Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 04.02.2003, Az.: L 5/9 VI 3/00

Anerkennung eines Diabetes mellitus als Impfschaden; Gewährung von Versorgung; Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit; Erbringung von Sozialleistungen; Übliches Ausmaß einer Impfreaktion; Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs im Rechtssinne; Impfung während einer Infektion; Voraussetzungen der so genannten "Kann-Versorgung"; Beurteilung nach Lage der Akten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
04.02.2003
Aktenzeichen
L 5/9 VI 3/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19938
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0204.L5.9VI3.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 13.01.2000 - AZ: S 18 VI 22/97

Redaktioneller Leitsatz

Ein Anspruch auf Versorgung besteht, wenn durch eine Impfung ein Impfschaden sowie ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden nachgewiesen sind, wobei die Wahrscheinlichkeit der Kausalität genügt.

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Januar 2000 wird aufgehoben. Die Klagen werden abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft die Anerkennung eines Diabetes mellitus als Impfschaden und die Gewährung daraus folgender Versorgung.

2

Die am I. geborene Klägerin wurde nach Polioschutzimpfungen vom 18. September 1968 und 24. September 1968 zum dritten Mal am 30. März 1971 gegen Poliomyelitis in Hamburg geimpft. Nach den Eintragungen im Impfpass wurden die beiden ersten Impfungen mit Tri-Virelon, die dritte Impfung mit Oral-Virelon-Impfdosis durchgeführt.

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Mit dem Vorbringen, unmittelbar nach der dritten Impfung sei sie in ein diabetisches Koma gefallen, beantragte die Klägerin am 17. November 1995 bei dem Versorgungsamt (VA) Hamburg Ausgleich des Impfschadens. Das VA zog verschiedene Arztbriefe von Internisten und Kinderärzten aus den Jahren 1971, 1974 und 1983 bei und lehnte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme der Frau Dr. J. die Versorgung ab (Bescheid vom 16. Oktober 1996). Der Widerspruch, mit dem die Klägerin darauf hinwies, die Impfung sei trotz eines fieberhaften Infektes durchgeführt worden, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 1997). Gegen den am 20. Februar 1997 abgesandten Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 20. März 1997 Klage erhoben.

4

Im Februar 1996 beantragte die Klägerin vergeblich (Bescheid vom 21. April 1998/Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1998) beim VA Hannover Versorgung wegen eines Impfschadens. Der Widerspruch wurde als unzulässig verworfen, eine Prüfung aber vor dem Hintergrund des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) durchgeführt. Rücknahmegründe bezüglich des Bescheides vom 21. April 1998 hätten sich nicht ergeben.

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Gegen den Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1998 hat die Klägerin am 17. Juli 1998 Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, zum Zeitpunkt der dritten Impfung sei sie nicht fieberfrei gewesen, die Impfung hätte nicht stattfinden dürfen. Angesichts unterschiedlicher Krankheitsverläufe des Diabetes mellitus bestehe die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen dieser Erkrankung und der Schutzimpfung.

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Das Sozialgericht (SG) Hannover hat beide Rechtsstreite zu einheitlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden, durch Urteil vom 13. Januar 2000 alle angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, die Diabetes mellitus Typ I-Erkrankung sei durch die Impfung vom 30. März 1971 ausgelöst worden. Es hat "die Beklagte" zu 2 verurteilt, der Klägerin Beschädigtenversorgung nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 52 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) seien erfüllt. Es stehe fest, dass es zu einem Impfschaden gekommen sei. Die Klägerin sei knapp drei Monate nach der dritten Impfung in ein Coma diabeticum gefallen. Im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung etwa 2 Monate nach der Auffrischungsimpfung habe ein positiver Zuckernachweis im Urin geführt werden können. Weitere Symptome wie Durst und häufiges Wasserlassen sowie Gewichtsverlust hätten vorgelegen. Belegt sei anhand einer Rechnung der damaligen Ärztin Frau Dr. K. vom 12. Mai 1971, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der dritten Impfung nicht infektfrei gewesen sei. Angesichts der ungeklärten Ätiologie des Diabetes mellitus Typ I seien die Voraussetzungen für eine "Kann-Versorgung" nach den Vorgaben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), Ausgabe 1996, erfüllt. Leistungsverpflichteter sei gemäß § 59 Abs. 2 Nr. 2 a BSeuchG der Beklagte zu 2, weil zum Zeitpunkt des Eintritts des Impfschadens die Klägerin ihren Wohnsitz im Land Niedersachsen gehabt habe. Die MdE um 50 v.H. sei durch die vorgenommene Bewertung des VA Oldenburg nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) belegt.

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Die Beklagte zu 1, der das Urteil am 28. April 2000 zugestellt worden ist, hat am 10. Mai 2000 Berufung eingelegt. Der Beklagte zu 2 hat Berufung am 5. Mai 2000 gegen das am 27. April 2000 zugestellte Urteil eingelegt. Übereinstimmend weisen die Beklagten darauf hin, die Erkrankung sei nicht durch die Impfung ausgelöst worden, sondern eher durch Kinderkrankheiten, insbesondere fieberhafte Virus-Infekte und Infektion mit Mumps-Virus. Schon vor dem 30. März 1971 hätten Anzeichen einer Diabeteserkrankung bestanden.

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Die Beklagten beantragen,

das Urteil des SG Hannover vom 13. Januar 2000 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

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Die Klägerin hält die Untersuchung zur Einschulung im März 1971 mit positivem Glukoseurin nicht für aussagekräftig. Sonstige Symptome seien erst ab Mai 1971 aufgetreten. Zu berücksichtigen sei der zum Zeitpunkt der dritten Schluckimpfung bestehende, einer Impfung entgegenstehende Infekt. Jedenfalls seien die Voraussetzungen einer "Kann-Versorgung" erfüllt.

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Der Senat hat Beweis erhoben durch nach Lage der Akten erstelltes Gutachten der Internisten Prof. Dres. L. vom 12. Februar 2002 mit Erläuterungen vom 20. Mai 2002 und 20. Juni 2002.

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Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die die Klägerin betreffenden Beschädigtenakten des VA Hannover (Az. M.), die Schwerbehinderten-Akten des VA Hannover (Az. N.), die Versorgungsakten des VA Hamburg (Az. O.) sowie die die Klägerin betreffende Krankenakte des Allgemeinen Krankenhauses P. (Az: Q.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufungen sind zulässig. Dies gilt auch für die Berufung der Beklagten zu 1. Zwar hat das SG ausweislich der Entscheidungsgründe als nach § 59 Abs. 2 Nr. 2 a BSeuchG allein zuständig den Beklagten zu 2 zur Leistung verurteilt; es hat indes auch die angefochtenen Bescheide der Beklagten zu 1 aufgehoben. Diese ist mithin durch die Entscheidung des SG beschwert. Darüber hinaus wäre die Beklagte zu 1 für die Versorgung zuständig, weil in der Freien und Hansestadt Hamburg der Eintritt des Schadens verursacht worden wäre, § 59 Abs. 2 Nr. 2 a BSeuchG, jetzt: § 66 Abs. 2 Nr. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I, 1045).

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Die Berufungen sind begründet, denn der Klägerin stehen Ansprüche zum Ausgleich eines Impfschadens nicht zu.

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Soweit der Beklagte zu 2 betroffen ist, ist Prüfungsmaßstab § 44 SGB X. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an Stelle der Rücknahme der Antrag, § 44 Abs. 4 SGB X.

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Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X liegen nicht vor. Die angefochtenen Entscheidungen sind nicht zu beanstanden. Denn der - wegen Versäumung der Widerspruchsfrist bestandskräftige - Bescheid des Beklagten zu 2 vom 21. April 1998 sowie der Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1998 sind nicht zu beanstanden. Diese Bescheide entsprechen der Sach- und Rechtslage. Dies gilt auch für die - nicht unter dem Gesichtspunkt des § 44 SGB X zu prüfenden - Bescheide der Beklagten zu 1 vom 16. Oktober 1996/Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 1997:

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Das sozialgerichtliche Urteil wäre nur dann zu bestätigen, wenn die Klägerin einen Impfschaden nach der Polio-Schutzimpfung davongetragen hätte. Dies ist in Anwendung der §§ 51 Abs. 1, 52 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG, jetzt: §§ 60 Abs. 1, 61 Abs. 2 Nr. 11 IfSG zu beurteilen. Nach § 51 Abs. 1 BSeuchG, jetzt: § 60 Abs. 1 IfSG erhält, wer durch eine unter den dort genannten, hier nicht umstrittenen Voraussetzungen durchgeführte Impfung einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG, jetzt: § 2 Nr. 11 IfSG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden. Anspruch auf Versorgung besteht, wenn durch eine Impfung ein Impfschaden sowie ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden nachgewiesen sind. Impfschaden und Gesundheitsstörung müssen nach § 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG bzw. § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG, jetzt § 61 IfSG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG jeweils durch die Impfung verursacht sein. Dabei genügt die Wahrscheinlichkeit der Kausalität, das heißt, es muss mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang sprechen (BSGE 60, 58).

18

Diese Voraussetzung ist nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen nicht erfüllt. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass die Klägerin am 18. September 1968, 24. September 1968 sowie zum dritten Mal am 30. März 1971 sich der Schutzimpfung gegen Poliomyelitis unterzogen hat. Jedoch lässt sich Nachweis einer unüblichen Impfreaktion, also eines Impfschadens, nicht führen können.

19

Welche Impfreaktionen als Impfschäden im vorgenannten Sinn anzusehen sind, ist im Allgemeinen den AHP zu entnehmen. Sie geben den der herrschenden medizinischen Lehrmeinung entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u.a. auch über die Auswirkungen und Ursachen von Gesundheitsstörungen nach Impfungen (BSG USK 98 120).

20

Das Aktengutachten der Internisten Prof. Dres. R. vom 12. Februar 2002 mit den Erläuterungen vom 20. Mai und 20. Juni 2002 hat die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs im Rechtssinne überzeugend verneint. Die Äußerungen der Sachverständigen halten sich im Rahmen der Maßstäbe der AHP. Als Impfschäden nach Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff sind dort poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer bei einer Inkubationszeit zwischen 3 und 30 Tagen, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung aufgeführt. Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten - AHP S. 230). Impfschäden sind bei Verwendung von Impfstoff aus inaktivierten Viren nicht beobachtet worden (AHP 231). Diabetes mellitus als Schädigungsfolge geben die AHP nicht an.

21

Die Sachverständigen haben ausgeführt, dass der Diabetes mellitus Typ I als multifaktorielle Autoimmunerkrankung angesehen wird. Nach Einwanderung von T-Lymphozyten in die Langerhanschen Inseln wird der Entzündungsprozess forciert, der letztlich zum Zelluntergang führt. Die Gutachter halten einen Zusammenhang zwischen der Impfung der Klägerin und der Diabeteserkrankung nicht für wahrscheinlich. Denn bei klinischer Manifestation des Diabetes mellitus sind bereits ca. 80 % der Betazellen des Pankreas zerstört. Dies ist die Grundlage für die als sicher geltende Annahme, dass die autoimmune Beta-Zell-Zerstörung bereits Jahre, jedenfalls längere Zeit vor Manifestation der Erkrankung beginnt. Aus dem Umstand, dass bei einer Schuleinstellungsuntersuchung der Klägerin im März 1971 vor der 3. Schutzimpfung bereits ein positiver - bei einer späteren Kontrolle allerdings nicht bestätigter - Glukosenachweis in einem Urin-Schnelltest geführt worden ist, leiten die Sachverständigen überzeugend die Aussage her, dass sich bereits in diesem Zeitpunkt Ende März 1971 eine diabetische Stoffwechselentgleisung entwickelt zu haben schien. Denn das Kennzeichen des Diabetes mellitus Typ I ist, dass der Erstdiagnose gewöhnlich eine monate- bis jahrelange Phase eines so genannten Prädiabetes vorausgeht. Der Glukosenachweis zeigt, dass das Stadium des Prädiabetes überschritten worden ist, da ein Nachweis von Glukose im Urin erst bei Überschreiten eines bestimmten Serumglukosespiegels zu erwarten ist. Dies bedeutet, dass nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt bereits ein Diabetes mellitus Typ I vorlag. Gestützt wird diese Aussage durch das in den Unterlagen des Allgemeinen Krankenhauses P. anamnestisch dokumentierte wechselnde Gewichts- und Appetitverhalten der Klägerin seit März 1971. In der Wissenschaft ist ein direkter Zusammenhang zwischen einer Impfung und der Erkrankung an einem Diabetes mellitus Typ I nach der durch die Sachverständigen referierten jüngsten Literatur in Übereinstimmung mit den AHP nicht bewiesen. Dem steht auch die von der Klägerin angeführte Literatur nicht entgegen. Die dortigen Äußerungen stammen aus dem Jahre 1999, während die Sachverständigen Untersuchungen und Literatur bis zum Jahre 2001 ausgewertet haben. Wissenschaftlich gibt es keine verifizierten Erkenntnisse, die belegen, dass Impfstoffe bei Menschen Diabetes auslösen oder das Risiko erhöhen, einen Diabetes zu entwickeln.

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Der Umstand, dass die Klägerin möglicherweise während einer Infektion geimpft worden ist, führt zu keiner anderen Beurteilung. Die in der Abrechnung durch Frau Dr. K. für die Zeit vom 25. bis 30. März 1971 dokumentierte Cystopyelitis ist eine (veraltete) Bezeichnung für eine Harnwegsinfektion mit Entzündung von Blase und Nierenbecken (vgl. Pschyrembel). Die Glukosurie, die bei der Klägerin Ende März 1971 festgestellt worden war, ist jedoch kein Symptom der Cystitis oder auch einer Pyelonephritis. Jedoch ist jeder Glukosenachweis im Urin bis zum Beweis des Gegenteils auf einen Diabetes mellitus verdächtig. Ein nachfolgend negativer Test auf Glukose im Urin bedeutet entgegen der Annahme der Klägerin nicht, dass Diabetes mellitus nicht vorliegt. Die Sachverständigen haben überzeugend die differenzialdiagnostisch bei pathologischer Glukoseausscheidung in Betracht zu ziehenden sonstigen Krankheitsbilder (renaler Diabetes (primär renale Glukosurie), Schwangerschaft, Sepsis, Schädelhirntrauma, Thyreotoxikose, Phäochromozytom, Cushing-Syndrom, Bleiintoxikation, toxische Nierenschädigungen/akutes Nierenversagen) im Falle der Klägerin ausgeschlossen.

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Dass der Diabetes im März 1971 noch nicht diagnostiziert war, spricht nicht dagegen. Aus dem Befundbericht des Internisten Dr. S. vom 22. Januar 1985, der im Schwerbehindertenverfahren eingeholt worden ist, ergibt sich die Diagnose eines Brittle-Diabetes, der sich als kaum einstellbar erwies. Die von den Sachverständigen referierte Erfahrung diabetologisch tätiger Ärzte zeigt, dass eine Verdachtsdiagnose des Diabetes mellitus trotz Glukosenachweises im Urin, Polyurie, wechselnden Gewichts- und Appetitverhaltens, Obstipation und erhöhter Infektneigung häufig nicht gestellt wird. Die Sachverständigen haben auch ausgeführt, dass eine Verschlimmerung des Diabetes im Sinne einer Erschwerung unwahrscheinlich ist, dass also mehr dagegen, als dafür spricht. Es gibt wissenschaftlich keine Belege für eine Aggravierung des Verlaufs der Diabeteserkrankung Typ I durch eine Schutzimpfung gegen Poliomyelitis. Auch lässt der zeitliche Ablauf zwischen Harnwegsinfektion, Poliomyelitis-Auffrischungsimpfung und Erstdiagnose des Diabetes die Möglichkeit einer Vorverlegung des Zeitpunkts der Erkrankung durch die vorgenannte Impfung nicht mit Wahrscheinlichkeit zu, da auch dafür wissenschaftlich reproduzierbare Zusammenhänge nicht bekannt sind.

24

Entgegen der Auffassung der Klägerin liegen auch die Voraussetzungen für die so genannte "Kann-Versorgung" nicht vor. Die Bezugnahme auf § 1 Abs. 3 Satz 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) trägt nicht allgemeinen Beweisschwierigkeiten bei der Sammlung von Tatsachen Rechnung, sondern berücksichtigt, dass die medizinische Wissenschaft sich fortentwickelt und über manchen Ursachenzusammenhang intensiv gestritten wird. Bilden sich medizinische Auffassungen von einigem Gewicht, die den Ursachenzusammenhang auf der Basis festgestellter Tatsachen bejahen würden, soll es der Versorgung nicht entgegenstehen, dass andere medizinische Wissenschaftler aus Gründen ihrer abweichenden wissenschaftlichen Auffassung dem widersprechen. Es muss sich für § 1 Abs. 3 Satz 3 BVG um eine wissenschaftliche Unsicherheit genereller Art handeln, die allein die Ursächlichkeit betrifft. Die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs darf nicht ausreichen, es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs vertritt (BSG Urteil vom 10. November 1993 - 9/9a RV 41/92 = BSGE 73, 190 f. [BSG 10.11.1993 - 9 RV 41/92]).

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Nach den Aussagen der Sachverständigen, die mit neuesten Literaturangaben unterlegt sind, liegen diese Voraussetzungen nicht vor. Die Sachverständigen haben zwar ausgeführt, dass es vereinzelte Diabetesfälle ohne Nachweis von Autoantikörpern gibt. Dabei ist unklar, ob es sich dabei lediglich um fulminante, plötzlich einsetzende Verläufe bei genetisch prädisponierten Menschen nach Virusinfektionen handelt. Die Sachverständigen haben auf eine europäische Multicenterstudie hingewiesen, wonach bei frühkindlichen Virusinfekten ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für einen Diabetes mellitus besteht. Danach besteht Unsicherheit - lediglich - bezüglich der Manifestationsfaktoren. Die von den Sachverständigen hierfür genannten Viren (Mumps, Cytomegalie, Ebstein-Barr, Coxsackie B, Röteln, Masern, Influenza) betreffen indes nicht Poliomyelitis-Viren (vgl. Pschyrembel zum Stichwort Poliomyelitis-Viren). Die Sachverständigen haben der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass noch vor Diagnose des Diabetes mellitus Typ I die Klägerin an einer Maserninfektion erkrankt war. Entscheidende Bedeutung haben sie diesem Umstand nicht beigemessen, da zum Zeitpunkt der Impfung der Diabetes mellitus Typ I wahrscheinlich klinisch bereits manifest war.

26

Die Rüge der Klägerin geht fehl, die Sachverständigen hätten die durch den Senat gestellten Beweisfragen erst auf Grund einer gründlichen Untersuchung, nicht lediglich nach Lage der Akten beurteilen können. Denn die im Verfahren zu klärende Streitfrage betrifft lediglich die Kausalität der Entstehung des Diabetes mellitus Typ I, an dem die Klägerin leidet. Hierfür sind aufgetretene Folgeerkrankungen und Komplikationen ohne Aussagekraft. Überzeugend haben die Sachverständigen ausgeführt, dass die umfassenden Anamnesebögen und Arztbriefe des Allgemeinen Krankenhauses P. und des Krankenhauses T. eine ausreichende Beurteilung der damaligen zeitlichen Zusammenhänge zulassen.

27

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

28

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.