Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 30.04.2003, Az.: L 13 SB 33/01

Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) wegen Heilungsbewährung (Überwindung einer Krebserkrankung); Magenerkrankung verbunden mit einem Magen-Karzinom; Überwindung der Krebskrankheit nach Magenentfernung; Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP 1996); Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
30.04.2003
Aktenzeichen
L 13 SB 33/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20215
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0430.L13SB33.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 10.09.2001 - AZ: S 27 SB 10/01

Redaktioneller Leitsatz

Grundsätzlich ist der GdB unter Zuhilfenahme der AHP, Stand November 1996 (AHP 1996), zu bewerten. Diese sind zwar kein Gesetz und auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelt sich bei ihnen jedoch um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung. Sie engt das Ermessen von Verwaltung und Ärzten ein, führt zur Gleichbehandlung und ist deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zu Grunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich von diesen auszugehen.

Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist u.a. nach Ablauf der Heilungsbewährung gegeben, d. h. etwa nach Wegfall der mit einer Krebserkrankung verbundenen Behinderung nach einem rückfallfreien Ablauf von fünf Jahren bei im übrigen unverändertem Gesundheitszustand. Der Begriff "Heilungsbewährung" beschreibt nicht nur, dass nach Ablauf der Bewährungszeit keine erhebliche Rezidivgefahr mehr besteht, sondern umfasst daneben auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es nach den in den AHP zusammengefassten sozialmedizinischen Erfahrungen, bei Krebserkrankungen nicht nur den Organverlust zu bewerten, sondern allein wegen der Krebserkrankung einen GdB von mindestens 50 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zunächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung nötigt andererseits dazu, den GdB herabzusetzen, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren auf Grund medizinischer Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden ist und außer der unmittelbaren Lebensbedrohung damit auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 10. September 2001 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) bzw. dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).

2

Bei dem 1953 geborenen Kläger erfolgte im November 1994 wegen eines Magen-Karzinoms eine operative Magenentfernung. Im Dezember 1994 wurde ein Tumor im linken Lungenlappen entfernt. Mit Bescheid vom 5. Mai 1995 stellte die Beklagte unter Berücksichtigung einer operativ behandelten Magenerkrankung (in Heilungsbewährung) einen GdB von 80 ab dem 29. Dezember 1994 fest.

3

Im Rahmen einer von Amts wegen eingeleiteten Überprüfung zog die Beklagte einen Befundbericht des Hausarztes Dr. I. vom 11. November 1999 und einen Reha-Entlassungsbericht der J. über einen Aufenthalt des Klägers vom 10. Januar bis 7. Februar 1995 bei. Nachdem diese Unterlagen vom versorgungsärztlichen Dienst aus-gewertet worden waren, teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 27. Januar 2000 mit, es sei eine Herabsetzung des GdB auf 30 beabsichtigt. Ausweislich des Be-fundberichts des Dr. I. sei der in dem Bescheid vom 5. Mai 1995 eingeräumte Zeitraum der Heilungsbewährung positiv verlaufen, insbesondere bestehe kein Anhalt für ein Rezi-div. Der Kläger wies auf einen anstehenden Vorsorgetermin hin, worauf die Beklagte einen weiteren Befundbericht des Dr. I. vom 29. Juni 2000 einholte. Dieser teilte mit, dass sich gegenüber der Berichterstattung vom November 1999 hinsichtlich des körperli-chen Untersuchungsbefundes keine wesentliche Veränderung ergeben habe. Nach er-neuter Anhörung des Klägers (Schreiben vom 1. August 2000) setzte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. September 2000 den GdB mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2000 auf 30 fest. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Wi-derspruchsbescheid vom 14. Dezember 2000).

4

Mit seiner am 11. Januar 2001 beim Sozialgericht (SG) Bremen erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, durch die operative Entfernung des Magens habe sich sein psychischer und physischer Zustand erheblich verschlechtert. Er sei so-wohl im Berufs- als auch im Privatleben körperlich bei weitem nicht mehr so belastbar. Dies drücke sich insbesondere in Stresssituationen an seinem Arbeitsplatz aus. Sein angegriffener Gesundheitszustand zeige sich am deutlichsten durch einen extremen Gewichtsverlust. Ohne seine Lebensgewohnheiten zu ändern, habe er im letzten Jahr mehr als 25 kg Gewicht verloren.

5

Nach Beiziehung eines Befundberichts des Dr. I. vom 5. Juli 2001 hat das SG die Klage mit Urteil vom 10. September 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) eingetreten, die die Beklagte zur Neufeststellung des GdB berechtige. Nach Ablauf der sog. Heilungsbewährung stelle das Nichtauftreten von Rezidiven bei einer bösartigen Geschwulsterkrankung eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 SGB X dar. Die bei dem Kläger 1994 festgestellte bösartige Magener-krankung sei nach erfolgreich durchgeführter Operation innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraumes nicht wieder aufgetreten. Die nunmehr ab dem 1. Oktober 2000 mit 30 fest-gesetzte Höhe des GdB berücksichtige die vom behandelnden Arzt mitgeteilten fortbe-stehenden Beschwerden auf Grund des Magenverlustes, einschließlich der aufgetretenen Müdigkeit und Abgeschlagenheit sowie der reduzierten Belastbarkeit. Der vom Kläger geltend gemachte Gewichtsverlust, der vom behandelnden Arzt nicht erwähnt worden sei, lasse keineswegs ohne weiteres darauf schließen, dass ein bösartiges Leiden auf-getreten sei. Im Übrigen habe der Arzt einen Entkräftungszustand nicht mitgeteilt.

6

Gegen das ihm am 1. Dezember 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29. Dezem-ber 2001 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, dass eine wesentliche Änderung in seinen gesundheitlichen Verhältnissen nicht eingetreten sei. Die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-hindertengesetz (AHP) kämen als Rechtsgrundlage für eine Reduzierung des GdB nicht in Betracht. Insoweit beruft sich der Kläger auf eine Entscheidung des SG Düsseldorf vom 13. Februar 2002 (Az. S 31 SB 282/01). Ferner weist er darauf hin, dass er seit der operativen Magenentfernung verstärkt unter Müdigkeit und reduzierter Belastbarkeit zu klagen habe und bei ansonsten unveränderten Lebensgewohnheiten in kürzester Zeit einen nicht unerheblichen Gewichtsverlust habe hinnehmen müssen. Der von der Be-klagten angenommene GdB von 30 sei daher nicht angemessen.

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Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 10. September 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 14. Dezember 2000 aufzuheben.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Sie hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

10

Im Berufungsverfahren ist ein weiterer Befundbericht des Dr. I. vom 23. Januar 2003 beigezogen worden. Dieser hat hinsichtlich des Magenleidens eine subjektiv leichte Zu-nahme der Regurgitationsbeschwerden (Zurückströmen von Speisen in die Mundhöhle) mitgeteilt. Ansonsten bestehe bei weiterer Tumorfreiheit ein stationärer Befund. Ferner hat Dr. I. einen Gewichtsverlust von 100 kg (Juni 2001) auf 92 kg (November 2002) an-gegeben.

11

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird Bezug genommen auf die Prozess-akte (Az. L 13 SB 33/01, S 27 SB 10/01) sowie die Schwerbehindertenakte (Antr. List. Nr. ... 814871). Diese Unterlagen haben dem Gericht vorgelegen und sind zum Gegen-stand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

12

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht rechtswidrig. Das SG hat zutreffend erkannt, dass dem Kläger nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit ein höherer GdB als 30 nicht mehr zustand.

13

Die Behinderung und der dadurch bedingte GdB sind im vorliegenden Fall noch nach den Vorschriften der §§ 3, 4 SchwbG festzustellen, das bis zum 30. Juni 2001 gegolten hat. Denn es handelt sich um eine reine Anfechtungsklage, sodass auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2000) abzustellen ist.

14

Grundsätzlich ist der GdB unter Zuhilfenahme der AHP, Stand November 1996 (AHP 1996), zu bewerten. Diese sind zwar kein Gesetz und auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelt sich bei ihnen jedoch um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung. Sie engt das Ermessen von Verwaltung und Ärzten ein, führt zur Gleichbehandlung und ist deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zu Grunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich von diesen auszugehen (BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 m.w.N.). Deshalb stützt sich auch der erkennende Senat in seiner ständigen Rechtsprechung auf die genannten Anhaltspunkte. An der bisherigen Feststellungspraxis hat sich im Übrigen durch den Umstand nichts geändert, dass mit Wirkung vom 1. Juli 2001 das SGB IX in Kraft getreten ist und die Feststellung der Behinderung nunmehr nach §§ 2, 69 SGB IX erfolgt (BSG, Urteil vom 07.11.2001 - Az. B 9 SB 1/01 R, veröffentlicht in der JURIS-Datenbank). Soweit sich der Kläger auf das Urteil des SG Düsseldorf vom 13. Februar 2002 (Az. S 31 SB 282/01) beruft, wonach ein GdB aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht unter Berufung auf das in den AHP geregelte Institut der Heilungsbewährung herabgesetzt werden darf, ist dieses Urteil zwischenzeitlich aufgehoben worden (Urteil des Landessozialgerichts -LSG - Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 2002, Az. L 7 SB 39/02). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat trotz der vom SG Düsseldorf erhobenen Einwände keinen Anlass gesehen, von der ständigen Rechtsprechung des BSG zur Anwendbarkeit der AHP abzuweichen. Dieser Beurteilung schließt sich der erkennende Senat an.

15

Die Beklagte war gemäß § 48 SGB X berechtigt, den GdB unter Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides vom 05. Mai 1995 mit Wirkung ab dem 01. Oktober 2000 auf 30 festzusetzen, denn gegenüber der Feststellung von 1995 hatte sich eine wesentliche Änderung ergeben. Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist u.a. nach Ablauf der Heilungsbewährung gegeben, d. h. nach Wegfall der mit einer Krebserkrankung verbundenen Behinderung nach einem rückfallfreien Ablauf von fünf Jahren bei im übrigen unverändertem Gesundheitszustand. Der Begriff "Heilungsbewährung" beschreibt nicht nur, dass nach Ablauf der Bewährungszeit keine erhebliche Rezidivgefahr mehr besteht, sondern umfasst daneben auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es nach den in den AHP zusammengefassten sozialmedizinischen Erfahrungen, bei Krebserkrankungen nicht nur den Organverlust zu bewerten, sondern allein wegen der Krebserkrankung einen GdB von mindestens 50 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zu-nächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung nötigt andererseits dazu, den GdB herabzusetzen, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren auf Grund medizinischer Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden ist und außer der unmittelbaren Lebensbedrohung damit auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind (BSG, Urteil vom 09.08.1995, Az.: 9 RVs 14/94, veröffentlicht in der JURIS-Datenbank).

16

Nach rezidivfreiem Verlauf der Heilungsbewährungszeit, die bei dem Kläger bis November 1999 dauerte, ist der GdB nunmehr nur noch nach dem Ausmaß der Funktionsstörungen zu bemessen. Nach den AHP 1996 (Seite 96) beträgt der GdB bei einer Totalentfernung des Magens ohne Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes je nach Beschwerden 20 bis 30. Davon ausgehend hat die Beklagte den Magenverlust vorliegend zutreffend mit einem GdB von 30 bewertet. Dabei sind die von dem Kläger geklagten Beschwerden wie verstärkte Müdigkeit und reduzierte Belastbarkeit berücksichtigt worden. Die Voraussetzungen für einen höheren GdB (Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes und/oder Komplikationen) lassen sich jedenfalls für den hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung nicht feststellen. Den beigezogenen hausärztlichen Befundberichten sind diesbezüglich keine Anhaltspunkte zu entnehmen. Soweit der Kläger mehrfach auf einen deutlichen Gewichtsverlust hingewiesen hat, war er mit einem Gewicht von 112 kg (hausärztlicher Bericht vom 11. November 1999) bzw. 107 kg (hausärztlicher Bericht vom 29. Juni 2000) bei einer Körpergröße von 187 cm (vgl. Bericht der Sonnenberg-Klinik) noch deutlich übergewichtig. Selbst das im Berufungsverfahren zuletzt mitgeteilte Gewicht von 92 kg spricht nicht für eine Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes.

17

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

18

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.