Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 10.04.2003, Az.: L 5 VS 20/00

Höhe einer Versorgung nach den Vorschriften des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG); Voraussetzungen der Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung; Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP); Minderung der Erwerbsfähgkeit (MdE) bei einer Sehbehinderung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
10.04.2003
Aktenzeichen
L 5 VS 20/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 20161
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0410.L5VS20.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - AZ: S 2 VS 141/98

Redaktioneller Leitsatz

Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) sind zwar keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn u.a. fehlt eine Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt letztlich die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden.

Die Bewertung richtet sich nach den in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger beansprucht höhere Versorgung nach den Vorschriften des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG).

2

Der am F. geborene Kläger leistete in der Zeit vom 1. August 1972 bis 31. Juli 1978 als Soldat Dienst bei der Bundeswehr. Seit 1. September 1979 ist er bei der Bundesanstalt für Arbeit beschäftigt und als Berufsberater tätig.

3

Mit (Ausführungs-)Bescheid vom 4. Dezember 1990 stellte das Versorgungsamt (VA) durch schädigende Einwirkungen im Sinne der §§ 80, 81 SVG hervorgerufene Schädigungsfolgen

4

beidseitige Uveitis, Linsenlosigkeit links

5

fest und bewilligte dem Kläger Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. Nachdem ein Neufeststellungsantrag vom 6. Mai 1992 erfolglos geblieben war (Bescheid vom 2. Juli 1992), beantragte der Kläger am 18. Juni 1996 wegen starker Blendeffekte durch helles Tageslicht die Feststellung einer höheren MdE. Gestützt war der Antrag auf eine Stellungnahme des Augenarztes Prof. Dr. G. vom 12. Juli 1990 (gegenüber dem Sozialgericht - SG - Stade). Das VA holte einen Befundbericht des Augenarztes Dr. H. sowie ein Gutachten der augenärztlichen Abteilung des Krankenhauses I. in J. (Prof. Dres. K.) ein und lehnte auf dieser Grundlage den Antrag ab (Bescheid vom 23. Mai 1997), weil die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) nicht festzustellen seien. Der Widerspruch blieb nach augenärztlicher gutachterlicher Stellungnahme des Dr. L. erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 1998).

6

Gegen den am 1. Juli 1998 abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 8. Juli 1998 Klage auf Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. erhoben und sich darauf gestützt, die angefochtenen Bescheide sagten nichts zu der geltend gemachten Verschlimmerung aus.

7

Das SG Stade hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten des Augenarztes M. vom 4. Oktober 1999, der eine MdE um 40 v.H. unter Berücksichtigung einer neu festzustellenden Hemeralopie für zutreffend gehalten hat. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 10. März 2000 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es die Voraussetzung einer wesentlichen Änderung im Sinn des § 48 Abs. 1 SGB X verneint und auf den Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 1998 Bezug genommen. Es hat ausgeführt, dem Sachverständigengutachten sei nicht zu entnehmen, warum die Hemeralopie mit Wahrscheinlichkeit durch die anerkannten Schädigungsfolgen verursacht sei. Der Sachverständige sei zu seiner Aussage über die MdE durch nicht zulässige Addition verschiedener Bewertungen gekommen. Die Beeinträchtigung des Klägers könne nicht dem mit einer MdE um 40 v.H. zu bewertenden Verlust eines Auges mit dauernder therapieresistenter Eiterung der Augenhöhle gleichgesetzt werden.

8

Gegen das am 26. Mai 2000 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 23. Juni 2000 eingegangenen Berufung. Er stützt sich auf das erstinstanzliche Gutachten.

9

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Stade vom 10. März 2000 und den Bescheid vom 23. Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    den Beklagten zu verpflichten, Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. seit Juni 1996 zu gewähren.

10

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Der Beklagte tritt dem angefochtenen Urteil bei.

12

Der Senat hat erläuternde Auskünfte des Sachverständigen M. vom 20. November und 18. Dezember 2000 eingeholt.

13

Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten des VA Verden (Az.: N.) mit den Heil- und Krankenakten vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

14

II.

Der Senat entscheidet gemäß § 153 Abs. 4 SGG nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält.

15

Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Dem Kläger steht die begehrte Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. nicht zu.

16

Nach § 48 SGB X ist ein mit Dauerwirkung ausgestatteter Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Diese Voraussetzungen lassen sich hier nicht feststellen, weil die Verhältnisse sich gegenüber dem Bescheid vom 4. Dezember 1990 nicht wesentlich geändert haben.

17

Zwar legt die versorgungsärztliche Stellungnahme der Frau Dr. O. vom 5. März 2001 nahe, dass zusätzlich zu den bisher anerkannten Schädigungsfolgen eine Störung der Dunkeladaption in Frage kommt. Der Beklagte hat dies bisher in einen Bescheid nicht umgesetzt. Indes ist auch bei Anerkennung einer solchen - mittelbaren - Schädigungsfolge die MdE um 30 v.H., die in dem Bescheid vom 4. Dezember 1990 zuerkannt worden ist, nicht zu erhöhen:

18

Die Bewertung der Schädigungsfolgen richtet sich nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Diese sind zwar keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn u.a. fehlt eine Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt letztlich die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden (BSGE 72, 285; E 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6).

19

Die Bewertung richtet sich nach den in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbstständig zu bewerten.

20

Die durch die Schädigungsfolgen des Klägers hervorgerufene MdE wird bestimmt durch die anerkannte Sehbehinderung. Diese umfasst alle Störungen des Sehvermögens. Für die Beurteilung ist in erster Linie die korrigierte Sehschärfe (Prüfung mit Gläsern) maßgebend; daneben sind u.a. Ausfälle des Gesichtsfeldes und des Blickfeldes zu berücksichtigen. Neben den Funktionen des Sehvermögens sind auch nachweisbare Reizerscheinungen, Tränenträufeln, Empfindlichkeit gegen äußere Einwirkungen sowie andere Erkrankungen des Auges und seiner Umgebung zu beachten (AHP S. 63). Die Sehschärfe ist grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) zu prüfen. Abweichungen hiervon sind nur in Ausnahmefällen zulässig. Die übrigen Partialfunktionen des Sehvermögens sind nur mit Geräten und Methoden zu prüfen, die den Richtlinien der DOG entsprechend eine gutachtenrelevante einwandfreie Beurteilung erlauben (AHP S. 63, 64). Hinsichtlich der Gesichtsfeldbestimmung bedeutet dies, dass nur Ergebnisse der manuell-kinetischen Perimetrie entsprechend der Marke Goldmann III/4 verwertet werden dürfen (AHP S. 64). Die Grundlage für die GdB/MdE-Beurteilung bei Herabsetzung der Sehschärfe bildet die MdE-Tabelle der DOG (AHP S. 65).

21

Diesen Grundsätzen wird die Begutachtung durch den erstinstanzlichen Sachverständigen nicht gerecht. Das linke Auge des Klägers ist linsenlos, während das rechte weiterhin mit Linse funktioniert. Der Sachverständige hat eine korrigierte Sehschärfe des rechten Auges mit 0,8 bis 1,0, des linken Auges mit 0,8 ermittelt. Nach der MdE-Tabelle (AHP S. 65) ergibt sich hieraus eine MdE um 0 v.H. Die von dem Sachverständigen durchgeführte Gesichtsfeldmessung entspricht nicht den Vorgaben der AHP. Denn die dort vorausgesetzte kinetische Perimetrie mittels Goldmann-Perimeter hat der Sachverständige durch eine statische Perimetrie, also eine computergesteuerte Durchführung ersetzt. Gleichwohl hat der Sachverständige bei dem rechten Auge eine zentral geringe Schwellminderung bei peripheren altersgemäßen Reaktionen auf dargebotene Reize gefunden, während sich bei dem linsenlosen linken Auge eine konzentrische Einengung auf 20 Grad, in der Peripherie einen Gesichtsfeldrest im temporal oberen Quadranten ergab. Zutreffend ist in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 4. September 2001 darauf hingewiesen worden, dass nach den maßgeblichen AHP aus der allseitigen Einengung bei normalem Gesichtsfeld des anderen Auges auf 10 Grad Abstand vom Zentrum eine MdE um 10 v.H. folgt. Das Gesichtsfeld des linken Auges des Klägers ist aber hier noch deutlich größer. Nachtblindheit wird nach den AHP mit einer MdE um 0 bis 10 v.H. eingestuft (AHP S. 68).

22

Aus der Gesamtbewertung ergibt sich, dass die seit 1990 zuerkannte MdE um 30 v.H. nach wie vor zutreffend ist. Dabei ist zu beachten, dass leichte Gesundheitsstörungen, die einen GdB/MdE-Grad um 10 bedingen (AHP S. 35) nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Dies gilt selbst bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Wert um 20, die es vielfach nicht rechtfertigen, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

24

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.