Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.02.2003, Az.: L 4 KR 151/01
Kostenübernahme einer kieferorthopädischen Behandlung; Begrenzung des Leistungsumfangs bei der zahnärztlichen Behandlung ab Vollendung des 18. Lebensjahres der Versicherten; Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes; Fall einer schweren Kieferanomalie; Anspruchsvoraussetzungen für eine Kostenübernahme nach dem Gesundheitsstrukturgesetz
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.02.2003
- Aktenzeichen
- L 4 KR 151/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20196
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0226.L4KR151.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - AZ: S 2 KR 556/00
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs. 2 S. 6 SGB V
- § 28 Abs. 2 S. 7 SGB V
- Art 33 § 5 Gesundheitsstrukturgesetz
Redaktioneller Leitsatz
Die durch das Gesundheitsstrukturgesetz eingeführte Leistungsbegrenzung bei kieferorthopädischen Behandlungen von Erwachsenen begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Danach gehört die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung, es sei denn, es liegt der Ausnahmetatbestand des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V vor.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Kostenübernahme einer kieferorthopädischen Behandlung.
Die am 1. November 1960 geborene Klägerin beantragte am 19. April 1999 die Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung. Der Beklagten wurde ein kieferorthopädischer Behandlungs- und Kostenplan des Prof. Dr. C., Fachzahnarzt für Kieferorthopädie, Kieferorthopädische Abteilung, Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- u. Kieferheilkunde, Göttingen, vom 26. Januar 1999 vorgelegt. Danach bestehe bei der Klägerin die Diagnose "Massiver Distalbiss mit Verlust von Zahn 13; Mittellinienverschiebung, stark retrudierte Oberkieferfront, starker Engstand der Unterkieferfront." Es sei vorgesehen, mit festen und herausnehmbaren Apparaturen die Dysgnathie zu beheben, wobei die kieferorthopädische Behandlung aus karies- und parodontalprophylaktischen Gründen sowie zur Besserung der Kaufunktion unbedingt notwendig sei. Die voraussichtlichen Behandlungskosten sollten sich auf 7.864,39 DM belaufen.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 26. April 1999 ab. Laut "§ 29" Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V - sei eine Kostenübernahme für Versicherte, die bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, ausgegrenzt. Auf Empfehlung ihres Zahnarztes reichte die Klägerin am 12. November 1999 erneut einen kieferorthopädischen Behandlungs- und Kostenplan ein. Die Beklagte lehnte eine Kostenübernahme erneut ab (Bescheid vom 17. November 1999). Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Zur Begründung ihrer kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahme schilderte sie ihre Krankheitsgeschichte: sie führe die ihr empfohlene kieferorthopädische Therapie durch, wobei für die orthopädische Behandlung insgesamt 3 Zähne gezogen worden seien. Es seien feste Klammern oben und unten geklebt worden. Seit November knacke das Kiefergelenk nicht mehr und das Kiefergelenk sei nicht mehr versperrt (vgl im Einzelnen Schreiben der Klägerin vom 23. Dezember 1999). Die Beklagte holte eine Stellungnahme bei dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen, Hannover, - MDK - ein. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2000 zurück. Nach § 29 SGB V bestehe der Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Klägerin habe bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr bereits vollendet. Es bestehe auch keine Ausnahme nach § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V, die nur für Versicherte mit schweren Kieferanomalien gelte, die ein Ausmaß hätten, das kombinierte kieferchirurgische Behandlungsmaßnahmen erforderlich machen würden.
Die Klägerin hat am 8. August 2000 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Sie hat vorgetragen, sie leide seit ihrer Kindheit unter kieferorthopädischen Problemen. Hierzu verweist sie auf ihr Schreiben vom Widerspruchsverfahren vom 23. Dezember 1999, in dem sie diese ausführlich geschildert habe. Nach der Behandlung bei mehreren Ärzten sei sie an die Universitätsklinik Göttingen überwiesen worden. Dort habe sie bei Prof. Dr. C. die kieferorthopädische Behandlung entsprechend dem Behandlungs- und Kostenplan vom 26. Januar 1999 durchgeführt. Diese Behandlung sei erfolgreich verlaufen, denn sie sei seit November 1999 praktisch beschwerdefrei.
Die Klägerin legte Arztbriefe des Dr. D., Hals-Nasen-Ohrenarzt (14. Juli 1987; des Dr. E., Arzt für Hals-, Nasen-, Ohren-Heilkunde (14. Mai 1990), des Dr. F., Arzt für Orthopädie (3. Juni 1992) und des Dr. G., Arzt für Innere Medizin (3. Dezember 1999), vor.
Die Klägerin hat ferner einen Arztbrief des Zahnarztes H. vom 6. November 2000 vorgelegt, wonach sie die Praxis im Januar 1990 wegen massiven Kiefergelenksbeschwerden und Morbus-Menière aufsuchte und dort behandelt worden sei. Es sei auch eine KFO-Unterstützung vor Ort in Erwägung gezogen und durchgeführt worden.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 3. Mai 2001 abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die streitbefangene kieferorthopädische Behandlung gehöre im vorliegenden Fall nicht zu den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten Leistungen. Zwar hätten Versicherte grundsätzlich im Rahmen des § 27 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 29 SGB V Anspruch auf kieferorthopädische Behandlung unter den dort aufgeführten Voraussetzungen, jedoch sei dieser Anspruch gemäß § 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V ausgeschlossen, wenn der Versicherte zu Beginn der kieferorthopädischen Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet habe. Das sei vorliegend der Fall. Damit unterliege die streitbefangene Behandlung nicht der Leistungspflicht durch die Beklagte. Ein Ausnahmefall gem. § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V sei nicht gegeben. Diese setze eine schwere Kieferanomalie voraus, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahme erfordere. Selbst wenn die Klägerin einwende, es sei eigentlich eine kieferchirurgische Behandlung vorgesehen gewesen, so gehe dies weder aus dem vorgelegten kieferorthopädischen Behandlungs- und Kostenplan vom 26. Januar 1999 hervor noch sei eine solche Maßnahme tatsächlich durchgeführt worden. Vielmehr sei allein eine kieferorthopädische Behandlung durchgeführt worden. Darüber hinaus könne das geltend gemachte Kostenerstattungsbegehren nicht auf Art 33 § 5 Gesundheitsstrukturgesetz - GSG - (gültig ab 1. Januar 1993) gestützt werden. Danach hätten Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und deren kieferorthopädische Behandlung vor dem 1. Januar 1993 begonnen habe, Anspruch auf Übernahme der Kosten der kieferorthopädischen Behandlung einschließlich zahntechnischer Leistungen in der Höhe, wie sie das am 31. Dezember 1992 geltende Recht vorgesehen habe, wenn die Krankenkasse vor dem 5. November 1992 über den Anspruch bereits schriftlich entschieden habe. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Zum einen habe die damalige Krankenkasse der Klägerin nicht vor dem 5. November 1992 über den Anspruch schriftlich entschieden. Zum anderen sei die 1999 durchgeführte kieferorthopädische Behandlung nicht, wie die Klägerin meine, bereits 1999 begonnen und kontinuierlich fortgeführt worden. So lasse sich den Behandlungsdaten des Zahnarztes H. nebst beigefügten Unterlagen nur entnehmen, dass die Klägerin seit 1990 regelmäßig in zahnärztlicher Behandlung gewesen sei. Eine durchgehende kieferorthopädische Behandlung auf Grundlage eines Behandlungsplanes sei nicht ersichtlich. Ein solcher Behandlungsplan liege auch nicht vor. Dies werde weiterhin bestätigt durch die Auskunft der AOK (vorherige Krankenkasse der Klägerin) vom 28. November 2000, in welcher die Krankenkasse mitgeteilt habe, dass für die Klägerin keine Kostenübernahme für kieferorthopädische Behandlung bewilligt worden sei.
Die Klägerin hat gegen dieses ihr am 18. Mai 2001 zugestellte Urteil am 16. Juni 2001 Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Sie ist der Ansicht, bei ihr sei ein Ausnahmetatbestand gem. § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V gegeben. Außerdem sei mit ihrer kieferorthopädischen Behandlung bereits vor dem 1. Januar 1993 begonnen worden.
Die Klägerin legt eine Bescheinigung sowie die Rechnungen über die kieferorthopädische Behandlung des Prof. Dr. C. vor.
Mit den Beteiligten hat am 31. Oktober 2002 ein Erörterungstermin vor dem Berichterstatter des Senats stattgefunden. Bezüglich des Ergebnisses wird auf die Ergebnisniederschrift Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. Mai 2001 und die Bescheide der Beklagten vom 26. April 1999 und 17. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2000 aufzuheben, die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten für die kieferorthopädische Behandlung in Höhe von 4.138,6 zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf das erstinstanzliche Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten des Ersten und zweiten Rechtszuges sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die beigezogenen Behandlungsunterlagen des Zahnarztes H. verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Mit Einverständnis der Beteiligten hat der Senat gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist gem. §§ 143 f SGG statthaft und im Übrigen frist- und formgerecht erhoben worden.
Die Berufung ist aber nicht begründet. Die Entscheidung des SG ist zutreffend. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die erfolgte kieferorthopädische Behandlung.
Nach § 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V (die Vorschrift wurde durch das Gesundheitsstrukturgesetz - GSG - vom 21. Dezember 1992 - BSGBl I S 2266 - als Satz 2 des § 28 Abs. 2 SGB V mit Wirkung zum 1. Januar 1993 eingeführt) gehört die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die - wie die Klägerin - zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung. Eine Ausnahme gilt nach § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V nur für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Die Voraussetzungen für einen Ausnahmefall im Sinne dieser Vorschrift liegen bei der Klägerin nicht vor. Den vorgelegten und beigezogenen ärztlichen Behandlungsunterlagen, insbesondere des Zahnarztes H. und des Prof. Dr. I. ist nicht zu entnehmen, dass bei der Klägerin ein Fall einer schweren Kieferanomalie, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahme erfordert, vorlag. So ist u.a. der Bescheinigung des Prof. Dr. C. vom 25. September 2001 zu entnehmen, dass bei der Klägerin zwar ein massiver Distalbiss mit Verlust von Zahn 13, Mittellinienverschiebung, stark retrudierte Oberkieferfront und starker Engstand der Unterkieferfront vorlagen; eine schwere Kieferanomalie im Sinne der Ausnahmeregelung des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V wird damit nicht begründet, denn unstreitig wurde auch keine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsform durchgeführt.
Die Klägerin kann auch keinen Leistungsanspruch aus der Überleitungsvorschrift des Art 33 § 5 GSG herleiten. Danach haben Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und deren kieferorthopädische Behandlung vor dem 1. Januar 1993 begonnen hat, Anspruch auf Übernahme der Kosten der kieferorthopädischen Behandlung einschließlich zahntechnischer Leistungen in der Höhe, wie sie das am 31. Dezember 1992 geltende Recht vorsah, wenn die Krankenkasse vor dem 5. November 1992 über den Anspruch bereits schriftlich entschieden hat. Diese Voraussetzungen liegen hier ebenfalls nicht vor. Darauf hat das SG zutreffend hingewiesen, denn die Behandlungsmaßnahme begann erst im Jahre 1999 (vgl Bescheinigung des Prof. Dr. C., a.a.O. sowie kieferorthopädischer Be-handlungs- und Kostenplan vom 26. Januar 1999). Soweit sich die Klägerin in diesem Zusammenhang auf gelegentlich durchgeführte kieferorthopädische Be-handlungs- bzw. Unterstützungsmaßnahmen durch ihren Zahnarzt beruft (vgl dazu die Bescheinigung des Zahnarztes H. vom 6. November 2000), stellt dies keine kieferorthopädische Behandlung i.S.d. Überleitungsvorschrift dar. Im Übrigen verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils.
Ergänzend weist der Senat noch darauf hin, dass das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, dass die durch das GSG eingeführte Leistungsbegrenzung bei kieferorthopädischen Behandlungen bei Erwachsenen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet (vgl auch Urteil des Senats vom 20. November 2002 - L 4 KR 47/02 - unter Hinweis auf BSG SozR 3-2550 § 28 SGB V Nr. 3).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision haben nicht vorgelegen (§ 160 Abs. 2 Nrn 1, 2 SGG).