Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 04.02.2003, Az.: L 5 SB 113/02

Höhe des Grades der Behinderung (GdB); Psychovegetative Unausgeglichenheit, Lungenfunktionseinschränkung; Bestimmung des Grads der Behinderung (GdB) hinsichtlich der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen und Bildung eines Gesamt-Grades der Behinderung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
04.02.2003
Aktenzeichen
L 5 SB 113/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 10065
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0204.L5SB113.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - AZ: S 7 SB 36/00

Redaktioneller Leitsatz

Der Grad der Behinderung (GdB) ist nach den in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbstständig zu bewerten. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft den Anspruch des Klägers mit einem höheren Grad der Behinderung (GdB) als 40.

2

Bei dem am I. geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt (VA) mit Bescheid vom 15. Dezember 1995 einen GdB von 50 wegen eines Herzinfarkts im Stadium der Heilungsbewährung fest. Im Überprüfungsverfahren holte es einen Befundbericht des Internisten und Kardiologen Dr. J. (mit weiteren ärztlichen Unterlagen) ein und hörte den Kläger unter Hinweis auf die abgelaufene Heilungsbewährung zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB an. Nachdem der Kläger auf einen operationsbedingten Zwerchfellhochstand mit Atembeeinträchtigung hingewiesen hatte, stellte das VA mit Bescheid vom 14. November 1996 einen GdB von 50 sowie ab 16. Juli 1996 den Nachteilsausgleich "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Beweglichkeit im Straßenverkehr) unter Hinweis auf die abgelaufene Heilungsbewährung wegen folgender Funktionseinschränkungen fest:

  1. a)

    Bypassoperation, Herzinfarktnarbe, koronare Herzkrankheit (verwaltungsinterne Bewertung: 10),

  2. b)

    einseitiger Zwerchfellhochstand, rückläufige Lungenfunktionseinschränkung (verwaltungsinterne Bewertung: 50).

3

Auf den Antrag vom 29. Oktober 1997, mit dem der Kläger auf eine Prostataerkrankung hinwies, holte das VA Befundberichte des Urologen Dr. K. sowie des Dr. J. (mit weiteren ärztlichen Unterlagen) ein und hörte den Kläger am 26. März 1998 unter Hinweis auf "neue ärztliche Unterlagen von Dr. J." zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 30 an. Hiergegen erhob der Kläger Einwendungen und beantragte am 5. Mai 1998 die Feststellung eines höheren GdB wegen weiterer Beeinträchtigungen sowie den Nachteilsausgleich "G". Das VA holte Befundberichte des Dr. K., des Dr. J. sowie ärztliche Unterlagen der LVA Hannover (Entlassungsbericht der L., arbeitsamtsärztliches Gutachten, Gutachten des MDKN sowie ein psychiatrisches Untersuchungsgutachten des Arztes M.) ein. Mit Bescheid vom 14. Oktober 1998 hob es den Bescheid vom 14. November 1996 auf und stellte einen GdB von 30 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest wegen folgender Funktionseinschränkungen:

  1. 1.

    Lungenfunktionseinschränkung (verwaltungsinterne Bewertung: 30),

  2. 2.

    psychovegetative Unausgeglichenheit (verwaltungsinterne Bewertung: 20),

  3. 3.

    Bypassoperation, Herzinfarktnarbe, Herzkrankheit (verwaltungs-interne Bewertung: 10).

4

Im Vorverfahren berief sich der Kläger auf einen Befundbericht des Dr. J. vom 8. Februar 1999, der im Rentenrechtsstreit des Klägers durch das Sozialgericht (SG) Osnabrück eingeholt worden war. Das VA hörte den Kläger unter Bezugnahme auf die Anhörung vom 26. März 1998 sowie die Unterlagen der Dres. N. sowie der LVA Hannover am 8. September 1999 zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 40 an und stellte diesen GdB ab 1. November 1998 mit Teil-Abhilfebescheid vom 12. Oktober 1999 fest. Zu Grunde lagen die Funktionsbeeinträchtigungen:

  1. 1.

    Lungenfunktionseinschränkung (verwaltungsinterne Bewertung: 30),

  2. 2.

    psychovegetative Unausgeglichenheit (verwaltungsinterne Bewertung: 20).

5

Ohne den GdB erhöhenden Einfluss blieben Herzkranzgefäßdurchblutungsstörungen, Herzinfarktnarbe und Bypassoperation. Ohne Einzel-GdB bleibe eine Prostataerkrankung. Der weiter gehende Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 2000).

6

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 7. Februar 2000 Klage erhoben und einen GdB von 50 begehrt. Er hat eingeräumt, der Zwerchfellhochstand sei beseitigt, aber die weiteren Störungen, insbesondere die nach einem Gutachten im Rentenrechtsstreit im Vordergrund stehende Hauptbeeinträchtigung im psychischen Bereich bedingten einen GdB von 50.

7

Das SG Osnabrück hat Beweis erhoben durch Aktengutachten der Internistin und Kardiologin Dr. O. vom 9. April 2001. Die Sachverständige hat den GdB mit 50 bewertet. Durch Urteil vom 25. April 2002 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) seien erfüllt. Die Situation des Klägers habe sich in der Zeit nach dem bestandskräftigen Bescheid vom 14. November 1996 verbessert. Die erfolgreiche Bypassoperation und Konsolidierung der kardialen Leistungsfähigkeit auf hohem Belastungsniveau bei einer Ergometerleistung von 150 Watt ohne hämodynamische Defektsymptomatik führe nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) - Ausgabe 1996 - lediglich zu einem GdB von 10 (AHP S. 86 - 88). Die frühere Lungenfunktionseinschränkung sei infolge der vollständigen Zurückbildung des Zwerchfellhochstands beseitigt und könne entgegen der Äußerung der Sachverständigen allenfalls mit einem GdB von 30, keineswegs mit einem GdB von 40 bewertet werden (AHP S. 83). Zwar habe sich zwischenzeitlich eine Verschiebung der Wesensgrundlage eingestellt. Entgegen der fachfremden Bewertung durch die Sachverständige sei hierfür allerdings lediglich ein GdB von 30 gerechtfertigt (AHP S. 60 f). Diese Einschränkungen könnten nicht mehr mit einem GdB von 50 eingestuft werden. Die Einschränkung der Körperfunktion des Klägers sei nur noch leichtgradig und könne den maßgeblich durch seelische Störungen geprägten Gesamt-Behinderungsstatus über einen GdB von 40 hinaus nicht erhöhen.

8

Gegen das am 4. Juni 2002 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 4. Juli 2002 eingegangenen Berufung, die er auf das erstinstanzliche Gutachten stützt. Er rügt, das SG habe sich über die medizinische Kompetenz der Sachverständigen hinweggesetzt und eine eigenständige fehlerhafte Bewertung vorgenommen.

9

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Osnabrück vom 25. April 2002 aufzuheben und den Teil-Abhilfebescheid vom 12. Oktober 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Januar 2000 zu ändern,

  2. 2.

    den Beklagten zu verpflichten, weiterhin einen GdB von 50 festzustellen.

10

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten des VA Osnabrück (Az. P.) sowie die Akte des SG Osnabrück - S 11 RJ 195/98 - vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

13

Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein höherer GdB als 40 nicht (mehr) zu.

14

Der Senat hat über eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu entscheiden. Diese stellt sich als eine gegenüber dem erstinstanzlich protokollierten Anfechtungsantrag sachdienliche Klagänderung im Sinne des § 99 Abs. 1 SGG dar. Das SG hat lediglich über einen Anfechtungsantrag des Klägers entschieden, der sich gegen den Bescheid vom 14. Oktober 1999/Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 2000 richtete. Das VA hatte den durch den bestandskräftigen Bescheid vom 14. November 1996 festgestellten GdB (ohne Verstoß gegen die aus § 24 SGB X folgende Anhörungspflicht) reduziert und damit in Rechte des Klägers eingegriffen. Grundlage der Entscheidung waren indes die Anträge vom 29. Oktober 1997 und 5. Mai 1998, mit denen der Kläger eine Neufeststellung seines Behindertenstatus beantragt hatte. Das SG selbst hat durch die Beweiserhebung den Behinderungsstatus des Klägers bis zur mündlichen Verhandlung ermittelt und sich in den Entscheidungsgründen damit auseinander gesetzt. Das ist auch Gegenstand des Berufungsvorbringens.

15

Prüfungsmaßstab ist § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein mit Dauerwirkung ausgestatteter Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Dass dies im Falle des Klägers zu bejahen ist, hat das SG unter Würdigung der von ihm erwähnten medizinischen Unterlagen zutreffend ausgeführt. Zur Vermeidung überflüssiger Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug.

16

Ergänzend ist hinzuzufügen: Der psychische Befund, den die Nervenärzte Dr. Q. in dem am 13. Dezember 1999 für das SG Osnabrück im Rentenrechtsstreit des Klägers erstatteten Untersuchungsgutachten erhoben haben, belegt, dass die vorrangige Beeinträchtigung des Klägers im psychischen Bereich besteht. Die inzwischen ausgeprägte angstneurotische Entwicklung mit ängstlicher Selbstbeobachtung, phobischem Vermeidungsverhalten und depressiver Komponente ist mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten (AHP S. 60). Selbst wenn man aber für diese Beeinträchtigung den Wert von 40 zu Grunde legt, ergibt sich in der Gesamtbetrachtung ein höherer GdB als 40 nicht. Denn die rein körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers sind angesichts der durch das Untersuchungsgutachten der Internistin und Kardiologin Frau Dr. O. vom 4. August 1999 im Rentenrechtsstreit belegten guten Einstellung des Blutdrucks unter Betablocker-Medikation, einer lediglich leichten restriktiven Lungenventilationsstörung und nur funktionellen Herzbeschwerden lediglich leichtgradiger Natur und können insgesamt zu einem Teilwert in Höhe von allenfalls 20 führen. Bei diesen leichtgradigen Befunden ist es jedoch nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. AHP S. 35).

17

Zu Unrecht wendet sich der Kläger dagegen, dass das SG den GdB abweichend von der Sachverständigen festgestellt hat ... Den GdB festzusetzen ist nicht Aufgabe des Sachverständigen, sondern des Gerichts. Es handelt sich um eine Rechtsfrage. Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbstständig zu bewerten. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81, 50; 82, 176).

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

19

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.