Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 02.04.2003, Az.: L 6 U 148/02

Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der Gesetzlichen Unfallversicherung; Begriff des Arbeitsunfalles; Beurteilung des Zusammenhanges einer Gesundheitsstörung mit einem Versicherungsfall

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
02.04.2003
Aktenzeichen
L 6 U 148/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 20977
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0402.L6U148.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 14.02.2002 - AZ: S 36 U 356/00

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Ein Arbeitsunfall setzt begrifflich ein Ereignis voraus, das zu einem Gesundheitsschaden führt.

  2. 2.

    Eine Gesundheitsstörung muss als solche voll bewiesen sein. Nur für die Beurteilung des Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Versicherungsfall genügt der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit.

Tenor:

Die Berufungen des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Februar 2002 und gegen den Gerichtsbescheid vom 24. Juli 2002 werden zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig sind Entschädigungsleistungen aus der Gesetzlichen Unfallversicherung.

2

Der 1958 geborene Kläger ist selbstständiger Spediteur und verunglückte am 4. Januar 1997 als Beifahrer mit einem Kleintransporter. Dabei erlitt er eine Schultereckgelenksprengung rechts, eine Thoraxprellung rechts mit Rippenserienfraktur 1 bis 3 und eine Nasenbeinfraktur (Durchgangsarztbericht vom 6. Januar 1997). Aus der stationären Behandlung wurde der Kläger am 14. Januar 1997 beschwerdefrei entlassen. Im Krankenbericht vom 16. Januar 1997 ist vermerkt, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Ausmaß nicht verbleiben werde. Die ambulante Behandlung wurde am 15. April 1997 beendet. Der Kläger war ab 16. April 1997 wieder arbeitsfähig (Mitteilung des Durchgangsarztes vom 23. April 1997). Die Beklagte zahlte dem Kläger vom 4. Januar bis 15. April 1997 Verletztengeld in Höhe von 8.927,01 DM (Bescheid vom 27. Mai 1997). Auf die Aufforderung des Klägers, eine angemessene Abschlagszahlung zu leisten, da ansonsten seine Existenz gefährdet sei (Schriftsatz vom 3. November 1997), zahlte die Beklagte einen Vorschuss von 1.200,00 DM unter dem Vorbehalt späterer Rückforderung, falls sich herausstellen sollte, dass eine Leistungspflicht nicht oder nur in geringerer Höhe gegeben sei. Zur Feststellung der Unfallfolgen ließ die Beklagte den Kläger gutachtlich untersuchen. Im Rentengutachten vom 11. November 1997 führten Dres. C. aus, die Rippenfrakturen seien knöchern fest verheilt. Im rechten Schultereckgelenk bestehe ein deutlicher Schlüsselbeinhochstand. Die Beweglichkeit der oberen Extremitäten sei seitengleich frei. Es bestünden eine leichte Verschmächtigung der rechten Schultergürtelmuskulatur, eine leichte schmerzbedingte Kraftminderung des rechten Armes und eine Sensibilitätsstörung vom körperfernen Oberarm rechts bis zum körpernahen Unterarm ellenseitig. Infolge der Nasenbeinfraktur sei die Nasenatmung links deutlich behindert. Die Unfallfolgen minderten die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 10 vom Hundert (vH). Die nervenärztliche Untersuchung hatte auf neurologischem Gebiet keine MdE ergeben (Zusatzgutachten des Dr. D. vom 5. November 1997). Im November 1997 begab sich der Kläger in die Behandlung der Dres. E. u.a., die Arbeitsunfähigkeit attestierten, die sie auf ein unfallunabhängiges Carpaltunnelsyndrom rechts zurückführten (Befundbericht vom 12. Januar 1998). Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. Februar 1998 Entschädigungsleistungen über den 15. April 1997 hinaus ab und forderte den gezahlten Vorschuss zurück.

3

Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte den Kläger erneut zunächst im Krankenhaus Nordstadt des Klinikums F. untersuchen. Der Kläger gab gegenüber Dres. G. an, dass sich die Beschwerden nach dem Arbeitsunfall bis zum 14. November 1987 deutlich gebessert hätten. An diesem Tag habe er einen erneuten Arbeitsunfall erlitten. Er habe mit einem Arbeitskollegen einen Kühl-Gefrierschrank getragen. Bei einer Drehung mit der rechten Hand habe er einen akuten Schmerz mit sofort einsetzender Bewegungsunfähigkeit verspürt. Die Tätigkeit als Auslieferer von Großgeräten habe er deshalb aufgeben müssen. Er beschränke sich nun auf Büroarbeiten. Die Gutachter sahen als Folge der erlitte-nen Schultereckgelenksprengung eine Kraftminderung des rechten Armes. Eine Unfallfolge aus dem vom Kläger geschilderten Ereignis am 14. November 1997 erkannten sie nach Auswertung der Röntgenbilder nicht. Die von dem Kläger an-gegebenen Sensibilitätsstörungen des rechten körperfernen Unterarmes und der rechten Hand vermochten sie nicht mit dem Arbeitsunfall in Zusammenhang zu bringen. Deshalb empfahlen sie eine neurologische Untersuchung, die keinen krankhaften Befund ergab (vgl. das neurologische Zusatzgutachten vom 3. November 1998 mit den neurophysiologischen und dem elektroencephalographischen Gutachten vom 2. November 1998). Anschließend legte die Beklagte die Unfallakten dem Facharzt für Nervenheilkunde, physikalische und rehabilitative Medizin Dr. Dr. H. vor, der wegen einer "zwischenzeitlich nicht unerheblichen Ausweitung der Schmerzsymptomatik auf den gesamten Unterarm" (siehe hierzu den Befundbericht der Dres. I. vom 17. Dezember 1998) eine Untersuchung des Klägers im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus J. empfahl (Stellungnahme vom 23. Januar 1999). Im Gutachten vom 13. September 1999 hielt der Chirurg/ Unfallchirurg Dr. K. fest, dass eine Erklärung für die vom Kläger angegebenen starken Beschwerden im rechten Arm nicht gefunden werden könne. Auffällig sei eine Diskrepanz zwischen der gut ausgeprägten Muskulatur und der seitengleichen Hohlhandbeschwielung einerseits und den angegebenen starken Beschwerden andererseits. Die Schultereckgelenksprengung sei in mäßiger Fehlstellung ohne wesentliche Instabilität ausgeheilt. Das Schultergelenk rechts sei frei beweglich. Die MdE liege deshalb unter 10 vH. Auch in der neurologischen Untersuchung wurden keine objektivierbaren klinischen Befunde erhoben. Dres. L. äußerten den Verdacht auf "bewusstseinsnahe Aggravation" und vermochten eine MdE auf ihrem Fachgebiet nicht festzustellen (neurologisch-psychiatrisches Gutachten vom 20. September 1999). Schließlich holte die Beklagte das hals-nasen-ohrenfachärztliche Gutachten des Dr. M. vom 6. März 2000 ein. Eine messbare MdE wegen der unfallbedingten Nasenatmungsbehinderung sah Dr. M. nicht. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2000).

4

Mit Bescheid vom 8. März 2001 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen wegen eines Ereignisses am 14. November 1998 ab. Der Kläger hatte sich am 7. Dezember 1998 bei Dr. N. vorgestellt und angegeben, am 14. November 1998 beim Ausziehen der Jacke einen elektrisierenden Schlag im rechten Unterarm/Handbereich verspürt zu haben. Im Durchgangsarztbericht vom 7. Dezember 1998 hielt Dr. N. fest, dass kein Unfall im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorliege, ein Zusammenhang mit früheren Unfällen sei fraglich. Den Widerspruch begründete der Kläger damit, dass die Beklagte von einem falschen tatsächlichen Geschehen ausgegangen sei. Nicht das Ausziehen der Jacke bilde das Unfallereignis, sondern der Tragevorgang am 14. November 1997. Entschädigungsleistungen aus Anlass dieses Ereignisses lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. August 2001 ab, weil das Beschwerdebild eines Carpaltunnelsyndroms unfallunabhängig sei. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2001).

5

Gegen die am 13. Oktober 2000 und 8. Januar 2002 abgesandten Widerspruchsbescheide hat der Kläger am 16. November 2000 und 7. Februar 2002 vor dem Sozialgericht (SG) Hannover Klage erhoben. Das SG hat die Klagen auf Grund des Ergebnisses der Ermittlungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren durch Urteil vom 14. Februar 2002 und nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 24. Juli 2002 abgewiesen.

6

Gegen die ihm am 25. Februar und 29. Juli 2002 zugestellten Entscheidungen wendet sich der Kläger mit den am 22. März und 16. August 2002 eingelegten Berufungen, die der Senat zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat (Beschluss vom 26. Februar 2003). Er hält an seiner Auffassung fest, dass seine Erwerbsfähigkeit infolge der erlittenen Unfälle in einem rentenberechtigenden Grad gemindert sei und beantragt sinngemäß,

  1. 1.

    das Urteil und den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 14. Februar 2002 und 24. Juli 2002 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 12. Februar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2000 zu ändern, die Bescheide der Beklagte vom 8. Februar 2001 und 14. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Dezember 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass der Arbeitsunfall am 4. Januar 1997 über die von der Beklagten im Bescheid vom 12. Februar 1998 anerkannten Unfallfolgen hinaus Gesundheitsstörungen im Bereich der rechten oberen Extremität verursacht hat, die durch den Arbeitsunfall vom 14. November 1997 verschlimmert worden sind,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 15. April 1997 hinaus Entschädigungsleistungen zu gewähren.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufungen des Klägers gegen das Urteil und gegen den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 14. Februar 2002 und 24. Juli 2002 zurückzuweisen.

8

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

9

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung allein durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

10

Dem Senat haben neben den Prozessakten die Unfallakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Die statthaften Berufungen sind form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie haben jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat die - hinsichtlich des Feststellungsantrags gemäß § 55 Abs. 1 Ziff. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - zulässigen Klagen zu Recht abgewiesen. Allerdings ist die am 7. Februar 2002 vor dem SG erhobene Klage insgesamt zulässig: Den - die Entschädigung eines Arbeitsunfalls vom 14. November 1998 ablehnenden - Bescheid vom 8. März 2001 hat der Kläger mit der Begründung angefochten, Ursache der Beschwerden sei nicht das Ausziehen einer Jacke, sondern ein Tragevorgang am 14. November 1997. Diese Argumentation knüpft an den Vermerk im Durchgangsarztbericht vom 7. Dezember 1998 an, ein Unfall im Sinne der RVO liege nicht vor, es bestehe ein fraglicher Zusammenhang mit früheren Unfällen. Daraufhin hat die Beklagte ihre Entscheidung vom 8. März 2001 um den Bescheid vom 14. August 2001 ergänzt und den Widerspruch insgesamt zurückgewiesen. Damit war das Vorverfahren als Klagevoraussetzung abgeschlossen (§ 78 SGG). Die Entscheidungen der Beklagten sind jedoch rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen über den 15. April 1997 hinaus.

12

Der Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld für die Arbeitsunfähigkeit ab 14. November 1997 (vgl. den Schriftsatz des Klägers an die Beklagte vom 27. Februar 2001) ist nicht begründet. Denn der Kläger war nicht (erneut) wegen eines Arbeitsunfalls, sondern unfallunabhängig, nach Einschätzung der behandelnden Ärzte Dres. E. u.a. wegen eines beginnenden Carpaltunnelsyndroms rechts arbeitsunfähig (Befundbericht vom 12. Januar 1998). Insgesamt hat der vom Kläger geschilderte Transportvorgang am 14. November 1998 auch nach den Ausführungen der Dres. O. im Gutachten vom 30. Juli 1998 keine Gesundheitsstörungen verursacht. Deshalb kann das Ereignis schon nicht als Arbeitsunfall gewertet werden. Denn dieser setzt ein Ereignis voraus, das zu einem Gesundheitsschaden führt (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch - SGB - VII).

13

Auch der Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 4. Januar 1997 ist nicht begründet. Denn die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist infolge dieses Unfalls nicht in rentenberechtigendem Grad, d.h. um mindestens 20 v.H. gemindert (§ 56 SGB VII). Dieser Unfall führte zu den von der Beklagten im Bescheid vom 12. Februar 1998 anerkannten Folgen: Schlüsselbeinhochstand im rechten Schultereckgelenk, leichte Muskelminderung der rechten Schultergürtelmuskulatur, geringe Kraftminderung des rechten Armes, Sensibilitätsstörung im Bereich des rechten Armes, Behinderung der Nasenatmung links. Weitere Gesundheitsstörungen sind nicht bewiesen. Schon deshalb ist der Feststellungsantrag nicht begründet. Denn die Gesundheitsstörung muss als solche voll bewiesen sein. Nur für die Beurteilung des Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Versicherungsfall genügt der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit. Die von der Beklagten als Unfallfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen mindern die Erwerbsfähigkeit des Klägers ausweislich des Ergebnisses der sorgfältigen Ermittlungen der Beklagten nicht in rentenberechtigendem Grad. Das haben die Ärzte, die jedem Hinweis und Vortrag des Klägers nachgegangen sind, in den von der Beklagten eingeholten Gutachten übereinstimmend und überzeugend begründet. Entscheidend ist danach, dass sowohl auf chirurgischem als auch auf neurologischem Gebiet jedenfalls eine wesentliche, die Zahlung von Verletztenrente rechtfertigende Funktionsstörung der rechten oberen Extremität des Klägers - diese ist Grundlage der Schätzung der MdE - ausgeschlossen worden ist. Anhaltspunkte für eine Gebrauchsminderung der rechten oberen Extremitäten bestehen nicht (Gutachten des Dr. K. vom 13. September 1999, S. 8). Im neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 20. September 1999 äußerten Dres. L. vielmehr den "Verdacht auf eine bewusstseinsnahe Aggravation" und schlossen eine MdE auch auf ihrem Fachgebiet aus. Schließlich mindert die Nasenatmungsbehinderung die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht messbar, sodass nicht entschieden werden muss, ob sie überhaupt wesentlich durch die Nasenbeinfraktur verursacht ist. Denn daran bestehen nach den Ausführungen des Dr. M. im hals-nasen-ohrenärztlichen Gutachten vom 6. März 2000 (S. 15 letzter Absatz) Zweifel.