Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 06.02.2003, Az.: L 12 RI 28/02

Inhalt beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen; Art und Umfang berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation unter Berücksichtigung arbeitsmarktlicher Zweckmäßigkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
06.02.2003
Aktenzeichen
L 12 RI 28/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 16014
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0206.L12RI28.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 14.08.2002 - AZ: S 6 RI 90/01

Tenor:

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 14. August 2002 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um den Inhalt beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen.

2

Der 1959 geborene, aus Polen stammende Kläger lebt seit 1989 in Deutschland. Beruflich war er zuvor in seinem erlernten Beruf als Bauinstallateur (Klempner) tätig. Ab Februar 1991 arbeitete er als Lagerarbeiter in einer Lebensmittelfabrik. Das Arbeitsverhältnis wurde im April 2000 aus gesundheitlichen Gründen gelöst. Seitdem ist der Kläger arbeitslos.

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Im Februar 2000 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung berufsfördernder Leistungen zur Rehabilitation. Die Beklagte holte von ihrem Sozialmedizinischen Dienst (Orthopäde Dr. I.) eine Stellungnahme vom 4. Mai 2000 ein. Darin heißt es unter Bezugnahme auf den Reha-Entlassungs-Bericht der Reha-Klinik J. vom 4. November 1999, der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten, sofern keine ständige Tätigkeit im Hocken anfalle; die Tätigkeit als Lagerarbeiter sei noch möglich. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag unter dem 11. Mai 2000 mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei nicht gemindert oder erheblich gefährdet. Auf den dagegen erhobenen Widerspruch bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Juni 2000 dem Grunde nach berufsfördernde Leistungen.

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Im Rahmen der Prüfung von Art und Umfang der Leistungen wurde das Arbeitsamt Bre-men von der beabsichtigten Berufsförderung in Kenntnis gesetzt. Ferner fand am 28. September 2000 ein Beratungsgespräch statt. Mit Bescheid vom 24. November 2000 - dem jetzt angefochtenen Bescheid - bewilligte die Beklagte eine berufliche Integrationsmaßnahme ("BPE-Maßnahme") für die Dauer von voraussichtlich zwölf Monaten beim Berufsfortbildungswerk des DGB in Bremen. Der Kläger hatte sich hiermit während eines Gesprächs beim Berufsfortbildungswerk einverstanden erklärt.

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Mit Widerspruch vom 12. Dezember 2000 wandte sich der Kläger jedoch gegen diese Bewilligung und begehrte die Gewährung einer qualifizierten Umschulung. Er trug vor, die berufspraktische Integrationsmaßnahme sei für ihn gesundheitlich nicht geeignet. Nach seinen Erkundigungen beinhalte diese Maßnahme überwiegend handwerkliche Tätig-keiten, zu denen er wegen seiner körperlichen Beeinträchtigungen nicht imstande sei. Ausbildungsinhalt sei außerdem das Trainieren von Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Diese Fähigkeiten besitze er aber bereits, was auch sein früherer Arbeitgeber bestätigen könne. Nach alldem halte er vielmehr eine Ausbildung in einem Büroberuf, z.B. als Groß- und Außenhandels-, oder Automobilkaufmann für angezeigt.

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Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. April 2001 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass dem Kläger die Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation durch einen Reha-Fachberater bereits erläutert worden seien. Dem Kläger, der bereits in diesem Gespräch den Wunsch nach einer Umschulung geäußert habe, sei erklärt worden, dass aufgrund seines Lebensalters und beruflichen Werdeganges eine Umschulung nicht gefördert werden könne. Auch würden die Ver-mittlungschancen durch eine umfangreiche Ausbildung aufgrund des Lebensalters nicht erhöht.

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Der Kläger hat am 19. April 2001 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben, mit der er seinen Anspruch weiter verfolgt hat.

8

Das SG Bremen hat mit Gerichtsbescheid vom 14. August 2002 die Beklagte unter teil-weiser Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Zur Begründung hat das Ge-richt ausgeführt, die Bescheide seien ermessensfehlerhaft ergangen. Gemäß § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) handele es sich bei den Leistungen zur Re-habilitation nicht um Pflicht-, sondern um Kann-Leistungen. Das Ermessen der Verwal-tung erstrecke sich insoweit auf das "Wie" der Rehabilitationsleistungen, nämlich Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung. Ein Ermessensfehler liege insbesondere dann vor, wenn die Verwaltung das für die Entscheidungsfindung vorgeschriebene Ver-fahren nicht einhalte. Ein solcher Verfahrensfehler liege hier vor, weil die nach § 5 Abs. 4 Reha-Angleichungsgesetz - RehaAnglG - (in der vom 01.01.1998 - 30.06.2001 g. F.) erfor-derliche Beteiligung der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nicht erfolgt sei. Die BA nehme auf Anforderung eines anderen Rehabilitationsträgers zu Notwendigkeit, Art und Umfang berufsfördernder Leistungen unter Berücksichtigung arbeitsmarktlicher Zweckmäßigkeit gutachtlich Stellung und unterbreite dem Rehabilitationsträger unter Berücksichtigung von Eignung, Neigung und bisheriger Tätigkeit des Betroffenen sowie Lage und Ent-wicklung des Arbeitsmarktes einen Eingliederungsvorschlag. Diese Beteiligung sei ohne erkennbaren sachlichen Grund unterblieben. Der angefochtene Bescheid sei aber auch wegen fehlerhafter Begründung der Ermessensentscheidung rechtswidrig. Nach § 35 Abs. 1 S. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) müsse die Begründung von Er-messensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Be-hörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen sei. Dies sei hier nicht gesche-hen, denn die Bescheide ließen nicht erkennen, welche Gesichtpunkte die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt und wie sie diese gewichtet habe. Es sei schon nicht ersichtlich, dass die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen überhaupt er-kannt habe. Von einer Ermessensreduzierung auf Null könne jedenfalls gegenwärtig schon deswegen nicht ausgegangen werden, weil der Sachverhalt wegen der fehlenden Beteiligung der BA nicht vollständig aufgeklärt sei. Zudem fehle es an der auch bei einer Ermessensreduzierung auf Null notwendigen Darlegung in den Gründen des angefoch-tenen Bescheides.

9

Gegen diesen ihr am 3. September 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 1. Oktober 2002 (durch Telefax) Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung führt sie aus, das SG habe fehlerhaft die bis zum 31. Dezember 1997 geltende Rechtslage fortgeführt. Durch die am 1. Januar 1998 durch das 1. SGB III-ÄndG erfolgte Gesetzesänderung sei die Verpflichtung der BA entfallen, den anderen Rehabilitationsträgern die erforderlichen berufsfördernden Maßnahmen in Form eines Eingliederungsvorschlages zu unterbreiten. Soweit der zuständige Reha-Träger die Ein-holung einer gutachtlichen Stellungnahme der BA für entbehrlich halte, beschränke sich seine Verpflichtung, die BA in das Verfahren einzubinden, auf die Mitteilung, welche Qualifizierungs-, oder Bildungsmaßnahmen er im Einzelnen durchführe. So lägen die Dinge auch im Streitfall. Auch im Übrigen liege eine ermessensfehlerhafte Entscheidung nicht vor. Es habe ein ausführliches Gespräch mit dem Reha-Fachberater stattgefunden, in dem die zu der späteren Entscheidung führenden Erwägungen mit dem Kläger erörtert worden seien. Durch die Bezugnahme des Widerspruchsbescheides auf dieses Ge-spräch seien die wesentlichen Gesichtspunkte der Ermessensabwägung durchaus wie-dergegeben.

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Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 14. August 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

11

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Er verweist zur Erwiderung auf sein bisheriges Vorbringen und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheides.

13

Das Gericht hat die Rentenakte der Beklagte - Vers.-Nr. 68 101159 B 003 - beigezogen. Der Inhalt dieser Akte und der Prozessakte des LSG Niedersachsen-Bremen - L 12 RI 28/02 (S 6 RJ 90/01) - ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG Bremen hat die Beklagte zu Unrecht zur Neubescheidung verurteilt. Der angefochtene Bescheid ist nicht ermessensfehlerhaft ergangen.

15

Die Entscheidung beruht zum einen nicht auf einem Verfahrensfehler. § 5 RehaAnglG ist durch das 1. SGB III-ÄndG modifiziert worden. Die BA ist nach Abs. 4 S. 1 von anderen Reha-Trägern vor der Einleitung berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation zwar weiterhin zu beteiligen, hat jedoch nach S. 2 nur noch auf Aufforderung durch die anderen Träger zu Notwendigkeit, Art und Umfang berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation unter Berücksichtigung arbeitsmarktlicher Zweckmäßigkeit gutachterlich Stellung zu nehmen (einen sogenannten Eingliederungsvorschlag zu erstellen). Die in § 5 Abs. 4 RehaAnglG a.F. verankerte Verpflichtung der Reha-Träger, die BA bereits bei der vor Einleitung berufsfördernder Leistungen zur Rehabilitation stattfindenden Beratung des Versicherten zu beteiligen, wurde damit aufgegeben. § 5 Abs. 4 S. 2 RehaAnglG in der vom 1. Januar 1998 bis 30. Juni 2001 g. F. entspricht insoweit bereits der jetzt geltenden Rechtslage des § 38 S. 1 SGB IX.

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Ihrer Verpflichtung, die BA zu beteiligen, hat die Beklagte durch die Mitteilung über die Bewilligung der Rehabilitationsmaßnahme dem Grunde nach mit ihrem Bescheid vom 16. Juni 2000 genügt. Die BA war vorliegend jedenfalls über die geplante berufliche Rehabilitation informiert, wie eine Anfrage des Arbeitsamts Bremen vom 13. Oktober 2000 zeigt; sie hatte damit die Möglichkeit, sich hinsichtlich der Art und des Umfangs der beruflichen Rehabilitation in die anstehende Beratung einzubringen. Dass die BA sich im der erwähnten Anfrage damit begnügt hat, sich nach dem Sachstand zu erkundigen, kann nicht der Beklagten angelastet werden.

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Der angefochtene Bescheid ist zum anderen nicht wegen eines Begründungsmangels rechtswidrig. Die Begründungspflicht ist für Ermessensentscheidungen dahingehend erweitert, als auch die Gesichtspunkte erkennbar sein müssen, von denen sich die Behörde hat leiten lassen (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Richtig ist zwar, dass der Bescheid vom 24. November 2000 keine Ermessenserwägungen enthält. Im Hinblick auf § 35 Abs. 2 Nr. 1 SGB X war dies auch nicht erforderlich, da der Kläger zunächst mit der vorgesehenen BPE-Maßnahme einverstanden war. Sodann ist die Begründung der Entscheidung im Widerspruchsverfahren gegeben worden, wobei die Beklagte die Ausübung von Ermessen erkennen lassen hat. Diese Begründung genügt den Anforderungen des § 35 SGB X. Die Begründung kann sich auf die wesentlichen, die Entscheidung tragenden Gründe konzentrieren. Sie muss nicht auf alle Einzelheiten eingehen.

18

So hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid unter ausdrücklichem Hinweis auf das vor der Bewilligung durchgeführte Beratungsgespräch dargelegt, dass sie eine Umschulung angesichts der beruflichen Vergangenheit und des Lebensalters nicht für angezeigt halte; eine Verbesserung der Vermittlungschancen des Klägers durch eine umfangreiche Ausbildung werde in Anbetracht seines Lebensalters nicht erwartet. Die Beklagte ist ferner unter Hinweis auf die Feststellungen im Rehabilitationsverfahren dem Einwand des Klägers entgegen getreten, die geplante Maßnahme werde ihn gesundheitlich überfordern.

19

Die seitens des Klägers gegen die bewilligte BPE-Maßnahme vorgebrachten Einwände betreffen den gerichtlicherseits nicht überprüfbaren Ermessensbereich der Beklagten, nämlich das "Wie" der beruflichen Rehabilitation. Es stellt jedenfalls keinen Ermessensfehlgebrauch dar, wenn die Beklagte von einer Umschulung in einen für den Kläger völlig neuen beruflichen Bereich Abstand nimmt. Die diesbezüglichen Erwägungen der Beklagten sind vielmehr von ihrem Ermessen gedeckt.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

21

Für die Zulassung der Revision lag kein gesetzlicher Grund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG vor.