Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 29.04.2003, Az.: L 13 VG 5/02 NZB
Feststellung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG); Voraussetzungen einer Divergenz; Voraussetzungen einer Rechtssache grundsätzlicher Bedeutung; Voraussetzungen der Versagung einer Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.04.2003
- Aktenzeichen
- L 13 VG 5/02 NZB
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 20204
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0429.L13VG5.02NZB.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - AZ: S 28 VG 90/99
Rechtsgrundlagen
- § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG
- § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG
- § 2 Abs. 1 OEG
- § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Eine Divergenz im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG liegt nur bei einem Widerspruch in den Rechtssätzen vor. Ein solcher Widerspruch ist gegeben, wenn tragende Rechtssätze, die zwei Urteilen zu Grunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Bei mehrfacher Begründung des angefochtenen Urteils, die jeweils tragend ist, muss jede von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweichen.
Ein Opfer verursacht seine Schädigung mit, wenn es sich, ohne sozial nützlich oder sogar von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, bewusst oder leichtfertig der Gefahr der Schädigung aussetzt.
Tenor:
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig sind in der Hauptsache die Feststellung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) und die daraus folgende Erstattung von Heilbehandlungskosten an die Klägerin.
Der bei der Klägerin krankenversicherte 1966 geborene E. (im Folgenden: der Geschädigte) erlitt am 11. Mai 1994 eine Messerstichverletzung im Brustbereich, die zu Aufwendungen der Klägerin in Höhe von 4.314,00 DM (= 2.205,71 EUR) führte. In seinem Entschädigungsantrag vom August 1994 gab der Geschädigte an, er habe die Beteiligten einer Rauferei trennen wollen. Als diese aufgelöst gewesen sei, habe der Täter seinen Bruder festgehalten und er - der Geschädigte - sei zu ihm gegangen. Der Täter habe mit dem Fuß zugetreten, daraufhin habe er sich gewehrt und diesem ins Gesicht geschlagen. Dann habe der Täter ihm das Messer in die Brust gestochen. Nach Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten und der Prozessakte des Landgerichts Bremen über einen Schadensersatzprozess des Geschädigten gegen den Täter lehnte die Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit Bescheid vom 1. Oktober 1999 ab. Zur Begründung gab sie an, es liege ein Versagungsgrund im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG vor. Der Geschädigte habe dem Täter, der mit einem aufgeklappten Springmesser in der Hand gedroht und sich bereits auf dem Rückzug befunden habe, nachgestellt. Bei der anschließenden Schlägerei habe er dann eine Stichverletzung erlitten. Der Geschädigte habe durch sein Verhalten seine späteren Verletzungen wesentlich mitverursacht, da es ohne seine Nachstellungen höchstwahrscheinlich zu keiner weiteren Konfrontation gekommen wäre. Eine Entschädigung sei aus diesem Grunde unbillig.
Hiergegen hat die Klägerin am 19. Oktober 1999 Klage beim Sozialgericht (SG) Bremen erhoben, die mit Urteil vom 15. Februar 2002 unter Nichtzulassung der Berufung abgewiesen worden ist. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Geschädigte habe keinen Anspruch auf Versorgung, da Versagungsgründe im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG vorlägen. Es seien sowohl der Tatbestand der Mitverursachung als Unterfall der Unbilligkeit als auch derjenige der allgemeinen Unbilligkeit erfüllt. Eine Mitverursachung sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dann anzunehmen, wenn der Tatbeitrag des Opfers eine annähernd gleichwertige Bedingung neben der des rechtswidrig handelnden Angreifers darstelle. Das sei hier der Fall, denn nach den eigenen Angaben des Geschädigten im Verwaltungsverfahren habe dieser dem späteren Schädiger in das Gesicht geschlagen. Soweit die Klägerin geltend mache, dass es sich um Nothilfe für den Bruder des Geschädigten gehandelt habe, sei dem entgegenzuhalten, dass der Geschädigte an Stelle der von ihm zunächst zu fordernden Schutzwehr direkt in eine Trutzwehr durch einen eigenen körperlichen Angriff übergegangen sei.
Darüber hinaus seien Entschädigungsleistungen auch wegen allgemeiner Unbilligkeit zu versagen. In der Rechtsprechung (u.a. BSG-Urteil vom 24.04.1980 - Az. 9 RVg 1/79) herrsche Einigkeit darüber, dass eine Leistung insbesondere dann unbillig sei, wenn sich der Geschädigte leichtfertig an einer Schlägerei beteiligt habe. Auf Grund der eigenen Bekundungen des Geschädigten stehe fest, dass dieser an der Schlägerei teilgenommen habe. Er könne insoweit auch nicht geltend machen, er habe nur seinem Bruder Nothilfe leisten wollen. Nach den äußeren Umständen sei nämlich sein Bruder zu den ursprünglichen Angreifern, die in der Überzahl gewesen seien, zu rechnen. Der Geschädigte habe auch nicht geltend gemacht, dass sich sein Bruder tatsächlich in einer akuten Gefahr für Leib oder Leben befunden habe. Die Kammer gehe bei einer Gesamtschau der vorliegenden Zeugenaussagen vielmehr davon aus, dass sich der Geschädigte bewusst auf die Schlägerei eingelassen habe, um seinen Bruder bei dessen Angriff zu unterstützen.
Nachdem der Klägerin das Urteil am 7. März 2002 zugestellt worden ist, hat sie am 25. März 2002 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben. Sie macht geltend, das SG verstoße mit seiner Entscheidung gegen die Rechtsprechung des BSG. Es habe zunächst außer Acht gelassen, dass der Geschädigte nach seinen Angaben seinem Bruder habe zu Hilfe kommen wollen. Eine Mitverursachung durch den Geschädigten habe die Beklagte außerdem mittels Vollbeweises zu beweisen. Dieses sei bisher nicht annähernd geschehen. Zu Unrecht habe das SG auch das Urteil des BSG vom 9. Dezember 1998 (B 9 VG 8/97 R) unberücksichtigt gelassen. Soweit das SG darauf hingewiesen habe, dass sich die vorliegende Tat vor In-Kraft-Treten des 6. Gesetzes zur Reform des Strafrechts ereignet habe, gelte dies auch für den vom BSG entschiedenen Fall. Ferner sei auch die Vorschrift des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) sinngemäß anzuwenden gewesen. Im Übrigen seien OEG-Ansprüche auch nicht mehr auf typische unschuldige Opfer beschränkt, da sie auch in Fällen der Mitverursachung bestehen könnten.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Prozessakte und die Versorgungsakte der Beklagten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
Die Berufung bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Zulassung, da es sich um eine Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts handelt und der Wert des Beschwerdegegenstandes 5.000,00 EUR nicht übersteigt. Ein Zulassungsgrund im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG liegt indes nicht vor.
Die Klägerin macht ausdrücklich lediglich den Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG geltend. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine Divergenz im Sinne dieser Vorschrift liegt nur bei einem Widerspruch in den Rechtssätzen vor. Ein solcher Widerspruch ist gegeben, wenn tragende Rechtssätze, die zwei Urteilen zu Grunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen (BSG SozR 1500 § 160a Nr. 67). Dieses ist vorliegend nicht der Fall. Das SG hat in dem angefochtenen Urteil keine bestimmten, vom BSG oder anderen o. g. Gerichten abweichenden abstrakten Rechtssätze aufgestellt. Vielmehr ist es der Rechtsprechung des BSG zu den Versagungsgründen des § 2 Abs. 1 OEG ausdrücklich gefolgt. Auch soweit es eine Körperverletzung auf Seiten des Geschädigten und eine gefährliche Körperverletzung auf Seiten des Schädigers als annähernd gleichwertige Tatbeiträge angesehen hat, ist es nicht von der Rechtsprechung des BSG abgewichen. Das SG hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich bei den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 9. Dezember 1998 (Az. B 9 VG 8/97 R) zu der fehlenden Gleichwertigkeit der Straftatbestände der Körperverletzung und der gefährlichen Körperverletzung lediglich um ein obiter dictum handelt. Das BSG hat insoweit keinen Rechtssatz aufgestellt, da es auf diese Frage in dem zu entscheidenden Fall letztlich nicht ankam. Selbst wenn aber insoweit eine Abweichung von der Rspr. des BSG vorliegen würde, wäre die Berufung nur zuzulassen, wenn das angefochtene Urteil auf dieser Abweichung beruhen würde, d. h. es bei Zugrundelegung der Auffassung des BSG - zumindest möglicherweise - anders ausgefallen wäre. Bei mehrfacher Begründung des angefochtenen Urteils, die jeweils tragend ist, muss jede von einer Entscheidung des BSG bzw. anderer o. g. Gerichte abweichen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage, § 160 Rn. 14). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, denn das SG hat das Urteil auch darauf gestützt, dass der Geschädigte sich leichtfertig an einer Schlägerei beteiligt habe. Insoweit ist es der Rspr. des BSG (Urteil vom 24.04.1980 - Az. 9 RVg 1/79) gefolgt.
Ebenso wenig hat das SG einen Rechtssatz aufgestellt, der von der Entscheidung des BSG vom 18.06.1996 (Az. 9 RVG 7/94) abweicht, wonach den Versorgungsträger die Beweislast dafür trifft, dass der Tatbeitrag des Gewaltopfers wesentlich ursächlich für die Schädigung war. Über die Beweislast musste das SG bereits deswegen nicht entscheiden, weil es die Frage, ob ein Ausnahmetatbestand im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG vorliegt, nicht für unaufklärbar gehalten hat. Vielmehr hat es die Voraussetzungen dieser Vorschrift als nachgewiesen erachtet.
Die Klägerin macht mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde im Ergebnis geltend, dass das SG nicht ausreichende Feststellungen getroffen bzw. die vorliegenden Unterlagen unzutreffend gewürdigt habe. Eine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG liegt aber nicht schon dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst dann, wenn das SG diesen Kriterien - ausdrücklich - widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Die - behauptete - Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung wegen Divergenz.
Es handelt sich auch nicht um eine Rechtssache grundsätzlicher Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Denn die möglicherweise noch nicht geklärte Rechtsfrage, ob eine Körperverletzung auf Seiten des Geschädigten und eine gefährliche Körperverletzung auf Seiten des Schädigers als annähernd gleichwertige Tatbeiträge anzusehen sind, bedarf auch hier - wie in der Entscheidung des BSG vom 9. Dezember 1998 (Az. B 9 VG 8/97 R) - keiner Entscheidung. Denn das SG hat das Urteil zu Recht auch darauf gestützt, dass der Geschädigte sich leichtfertig an einer Schlägerei beteiligt habe, auch wenn eine solche unmittelbare Tatbeteiligung unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung (§ 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 OEG), nicht der Unbilligkeit (§ 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 OEG) zu prüfen gewesen wäre (vgl. BSGE 83, 62). Es ist in der Rspr. des BSG geklärt, dass ein Opfer seine Schädigung mitverursacht, wenn es sich, ohne sozial nützlich oder sogar von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, bewusst oder leichtfertig der Gefahr der Schädigung ausgesetzt hat (BSG-Urteil vom 09.12.1998, Az. B 9 VG 8/97 R m.w.N..). Vorliegend hat sich der Geschädigte leichtfertig in die Auseinandersetzung begeben, ohne dass er auch nur vorgetragen hätte, dass sein Bruder akut bedroht gewesen wäre. Liegen danach keine Anhaltspunkte für eine Nothilfesituation vor, hat der Geschädigte nach den Feststellungen des SG auch nicht aus anderen billigenswerten Motiven in die Schlägerei eingegriffen, etwa um die Streitigkeiten zu schlichten und Schlimmeres zu verhüten.
Schließlich ist die Berufung auch nicht nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG zuzulassen, da kein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Sollte die Klägerin mit dem Vortrag, die vom SG herangezogene Aussage des Geschädigten, er habe dem späteren Schädiger ins Gesicht geschlagen, sei ihr nicht bekannt, der Sache nach einen Verfahrensfehler (Verletzung des rechtlichen Gehörs) rügen wollen, liegt dieser jedenfalls nicht vor. Denn diese Aussage findet sich in dem von der Klägerin selbst an die Beklagte übersandten Entschädigungsantrag vom 11. August 1994.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.