Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 17.02.2003, Az.: L 13 VG 4/00 NZB

Entschädigung des Opfers einer Gewalttat; Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG); Unbilligkeit der Entschädigung aufgrund Afhaltens des Geschädigten in anhaltender besonderer Gefahrenlage

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.02.2003
Aktenzeichen
L 13 VG 4/00 NZB
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 15067
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0217.L13VG4.00NZB.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 01.01.1000 - AZ: S 20 VG 7/98

Tenor:

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I.

Streitig sind in der Hauptsache die Feststellung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge i. S. des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) und die daraus folgende Erstattung von Heilbehandlungskosten an die Klägerin. Wegen dieser Ansprüche wendet sich die Klägerin gegen einen negativen Bescheid über die Rücknahme eines bindend gewordenen Ablehnungsbescheides der Beklagten.

2

Der bei der Klägerin versicherte 1938 geborene D. (im Folgenden: der Geschädigte) erlitt am 14. September 1994 eine Messerstichverletzung im Bauchbereich, die zu Aufwendungen der Klägerin in Höhe von DM 7.526,18 führte. Die Tat geschah in einer Wohnung des Hauses, in dem auch der Geschädigte wohnte, nachdem Täter und Geschädigter dort in einer Gruppe erhebliche Mengen Alkohol getrunken hatten. Die Wohnung gehörte einer gemeinsamen Bekannten, die an dem Trinkgelage teilnahm und die frühere Verlobte des Täters war. Der Täter holte ein Küchenmesser und stach damit auf den Geschädigten ein, weil er auf dessen Beziehung zu seiner (des Täters) früheren Freundin eifersüchtig war.

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Der Täter ist wegen einer Vollrauschtat verurteilt worden (Urteil des Amtsgerichts Bremen (Schöffengericht) vom 31.03.1995 - 85 Ls 11 Js 31173/94 -). In der Schilderung des Tathergangs durch die am Tatort eingesetzten Polizeibeamten heißt es u.a.:

»Zu dem besagten Personenkreis muss gesagt werden, dass allesamt amtsbekannt sind und Trinkgelage sowie Streitereien und auch Schlägereien an der Tagesordnung sind.«

4

Am 9. Januar 1995 übersandte die Klägerin einen Antrag des Geschädigten auf Leistungen nach dem OEG an die Beklagte und machte gleichzeitig einen Erstattungsanspruch geltend. Die Beklagte zog die Unterlagen der Staatsanwaltschaft bei und lehnte mit Bescheid vom 27. Dezember 1996 den Antrag auf Beschädigtenversorgung gegenüber dem Geschädigten mit der Begründung ab, dass dieser zwar Opfer einer Gewalttat geworden sei, es jedoch dem Sinn des Gesetzes widersprechen würde und unbillig i. S. des § 2 Abs. 1 OEG wäre, demjenigen Leistungen zu bewilligen, der sich selbst in eine Gefahrenlage begeben habe, in der er mit Gewalttaten habe rechnen müssen. Das Risiko einer vorhersehbaren und vermeidbaren Gesundheitsschädigung könne nicht von der staatlichen Gemeinschaft getragen werden. Der Geschädigte habe die Schädigung im Laufe eines Zechgelages in privaten Räumen im Kreis einiger chronischer Alkoholiker erlitten. Hier habe ein Zustand bestanden, der die Gefahr einer Gewalttat in sich getragen habe. Nach den Unterlagen seien bei dem Personenkreis, in dessen Umfeld der Geschädigte sich freiwillig begeben habe, Trinkgelage, Streitereien und auch Schlägereien an der Tagesordnung gewesen. Diesen Bescheid übersandte die Beklagte am gleichen Tage in einer Ausfertigung auch an die Klägerin im Hinblick auf deren Ersatzanspruch.

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In dem von der Klägerin eingelegten Widerspruch machte diese geltend, die angegebenen Allgemeinumstände begründeten keine Ablehnung von Ansprüchen nach dem OEG. Ablehnungsgründe könnten nur dann vorliegen, wenn in konkreten Situationen mit einer Gewalttat zu rechnen sei. Außerdem müsse der Verletzte in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fahrlässiger Weise unterlassen haben, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwehren.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1997 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Sie verwies auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. November 1979 - 9 RVg 2/78 (BSGE 49, 104) -, wonach als Gründe für die Unbilligkeit sowohl tatbezogene als auch tatunabhängige Umstände in Betracht kämen. Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 19. Februar 1997 zugestellt.

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Am 18. November 1997 beantragte die Klägerin die

Rücknahme des Verwaltungsakts nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X).

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Die Auffassung der Beklagten sei nicht richtig. Mit Urteil vom 26. Juni 1985 - 9a Vg 6/84 - habe sich das BSG zu Versagungsgründen bei Gewalttaten in einem bestimmten Milieu geäußert und dies allein nicht als Versagungsgrund angesehen. Da das Trinken von Alkohol nicht von der Rechtsordnung missbilligt werde, erübrige sich die Prüfung, ob eine wesentliche Mitursache des Geschädigten als Versagungsgrund vorliege. Auch nach dem sonstigen Verhalten des Geschädigten sei eine Versorgung nicht unbillig. Die Unbilligkeit richte sich danach, ob die konkrete Situation zwischen Schädiger und Geschädigtem so gewesen sei, dass mit einer Gewalttat hätte gerechnet werden müssen. Eine solche konkrete Situation ergebe sich aus dem Genuss von Alkohol nicht.

9

Mit Bescheid vom 12. Februar 1998 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Dem Geschädigten sei bekannt gewesen, dass der Täter starke Aggressionen gegen ihn hegte, da er (der Geschädigte) mit dessen ehemaliger Freundin liiert gewesen sei. Der Täter habe auch bereits mehrfach vor der Gewalttat, immer wenn er stark alkoholisiert gewesen sei, geäußert, dass er den Geschädigten bzw. auch dessen Freundin umbringen wolle, habe letztlich dann aber seine Aggressionen gegen sich selbst gerichtet. Auch bei dem Trinkgelage am Tattag sei der Täter bereits wieder aggressiv gegenüber dem Geschädigten und seiner Freundin geworden und habe geäußert, dass er beide umbringen wolle. Beide hätten ihn jedoch nicht ernst genommen. Als es zwischen dem Geschädigten und seiner Freundin zum Austausch von Zärtlichkeiten gekommen sei, sei der Täter in äußerste Wut geraten und es sei zu der Gewalttat gekommen. Der Geschädigte habe sich durch sein Verhalten in diese Gefahrenlage gebracht und mit einer strafbaren Handlung des Täters rechnen müssen, da er dessen Aggressivität und Eifersucht, insbesondere unter Alkoholeinfluss, gekannt habe. Deshalb liege eine Unbilligkeit i. S. des § 2 Abs. 1 OEG vor.

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Am 11. März 1998 hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben und schriftsätzlich beantragt,

gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) festzustellen, dass die Gesundheitsstörung des Geschädigten eine Schädigung i. S. des OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) sei, für die die Beklagte der Klägerin Ersatz i. S. von § 19 Abs. 5 BVG a.F. zu leisten habe.

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Sie hat ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt.

12

Mit Gerichtsbescheid vom 22. September 1998 hat das SG die Klage abgewiesen. Sie sei sowohl als Feststellungsklage wie auch als Verpflichtungsklage unzulässig. Für die Feststellungsklage fehle es am Rechtsschutzbedürfnis i. S. des für diese Klageart erforderlichen besonderen Feststellungsinteresses. Dieses sei hier zu verneinen, da zwar bei einem öffentlich-rechtlichen Rechtsträger wie der Beklagten eine Feststellungsklage anstelle einer ebenfalls möglichen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig sein könne, hier aber deshalb ausscheide, weil auch eine erfolgreiche Feststellungsklage die Bindungswirkung des Bescheides vom 27. Dezember 1996 nicht beseitigen könne. Die Klägerin könne daher ihr materielles Ziel der Erstattung von Heilbehandlungskosten mit einer Feststellungsklage nicht erreichen. Der mutmaßlich hilfsweise gestellte Antrag auf Aufhebung des Bescheides vom 12. Februar 1998 und Verurteilung der Beklagten zur Rücknahme des Bescheides vom 27. Dezember 1996 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 1997 und auf Neubescheidung sei unzulässig, weil der Klägerin die Prozessführungsbefugnis fehle. Sie sei über den Umweg des § 44 SGB X nicht berechtigt, eine Leistung an sich zu verlangen, weil dem die Bindungswirkung des Bescheides vom 27. Dezember 1996 entgegenstehe. Das im Grundsatz bestehende Klagerecht der Krankenkasse sei hier wegen des rechtsbeständigen Ablehnungsbescheides ausgeschlossen. Die Klägerin sei im Hinblick auf den Schutz des Persönlichkeitsrechts des Geschädigten nicht berechtigt, durch eigenen Antrag eine Überprüfung nach § 44 SGB X in Gang zu setzen. Wenn man aber eine Prozessführungsbefugnis der Klägerin bejahen würde, sei die Verpflichtungsklage jedenfalls unbegründet. Denn die Beklagte habe den Antrag nach § 44 SGB X im Ergebnis zu Recht abgelehnt; allerdings sei dieser Antrag nicht unbegründet, sondern, da allein dem Geschädigten ein solches Antragsrecht zustehe, unzulässig gewesen. Die Berufung hat das SG nicht zugelassen.

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Gegen diese ihr am 8. Oktober 1998 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 3. November 1998 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, der das SG nicht abgeholfen hat. Sie macht eine grundsätzliche Bedeutung der Frage ihrer rechtlichen Möglichkeit, eine Entscheidung nach § 44 SGB zu verlangen, geltend und verweist insoweit auf andere gleichgelagerte Fälle. Nachdem das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zunächst auf Antrag der Beteiligten geruht hatte, hat die Beschwerdeführerin es unter Hinweis auf ein Urteil des Senats vom 16. März 2000 - L 3 VG 12/99 - wieder aufgenommen.

14

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Prozessakte - L 13 VG 4/00 NZB - und die B-Akten der Beklagten mit dem Az. OEG-11/95-4.

15

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

16

Ein Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 SGG liegt nicht vor. Die von der Beklagten aufgeworfene Rechtsfrage ist im Berufungsverfahren nicht klärungsfähig, da sie nicht entscheidungserheblich ist. Der geltend gemachte Erstattungsanspruch nach § 19 Abs. 5 BVG a.F. ist bereits deswegen ausgeschlossen, weil der Geschädigte keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG hatte. Denn - wie die Beklagte zutreffend feststellte - lag ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG vor. Eine Opferentschädigung ist nach diesem Gesetzestatbestand wegen »Unbilligkeit« zu versagen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine staatliche Hilfe gemäß dem OEG i.V.m. dem BVG als sinnwidrig und damit als ungerecht beurteilen lassen (BSGE 49, 104; 57, 168). Solche »sonstigen Gründe« müssen insgesamt annähernd ein gleiches Gewicht wie eine Verursachung i. S. der 1. Alternative des § 2 Abs. 1 S. 1 OEG haben. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben.

17

Tatunabhängige Umstände, die eine Entschädigung als unbillig i. S. der o. g. Vorschrift erscheinen lassen, können nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 49, 104) bei einer Gewalttat unter chronischen Alkoholikern vorliegen, auch wenn deren nachweislich gemeinschaftsschädlicher Lebenswandel nicht strafbar ist. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BSG vom 26. Juni 1985 (Az. 9a RVg 6/84, BSGE 58, 214) verweist, betrifft dieses eine Gewalttat in der Homosexuellenszene, die das BSG nicht als überdurchschnittlich gefahrgeneigt angesehen hat. Vorliegend gehörte der Geschädigte dagegen ausweislich des polizeilichen Berichts über den Tathergang einem Personenkreis an, der polizeibekannt war und in dem Trinkgelage sowie Streitereien und Schlägereien an der Tagesordnung waren. Auch aus den näheren Umständen ergibt sich, dass sich der Geschädigte in einer besonderen anhaltenden Gefahrenlage befand, die die Unbilligkeit einer Entschädigung begründet. Denn nach den unangegriffenen Feststellungen in dem Urteil des Schöffengerichts vom 21. März 1995 hatte der Täter den Geschädigten vor der Tat bei mehreren Gelegenheiten mit dem Tod bedroht. Ferner hatte er - für den Geschädigten ersichtlich - durch mehrere Selbstverletzungen erhebliche alkoholbedingte Aggressionen gezeigt. Auch kurz vor der eigentlichen Tat hatte der Täter damit gedroht, dass er den Geschädigten und seine Freundin umbringen werde. Der Geschädigte musste damit mit einer schweren Gewalttat gegen seine Person rechnen und verblieb gleichwohl in dieser Gefahrenlage. Zu dem Trinkgelage, das zu der Tat führte, hatte er sogar noch dadurch beigetragen, dass er eine Flasche Korn ausgegeben hatte.

18

Angesichts dieser Umstände wäre eine Entschädigung "unbillig". Eine solche Leistung der Allgemeinheit widerspräche dem Zweck des Gesetzes. Die staatliche Gemeinschaft steht aus verschiedenen Gründen für die Schäden ein, die durch Gewalttaten verursacht werden, u.a. wegen eines Versagens der staatlichen Verbrechensbekämpfung. Sie hat aber grundsätzlich keine Verantwortung für die Folgen von selbst herbeigeführten Schädigungen übernommen (BSGE 57, 168).

19

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

20

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).