäßig, einem Hilfebedürftigen die ihm dem Grunde nach zustehenden existenzsichernden Leistungen mangels Mitwirkung komplett vorzuenthalten, wenn der Leistungsträger im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren nicht alles getan hat, um den Sachverhalt aufzuklären.
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24. September 2008 und Änderung des Bescheids vom 3. Dezember 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2008 verpflichtet, über die Nachbewilligung der SGB II-Leistungen des Klägers für den Zeitraum 1 September 2008 bis 27. Oktober 2008 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die nur teilweise Nachbewilligung von Leistungen durch den Beklagten nach einer nachgeholten Mitwirkung des Klägers.
Der Kläger bezieht seit März 2006 laufend Leistungen vom Beklagten. Daneben erzielt er in wechselnder Höhe Einkommen aus einem Internethandel. In der Vergangenheit gab es immer wieder Probleme zwischen den Beteiligen wegen der nicht sicheren postalischen Erreichbarkeit des Klägers. Dieser Umstand war Gegenstand eines vorangehenden Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Stade, das unter dem Aktenzeichen - S 17 AS 366/08 - geführt wurde und im August 2008 durch einen Vergleich beendet werden konnte. Die Schwierigkeiten setzten sich jedoch fort und dauern an.
Am 4. August 2008 stellte der Kläger beim Beklagten den Fortzahlungsantrag für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab September 2008. Aus der Verwaltungsakte des Beklagten geht hervor, dass der Beklagte nach Eingang des Fortzahlungsantrags mit Schreiben vom 5. August 2008 unter Fristsetzung bis zum 19. August 2008 sowie Hinweis auf die Folgen einer Nichtmitwirkung weitere Unterlagen vom Kläger anforderte, darunter Kontoauszüge sowie eine betriebswirtschaftliche Auswertung seiner Tätigkeit. Eine Reaktion des Klägers erfolgte nicht. Nach Anhörung durch Schreiben vom 29. August 2008, auf die Kläger nicht reagierte, versagte der Beklagte mit Bescheid vom 24. September 2008 die weiteren Leistungen.
Am 25. Oktober 2008 meldete sich der Kläger telefonisch und legte mündlichen Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid ein. Am 28. Oktober 2008 kam es zu einem persönlichen Gespräch des Klägers mit der zuständigen Sachbearbeiterin des Beklagten. Aus der Verwaltungsakte des Beklagten ergibt sich weiter, dass die Unterlagen nach Auffassung des Beklagten noch immer unvollständig waren und der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 30. Oktober 2008 wiederum zur Nachreichung fehlender Unterlagen aufforderte. Nach Anhörungsschreiben vom 14. November 2008 reichte der Kläger schließlich am 26. November 2008 die geforderten Unterlagen ein. Daraufhin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Dezember 2008 schließlich vorläufig - vorbehaltlich der nachzureichenden Einnahme-Überschuss-Berechnung für den umfassten Zeitraum - die begehrten Leistungen nach dem SGB II. Die Leistungen wurden allerdings erst ab dem 28. Oktober 2008 gewährt. Eine Gewährung ab 1. September 2008 erfolgte nicht, ohne dass hierfür Gründe im Bescheid benannt wurden. Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2008 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers vom 25. Oktober 2008 gegen den Ablehnungsbescheid vom 24. September 2008 nach Erlass des Teilabhilfebescheids vom 3. Dezember 2008 als unbegründet zurück. Am 9. Januar 2009 hat der Kläger Klage erhoben.
Zur Begründung trägt der Kläger vor, er habe auf seinen Fortzahlungsantrag vom August 2008 nichts mehr vom Beklagten gehört und insbesondere keine Schreiben und keinen Bescheid erhalten. Erst durch seinen eigenen Anruf am 25. Oktober 2008 habe er vom Fehlen bestimmter Unterlagen sowie vom Ablehnungsbescheid vom 24. September 2008 erfahren. Auch die Schreiben vom 30. Oktober 2008 und vom 14. November 2008 habe er nicht erhalten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 24. September 2008 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 3. Dezember 2008 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2008 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger für den Zeitraum 1. September 2008 bis zum 27. Oktober 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid und macht deutlich, dass es bereits in der Vergangenheit immer wieder Schwierigkeiten mit dem Kläger bezüglich der Vorlage von Unterlagen gegeben habe. In der Ermessensentscheidung im Rahmen des § 67 SGB I sei das wiederholt verweigernde Verhalten des Klägers gegenüber dem Beklagten berücksichtigt worden. Gegenüber dem Interesse des Klägers an einer rückwirkenden Bewilligung der Leistungen überwöge das öffentliche Interesse an einer effektiven Verwaltung erheblich.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegende Verwaltungsakte des Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 25. Mai 2009 waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die Entscheidung des Beklagten über den Umfang der nachträglichen Leistungsbewilligung nach der erfolgten Nachholung der Mitwirkung des Klägers war ermessensfehlerhaft und beschwerte insoweit den Kläger, § 54 Abs. 2 SGG. Der Kläger hat Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Nachbewilligung der ab dem 1. September 2008 beantragten Leistungen nach dem SGB II.
Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind. Gemäß § 66 Abs. 3 dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer von ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Gemäß § 67 kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen.
Die Voraussetzungen für eine Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind für den Zeitraum 1. September 2008 bis zum 27. Oktober 2008 beim Kläger unstreitig erfüllt - vorläufig und unter dem Vorbehalt des erzielten Einkommens aus dem Internethandel. Die vom Beklagten für erforderlich gehaltenen Unterlagen wurden vom Kläger zwischenzeitlich nachgereicht, sodass der Anwendungsbereich des § 67 SGB I eröffnet war.
Nach Überzeugung des erkennenden Gerichts war die Ablehnung der begehrten Leistungen für den Zeitraum 1. September bis 27. Oktober 2008 ermessenfehlerhaft. Im Einzelnen:
1.
Der Beklagte ist von einem falschen Sachverhalt ausgegangen, indem er unterstellte, dass die Aufforderungsschreiben und der Versagungsbescheid vom 24. September 2008 dem Kläger tatsächlich zugegangen sind. Er hat damit nicht in ausreichender Weise berücksichtigt, dass der Zugang der Aufforderungsschreiben sowie des Versagungsbescheids vom 24. September 2008 und damit auch der Rechtsfolgenbelehrung hinsichtlich einer mangelnden Mitwirkung ungeklärt ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Kläger die genannten Schriftstücke tatsächlich nicht zugegangen sind. Zweifel über den Zugang der Schreiben und Bescheide gehen zu Lasten des Beklagten und nicht des Klägers. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X hat im Zweifel über den Zugang eines mit der Post übermittelten Verwaltungsaktes die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Der Beklagte kann sich daher nicht ohne Weiteres auf die vorhandenen Absendevermerke berufen, da diese keine Beweiskraft für den tatsächlichen Zugang haben. Ebenso wenig kann überzeugen, wenn pauschal auf die all-gemeine Erfahrung abgestellt wird, dass in der Praxis seltsamerweise immer nur die belastenden Schriftstücke und Verwaltungsakte nicht zugehen würden. Letztlich kann der Beklagte nicht nachweisen, dass die abgesandten Schreiben, und damit z.B. auch die Rechtsfolgenbelehrung i.S. des § 66 Abs. 3 SGB I, wirklich angekommen sind.
Der Beklagte konnte im Übrigen auch schon deshalb nicht davon ausgehen, dass der Kläger alle Schriftstücke erhielt, weil ihm die Schwierigkeiten mit der postalischen Erreichbarkeit des Klägers aus der Vergangenheit heraus bekannt waren. Als sich der Kläger auf die Aufforderung, weitere Unterlagen einzureichen, nicht rührte, hätte dem Rechnung getragen werden und eine Kontaktaufnahme in diesem Einzelfall auf anderem Wege, etwa telefonisch oder per Fax, versucht werden können. Dies ist in begründeten Einzelfällen auch im Rahmen einer Massenverwaltung möglich und zumutbar. Der Beklagte hat letztlich im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren nicht alles getan, um den Sachverhalt aufzuklären, und damit nicht dem Umstand Rechnung getragen, dass z.B. auch der Zugang der Rechtsfolgenbelehrung gemäß § 66 Abs. 3 SGB I unbewiesen ist. Unter diesen Umständen ist es unverhältnismäßig und daher ermessensfehlerhaft, dem Kläger die ihm dem Grunde nach zustehenden existenzsichernden Leistungen komplett vorzuenthalten.
2.
Die Entscheidung hinsichtlich der kompletten Nichtbewilligung der Leistungen im Zeitraum 1. September 2008 bis 27. Oktober 2008 trotz nachgeholter Mitwirkung stellt neben dem Ausgehen von einem falschen Sachverhalt auch einen Ermessensfehlgebrauch dar. Der Beklagte hat das ihm in § 67 SGB I eingeräumte Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht. Denn nach der hier vertretenen Auffassung hat § 67 SGB I ausdrücklich keinen Bestrafungscharakter (vgl Seewald in: Kasseler Kommentar, SGB I, § 67 Rn 9). Vielmehr hat die Möglichkeit der Nachbewilligung der begehrten Leistung einen Anreizcharakter und soll den Einzelnen motivieren, doch noch mitzuwirken (Seewald in: Kasseler Kommentar, SGB I, § 67 Rn 2). Dies schließt allerdings nicht aus, dass auch bei Ausübung pflichtgemäßen Ermessens nur eine eingeschränkte Nachbewilligung gerechtfertigt ist. So kann durchaus Berücksichtigung finden, dass dem Beklagten durch die verspätete Mitwirkung erhöhter Verwaltungsaufwand und damit letztlich Kosten entstanden sind, an denen der Kläger in angemessenem Umfang pauschal beteiligt werden könnte. Außerdem besteht auch eine Mitverantwortung des Klägers an der Situation. Auch ihm sind die Probleme seiner postalischen Erreichbarkeit hinlänglich bekannt. Die Beteiligten sind gehalten, diesbezüglich für die Zukunft gemeinsam eine tragfähige Lösung zu finden. Der Anreizcharakter des § 67 SGB I lässt zu, die Nachbewilligung auf einen Teil der zustehenden Leistungen zu beschränken, um auf diese Weise die Motivation des Klägers zur konstruktiven Mitarbeit an einer Lösung des Postproblems zu erhöhen.
3.
Die Kürzung der nachbewilligten Leistungen um 100% im betroffenen Zeitraum erscheint im Übrigen auch deshalb fehlerhaft, weil die geforderte Mitwirkung zumindest für eine vorläufige Fortbewilligung möglicherweise nicht zwingend war. Es ist für das Gericht nicht erkennbar, warum angesichts des langjährigen Leistungsbezugs des Klägers bei in etwa gleichbleibendem Einkommen aus dem Internethandel eine vorläufige Fortbewilligung nicht auch auf Basis der bisherigen Daten möglich gewesen ist. Denn es ist jedenfalls auch die wirtschaftliche Situation des Klägers als Empfänger von existenzsichernden Leistungen zu bedenken. Es erscheint fraglich, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gewahrt ist, wenn Grundsicherungsleistungen versagt werden, obwohl zumindest eine vorläufige Fortbewilligung auf Basis der vorhandenen Datenlage möglich gewesen wäre. Dies hätte den Kläger nicht von der späteren Nachreichung eines Nachweises über das tatsächlich im Bewilligungszeitraum erzielte Einkommen entbunden. Um hohe Überzahlungen zu vermeiden, hätte der Bewilligungszeitraum z.B. auch auf drei Monate verkürzt werden können.
Im Rahmen der erneuten Ermessensentscheidung wird der Beklagte in der Folge zum einen den richtigen Sachverhalt, d.h. auch die Nichterweislichkeit des Zugangs der Schriftstücke, zum anderen den Sinn und Zweck des in § 67 SGB I Ermessens stärker zu beachten haben. Der im Vordergrund stehende Anreizcharakter des § 67 SGB I erlaubt keine komplette Verweigerung der Nachbewilligung der existenzsichernden Leistungen, weil dies einer Bestrafung des Klägers gleichkäme. Eine nur teilweise Nachbewilligung z.B. iHv von nur 50% oder 40% könnte nach sorgfältiger weiterer Abwägung aufgrund der Mitverantwortung des Klägers und mit dem Ziel der Motivationssteigerung noch vertretbar sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger formal in vollem Umfange obsiegt hat. Der angegriffene Bescheid war rechtswidrig. Die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens, auf die der Kläger einen Anspruch hat, führt nicht zur vollen Leistungshöhe, ohne dass dies als Teilunterliegen gewertet werden kann.