Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 06.02.2003, Az.: L 6 KN 8/02 U
Beginn der Verzinsung eines Rentennachzahlungsbetrages; Beachtung des Zeitpunkts der Antragsstellung ; Erforderlichkeit der Antragsstellung; Fortwirkung eines einmal gestellten Antrags
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 06.02.2003
- Aktenzeichen
- L 6 KN 8/02 U
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 12398
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0206.L6KN8.02U.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 07.05.2002 - AZ: S 40 KN 107/99 U
Rechtsgrundlagen
- § 44 Abs. 1 SGB I
- § 44 Abs. 2 SGB I
Redaktioneller Leitsatz
Die 1. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I ist auch dann für den Verzinsungsbeginn maßgebend, wenn ein Antrag zwar gesetzlich nicht erforderlich, aber tatsächlich gestellt ist (z.B. bei Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung).
Ein auf den später entstandenen Anspruch gerichteter Antrag muss nicht erneut gestellt werden, sondern wirkt fort und ist in der fortdauernden Anfechtung zu sehen; dies hat zur Folge, dass für den Verzinsungsbeginn des neuen Anspruchs grundsätzlich die 1. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I zum Zuge kommt.
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. Mai 2002 und der Bescheid der Beklagten vom 17. November 1999 werden geändert. Die Beklagte wird verurteilt, den Nachzahlungsbetrag auch für die Zeit vom 1. April bis 31. Oktober 1997 zu verzinsen. Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Beginn der Verzinsung eines Rentennachzahlungsbetrages.
Die Klägerin ist die Ehefrau und Sonderrechtsnachfolgerin des am 10. Juli 1923 geborenen und am 22. Mai 2002 verstorbenen Versicherten D ...
Der Versicherte beantragte am 16. November 1990 mit dem dafür vorgesehenen Vordruck Unfallrente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose). Mit Bescheid vom 4. November 1993 lehnte die Beklagte "einen Anspruch auf Entschädigung aus Anlass der Berufskrankheit - BK - nach Nr. 4101 (Quarzstaublungenerkrankung - Silikose) oder nach Nr. 4102 (Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose - Siliko-Tuberkulose - ) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKV - " ab. Zur Begründung führte sie aus, die Röntgenfilme vom 13. Juli 1993 zeigten nach ärztlicher Beurteilung keine eindeutigen Quarzstaublungenveränderungen, und eine aktive Lungentuberkulose liege nicht vor. Widerspruch und Klage gegen den ablehnenden Bescheid blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. März 1994 und Urteil des Sozialgerichts - SG - Hannover vom 17. Oktober 1995). Im Berufungsverfahren erkannte die Beklagte im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs vom 5. Februar 1998 eine chronische obstruktive Atemwegserkrankung im Sinne der - mit Wirkung vom 1. Dezember 1997 in die Liste der BKen aufgenommenen - BK Nr. 4111 (chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren) an und verpflichtete sich demgemäß, Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu erbringen. Mit dem daraufhin erteilten Ausführungsbescheid vom 17. September 1998 bewilligte sie dem Versicherten ab 19. September 1996 eine Teilrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente und überwies ihm - nach Erfüllung von Erstattungsansprüchen der Rentenversicherungsträger - einen Restbetrag von 9.043,01 DM. Mit Bescheid vom 19. November 1998 setzte sie für die Zeit vom 1. April bis 31. Oktober 1998 bei einem Zinssatz von 4 v.H. einen Zinsbetrag von 179,53 DM fest. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1999).
Dagegen hat der Kläger am 14. Juli 1999 Klage vor dem SG Hannover erhoben und geltend gemacht, der Nachzahlungsbetrag sei zumindest ab 1. November 1996 zu verzinsen. Die Beklagte hat im Laufe des Klageverfahrens den Beginn der Verzinsung mit Bescheid vom 17. November 1999 auf den 1. November 1997 vorverlegt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 7. Mai 2002 abgewiesen: Nach § 44 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - SGB - I beginne die Verzinsung frühestens nach Ablauf von 6 Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zu-ständigen Leistungsträger (1. Halbsatz), beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung (2. Halbsatz). Der Kläger habe zwar - entgegen der Auffassung der Beklagten - bereits am 16. November 1990 einen vollständigen Leistungsantrag im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB I bei der Beklagten gestellt. Der vollständige Leistungsantrag führe aber nicht zur Verzinsung des Anspruchs frühestens nach Ablauf von 6 Kalendermonaten nach Eingang des Antrags. Denn in der gesetzlichen Unfallversicherung sei grundsätzlich ein Leistungsantrag nicht erforderlich. Somit komme es zu einer entsprechenden Anwendung des § 44 Abs. 2, 2. Halbsatz SGB I, der für die Fälle als Auffangnorm diene, in denen die Leistungen von Amts wegen festzustellen seien. Der Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung der Beklagten sei vorliegend der Zeitpunkt des Vergleichsschlusses vor dem Landessozialgericht - LSG -. Daher beginne die Verzinsung am 1. April 1998 wie im Zinsbescheid vom 17. November 1999 ausgewiesen. Die Berufung sei gesetzlich ausgeschlossen, weil die nachgeforderte Zinsleistung unter 250,00 EUR liege. Sie sei mangels grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht zuzulassen.
Gegen dieses ihr am 11. Juni 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. Juli 2002 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Sie hat geltend gemacht, das angefochtene Urteil weiche von der Entscheidung des Bundessozialgerichts - BSG - vom 25. August 1982 - Az: 2 RU 17/81 - ab und beruhe auf dieser Abweichung. Mit diesem Urteil habe sich auch der 2. Senat des BSG der Auffassung angeschlossen, dass ein an sich nicht erforderlicher Leistungsantrag die Verzinsungspflicht jedenfalls dann auslöse, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung die zur Feststellung der Leistung erforderlichen Tatsachen der Verwaltung bereits bekannt seien oder mit dem Antrag bekannt gemacht werden.
Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 29. November 2002 wegen Abweichung der angefochtenen Entscheidung von der Rechtsprechung des BSG zugelassen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
- 1.
das Urteil des SG Hannover vom 7. Mai 2002 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 17. November 1999 zu ändern,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, den Nachzahlungsbetrag bereits ab 1. November 1996 zu verzinsen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Hannover vom 7. Mai 2002 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung zulässige Berufung ist teilweise begründet. Der Anspruch des Versicherten ist auch für die Zeit vom 1. April bis 31. Oktober 1997 gemäß § 44 SGB I mit 4 v.H. zu verzinsen, nicht jedoch - wie zusätzlich geltend gemacht - für die Zeit vom 1. November 1996 bis zum 31. März 1997.
Gemäß § 44 Abs. 1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit 4 v.H. zu verzinsen. Dabei beginnt die Verzinsung nach der 2. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I frühestens nach Ablauf von 6 Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zu-ständigen Leistungsträger. Nach der 2. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I, der die Bedeutung einer "Auffangnorm" zukommt, beginnt die Verzinsung beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Entgegen der Auffassung des SG ist aus dieser Regelung nicht herzuleiten, dass bei Leistungen, die - wie in der gesetzlichen Unfallversicherung - von Amts wegen festzustellen sind, dem Antrag für den Verzinsungsbeginn keine rechtliche Bedeutung zukommt. Insoweit folgt der Senat der Rechtsprechung des BSG, wonach die 1. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I auch dann für den Verzinsungsbeginn maßgebend ist, wenn ein Antrag zwar gesetzlich nicht erforderlich, aber tatsächlich gestellt ist (näher dazu BSG SozR 1200 § 44 Nr. 3; BSG, Urteile vom 22. Juni 1982 - Az: 9b/8 RU 6/81 - und vom 25. August 1982 - Az: 2 RU 17/81 - ).
Allerdings ist für den vorliegenden Sachverhalt zu berücksichtigen, dass nach dem Urteil des BSG vom 30. Januar 1991 - Az: 9a/9 RV 29/89 -, dem sich der erkennende Senat anschließt, der Antrag auf eine Geldleistung "verbraucht" ist, wenn der Anspruch zunächst zutreffend abgelehnt wurde, während des anschließenden Verfahrens eine nicht vorhersehbare tatsächliche oder rechtliche Änderung den Anspruch jedoch begründet. Eine solche Konstellation ist im vorliegenden Fall gegeben, weil der Versicherungsfall der BK Nr. 4111, wie sich aus dem einer Entscheidung über eine Leistung gleichstehenden gerichtlichen Vergleich vom 5. Februar 1998 ergibt, erst am 18. September 1996 eingetreten ist. Daraus ist jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten nicht herzuleiten, dass sich der Zinsbeginn nunmehr nach der 2. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I richtet. Denn ein auf den später entstandenen Anspruch gerichteter Antrag muss nicht erneut gestellt werden, sondern wirkt fort und ist in der fortdauernden Anfechtung - hier des ablehnenden Bescheides vom 4. November 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1994 - zu sehen; dies hat zur Folge, dass für den Verzinsungsbeginn des neuen Anspruchs grundsätzlich die 1. Alternative des § 44 Abs. 2 SGB I zum Zuge kommt (BSG, a.a.O. - S. 7 - ). Im vorliegenden Fall war der formularmäßige Antrag vom 16. November 1990 auf alle in Betracht kommenden Leistungen gerichtet und umfasste auch alle später eintretenden Änderungen rechtlicher und tatsächlicher Art (vgl. hierzu BSG SozR 3-1200 § 44 Nr. 9). Denn mit diesem Antrag hatte der Versicherte deutlich gemacht, dass er eine Entschädigung wegen der Gesundheitsschäden begehrte, die durch die mit der bergmännischen Tätigkeit verbundene Staubeinwirkung verursacht waren. Dieser Antrag ermöglichte es der Beklagten, ohne weiteres die erforderlichen Ermittlungen von Amts wegen einzuleiten.
Dementsprechend war die fortdauernde Anfechtung auch auf eine Entschädigung auf Grund des § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. die "neue" BK Nr. 4111 gerichtet. Daraus folgt, dass der mit seiner Fälligkeit (§ 41 SGB I) entstandene Anspruch auf Verletztenrente als zu diesem Zeitpunkt beantragt anzusehen ist und die Verzinsung sechs Kalendermonate danach, also am 1. April 1997, beginnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).