Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.02.2003, Az.: L 6 U 28/02

Anspruch auf Verletztenrente; Rückschluss auf die Schwere der Verletzung eines Insassen durch den Schaden an einem Unfallwagen ; Zusammenhang von Beschwerden an der Halswirbelsäule mit einem Arbeitsunfall

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.02.2003
Aktenzeichen
L 6 U 28/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21160
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0226.L6U28.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - AZ: S 5 U 84/98

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Für die Beurteilung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs von Beschwerden an der Halswirbelsäule mit einem Arbeitsunfall kommt es entscheidend darauf an, ob die Halswirbelsäule bei dem Unfall strukturell verletzt worden ist

  2. 2.

    Aus dem Schaden an einem Pkw kann nicht zwangsläufig auf eine Unfallverletzung geschlossen werden. Denn selbst schwere Unfälle können durch die Insassen unverletzt überlebt werden. Entscheidend ist deshalb allein der medizinische Befund.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 16. November 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

I.

Streitig ist Verletztenrente.

2

Der 1972 geborene Kläger verunglückte am 4. September 1995 auf dem Weg zur Arbeitsstelle (Unfallanzeige vom 8. September 1995). Dabei erlitt er eine Zerrung (Distorsion) der Halswirbelsäule (HWS), eine Rippenprellung und eine Gehirnerschütterung (Commotio cerebri). Während der bis zum 11. September 1995 dauernden stationären Behandlung besserten sich die Beschwerden des Klägers deutlich (Krankenbericht vom 14. September 1995, siehe auch den Durchgangsarztbericht vom 4. September 1995). Des Weiteren teilte der Facharzt für Chirurgie Dr. C. der Beklagten mit, dass nach vorläufiger Schätzung die Erwerbsfähigkeit des Klägers über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus nicht gemindert sei (Mitteilung vom 19. September 1995). Dr. C. entließ den Kläger am 19. Oktober 1995 aus der ambulanten Behandlung. Der Kläger war ab 28. Oktober 1995 wieder arbeitsfähig (vgl. die am 23. Oktober 1995 bei der Beklagten eingegangene Mitteilung). Nachdem der Kläger sich im Sommer 1996 wegen Brust- und Wirbelsäulenbeschwerden wieder in ärztliche Behandlung begeben hatte (vgl. den Durchgangsarztbericht vom 3. Juli 1996 und den Befundbericht des Arztes für Orthopädie Dr. D. vom 5. August 1996), veranlasste die Beklagte zur Klärung von Unfallfolgen das orthopädische Gutachten des Dr. E. vom 31. Oktober 1997. Dr. E. gelangte zu dem Ergebnis, dass die Gesundheitsstörungen "schicksalsmäßiger Natur und keineswegs durch das Unfallgeschehen entstanden" seien. Unfallspezifische Befunde lägen nicht vor. Darüber hinaus sei eine relevante Gesundheitsstörung der HWS nicht vorhanden. Eine signifikante Funktionsschädigung sei nicht zu erkennen. Die nun vorgetragenen Beschwerden der HWS und des Brustkorbs seien deshalb nicht Folge des Unfalls, sondern stünden in Zusammenhang mit einem Haltungsfehler und allgemeiner muskulärer Dysbalance. Über den 27. Oktober 1995 hinaus sei eine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen Unfallfolgen nicht nachzuweisen. Daraufhin lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab (Bescheid vom 9. Dezember 1997) und wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 2. März 1998).

3

Dagegen richtet sich die noch im selben Monat vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhobene Klage. Das SG hat das orthopädisch-chirurgische Gutachten des Dr. F. vom 7. Februar 2000 eingeholt, das im Ergebnis die Wertung des Dr. E. bestätigt hat: Objektivierbare Gesundheitsstörungen, die auf eine unfallbedingte Schädigung anatomischer Strukturen an der HWS hindeuteten, seien nicht verblieben. Anschließend hat auf Antrag des Klägers Dr. G. das neurochirurgische Gutachten vom 26. September 2000 erstattet. Dieser Sachverständige nahm ein vorwiegend muskulär bedingtes chronisches Syndrom und eine allgemeine Belastungsinsuffizienz der HWS als Traumafolge sowie eine traumatische Instabilität des Bewegungssegments 1/2 bei Teilzerreißung des vorderen und hinteren Bandapparates an. Die MdE schätzte der Sachverständige auf Dauer auf 20 vom Hundert (vH). Des Weiteren hat der Kläger das Gutachten des Kfz-Sachverständigenbüro H. vom 24. September 1995 in das Verfahren eingeführt. Das SG hat die Akten des Landgerichts Osnabrück zu dem Rechtsstreit des Klägers gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung beigezogen. Durch Urteil vom 16. November 2001 hat es die Klage abgewiesen und sich auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. F. gestützt.

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Gegen das ihm am 19. Dezember 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. Januar 2002 Berufung eingelegt. Insbesondere unter Hinweis auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. G. hält er an seiner Auffassung fest, dass ihm Verletztenrente zustehe und beantragt sinngemäß,

  1. 1.

    das Urteil des SG Osnabrück vom 16. November 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 16. November 2001 zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

7

Der Senat hat durch Beschluss vom 5. Dezember 2002 den Antrag des Klägers, ihm für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren, abgelehnt und die Beteiligten durch Verfügung vom selben Tag darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, über das Rechtsmittel durch Beschluss gemäß §153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15. Januar 2003 gegeben worden, die auf den Schriftsatz des Klägers vom 17. Dezember 2002 bis zum 31. Januar 2003 verlängert worden ist.

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Dem Senat haben neben den Prozessakten die Unfallakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Gründe

9

II.

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Entscheidung konnte deshalb durch Beschluss ergehen (§ 153 Abs. 4 SGG).

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Das SG hat die zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Denn die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verletztenrente, weil seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls, den er am 4. September 1995 erlitt, nicht um mindestens 20 v.H. gemindert ist (§ 551 Abs. 1 Ziff. 2 der auf den vorliegenden Sachverhalt noch anzuwendenden - vgl. Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 Sozialgesetzbuch VII - Reichsversicherungsordnung). Dieses hat das SG zutreffend dargelegt. Darauf nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 2 SGG). Lediglich im Hinblick auf das Vorbringen im Berufungsverfahren ist zusammenfassend auf Folgendes hinzuweisen:

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Für die Beurteilung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs der vom Kläger angegebenen Beschwerden der HWS mit dem Arbeitsunfall vom 4. September 1995 kommt es entscheidend darauf an, ob die HWS bei dem Unfall strukturell verletzt worden ist. Davon kann auch nach den Ausführungen des auf Antrag des Klägers gehörten Sachverständigen Dr. G. nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgegangen werden.

12

Dem erkennenden Senat erscheint schon der Hinweis des Sachverständigen zweifelhaft, die von ihm angenommene "traumatische Instabilität des Bewegungssegments HWK 1/2 bei Teilzerreißung des vorderen und hinteren Bandapparates" könne durch computergestützte bildgebende Verfahren, die "sehr sensibel" sind (Gutachten des Sachverständigen Dr. F. vom 7. Februar 2000, S. 12) und die hier einen unauffälligen Befund ergaben (Befundbericht des Dr. I. vom 22. August 2000), nicht festgestellt werden. Entscheidend ist indessen, dass die wegen der Beschwerdeangaben des Klägers noch im Unfallmonat von dem Chefarzt der chirurgischen Abteilung im J., veranlassten Funktionsaufnahmen der HWS "keinen Hinweis auf eine knöcherne Verletzung oder disco-ligamentäre Instabilität ergaben" (Befundbericht des Dr. C. vom 29. September 1995). Des Weiteren haben die Ärzte, die die von Dr. G. als pathologisch befundeten Funktionsaufnahmen der HWS im Jahr 1997 fertigten und auswerteten, diese als regelrecht bewertet und dies durch die Formulierung "Aufklappen des Atlanto-Dental-Gelenkspaltes noch innerhalb der Normvarianz" zum Ausdruck gebracht (Befundbericht des Dr. K. vom 9. Juni 1997, S. 3 oben; siehe auch das orthopädische Gutachten des Dr. E. vom 31. Oktober 1997, S. 15 f.).

13

Im Übrigen hat der Sachverständige Dr. G. darauf hingewiesen, dass die Relevanz der von ihm gesehenen Auffälligkeiten in der Literatur kontrovers diskutiert wird. Seine Schlussfolgerung, dass unter Berücksichtigung einer klinischen Beschwerdesymptomatik die Auffälligkeiten "Traumafolgen darstellen und als Teilzerreißung bzw. Überdehnungen der ligamentären Strukturen gelten" (S. 41 f. des neurochirurgischen Gutachtens vom 26. September 2000), vermag jedenfalls in dem hier zu beurteilenden Rechtsstreit nicht zu überzeugen. Vielmehr hat Dr. E. im Einzelnen herausgearbeitet (S. 10 ff., 18 ff. des orthopädischen Gutachtens vom 31. Oktober 1997), dass auch ein wesentlich auffälliger klinischer Befund nicht bestand. Diesen allein in einer "Schmerzempfindlichkeit" (S. 41 des neurochirurgischen Gutachtens vom 26. September 2000) des cranio-cervikalen Übergangs zu sehen, vermag den erkennenden Senat nicht zu überzeugen, zumal der Sachverständige Dr. F. lediglich eine "normal geringe Druckschmerzhaftigkeit" (S. 6 des Gutachtens vom 7. Februar 2000) beschrieben hat und Dr. E. auf eine Druckempfindlichkeit im Ansatzbereich der Nackenstreckmuskulatur hinwies (S. 12 f. des orthopädischen Gutachtens vom 31. Oktober 1997).

14

Schließlich kann - entgegen der Auffassung des Klägers - aus dem Schaden am Pkw nicht zwangsläufig auf eine Unfallverletzung geschlossen werden. Denn selbst "schwere" Unfälle können unverletzt überlebt werden. Entscheidend ist deshalb der medizinische Befund, der hier - wie ausgeführt - eine strukturelle, ernsthafte Verletzung nicht belegt.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

16

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.