Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 14.02.2003, Az.: L 6 B 410/02 U
Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe; Anspruch auf Zahlung einer höheren Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung; Anerkennung einer seelischen Behinderung als zusätzliche Folge des Versicherungsfalls
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 14.02.2003
- Aktenzeichen
- L 6 B 410/02 U
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 19968
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0214.L6B410.02U.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 20.11.2002 - AZ: S 7 U 78/02
Rechtsgrundlagen
- § 73a SGG
- § 114 ZPO
Redaktioneller Leitsatz
Eine hinreichende Erfolgsaussicht einer Beschwerde besteht, sofern ein Erfolg oder Teilerfolg als durchaus möglich erscheint.
Sie ist insbesondere dann gegeben, wenn weitere Ermittlungen von Amts wegen geboten sind, die den geltend gemachten Anspruch möglicherweise stützen.
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 20. November 2002 wird aufgehoben. Dem Kläger wird ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und ihm Rechtsanwalt D., als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe - PKH - für das Verfahren vor dem Sozialgericht - SG - , in dem er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer höheren Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erstrebt.
Der 1983 geborene Kläger bezieht lediglich Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung in Höhe von 366,50 EUR monatlich (Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 12. April 2002).
Der Kläger erlitt bei seiner Tätigkeit als Praktikant in einem Bauunternehmen am 3. Juli 2000 einen Arbeitsunfall und zog sich eine schwere Quetschverletzung der linken Hand zu. Diese Verletzung hatte im Wesentlichen den Verlust des Zeige- , Mittel- , Ring- und Kleinfingers und die Aufhebung aller primären Greifformen sowie eine deutlich sichtbare kosmetische Veränderung der Hand zur Folge. Gestützt auf ein handchirurgisches Gutachten des Dr. E. vom 6. August 2001 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 17. September 2001 die Unfallfolgen im Einzelnen fest und bewilligte dem Kläger Verletztenrente, und zwar für die Zeit vom 3. August 2000 bis 3. Juni 2001 in Höhe von 50 v.H. und anschließend in Höhe von 40 v.H. der Vollrente. Mit dem dagegen gerichteten Widerspruch begehrte der Kläger, eine seelische Behinderung als zusätzliche Folge des Versicherungsfalls anzuerkennen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - durchgehend auf mindestens 50 v.H. festzustellen. Zur Begründung bezog er sich auch auf einen Arztbrief des Nervenarztes Dr. F. vom 18. Mai 2001. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Stellungnahme des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. vom 6. Dezember 2001 und wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2002).
Dagegen hat der Kläger am 28. März 2002 Klage vor dem SG Oldenburg erhoben und PKH beantragt. Das SG hat den Antrag auf PKH mit Beschluss vom 20. November 2002 abgelehnt: Die Handverletzung sei nach den gültigen Rentensätzen zutreffend mit einer MdE in Höhe von 40 v.H. bewertet worden. Eine seelische Störung als weitere Unfallfolge könne nach den entsprechenden fachärztlichen Befunden nicht anerkannt werden. Bei dem Kläger liege eine soziale Störung vor. Diese habe auch schon zum Zeitpunkt des Unfalls bestanden.
Gegen diesen ihm am 2. Dezember 2002 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 19. Dezember 2002 Beschwerde eingelegt. Er hat zur Begründung geltend gemacht: Das SG übersehe, dass zu der sozialen Störung auf Grund des unfallbedingten Verlustes mehrerer Finger psychische Beeinträchtigungen hinzugekommen seien. Er habe unter Beweis gestellt, dass er unter einer seelischen Beeinträchtigung mit Krankheitscharakter leide. Das SG hätte somit die angeregte Beweisaufnahme durchführen müssen.
Die Beklagte hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§ 73a Sozialgerichtsgesetz - SGG - i.V.m. § 127 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO - ). Sie ist auch begründet. Denn die wirtschaftlichen Voraussetzungen der PKH sind, wie sich aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers ergibt, erfüllt, und die Rechtsverfolgung bietet auch eine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO). Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, sofern ein Erfolg oder Teilerfolg als durchaus möglich erscheint. Sie ist insbesondere dann gegeben, wenn weitere Ermittlungen von Amts wegen geboten sind, die den geltend gemachten Anspruch möglicherweise stützen. So liegt es hier.
Es dürfte zutreffen, dass die unfallbedingte MdE im vorliegenden Fall aus rein handchirurgischer Sicht auf Grund der allgemein anerkannten unfallmedizinischen Bewertungsgrundsätze, die auf die im Regelfall maßgebenden Funktionsbeeinträchtigungen abstellen, mit 40 v.H. zutreffend bewertet ist (vgl. die den Unfallfolgezustand der linken Hand nicht exakt wieder gebenden Abbildungen 4.18 und 4.19 bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998, S. 601). Allerdings fällt auf, dass Dr. E. in seinem Krankheitsbericht vom 9. November 2000 die voraussichtliche MdE auf 45 v.H. geschätzt hatte. Entscheidend ist indessen, dass die Schätzung der MdE unter rein funktionellen Aspekten den Unfallfolgezustand hier möglicherweise nicht angemessen berücksichtigt.
Denn der Nervenarzt Dr. F., der den Kläger auf Grund seiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychiater kennt, hat in seinem ausführlichen Arztbrief vom 18. Mai 2001 zum Ausdruck gebracht, dass bei der Schätzung der unfallbedingten MdE die besonderen psychischen Beeinträchtigungen auf Grund der Vorschädigung nicht berücksichtigt sein dürften. Auch wenn der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. in seiner nach Aktenlage erstatteten Stellungnahme vom 6. Dezember 2001 die Auffassung vertritt, "die Beschwerden auf psychischen Gebiet seien mit ausreichender Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich nicht dem Unfall anzulasten", gibt die Beurteilung des Dr. F. doch Anlass dazu, von Amts wegen der Frage nach den psychischen Auswirkungen der Unfallfolgen nachzugehen und das Gutachten eines erfahrenen und mit psychoreaktiven Gesundheitsstörungen nach Versicherungsfällen vertrauten Sachverständigen - z.B. von Dr. H. - einzuholen. Denn im vorliegenden Fall ist es konkret möglich und nicht von vornherein unplausibel, dass die gravierenden Unfallfolgen die Psyche des Klägers in besonderer Weise beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Unfall den Kläger als sozial nicht gefestigten jungen Menschen getroffen hat und der Kläger wegen der Art und Schwere der Verletzung eine seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit im Baugewerbe nicht mehr ausüben kann. Insoweit ist bemerkenswert, dass der Kläger, wie sich aus dem Berufshelfer-Bericht vom 19. September 2000 ergibt, "einer der wenigen Jugendlichen war, der von vornherein eine klare Vorstellung über seinen beruflichen Werdegang hatte". Ferner leidet der Kläger auch, wie er gegenüber dem Gutachter Dr. E. geäußert hat, unter dem Aussehen der linken Hand, die er daher häufig in der Hosentasche versteckt (S. 3 des Gutachtens des Dr. E. vom 6. August 2001).
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).