Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.04.2003, Az.: L 6 U 231/01
Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente wegen einer Schwerhörigkeit mit Tinnitus aufgrund eines Arbeitsunfalls; Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 24.04.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 231/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20189
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0424.L6U231.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 22.05.2001 - AZ: S 71 U 255/00
Rechtsgrundlagen
- § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII
- § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 22. Mai 2001 wird zurück- gewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Verletztenrente.
Der 1949 geborene Kläger erlitt am 5. November 1969 bei seiner betrieblichen Tätigkeit eine Schweißperlenverletzung des rechten Trommelfells. 1970 und 1973 wurden Tympanoplastiken durchgeführt, von einer Entfernung der Schweißperle wurde abgesehen.
Am 15. September 1998 stellte sich der Kläger in der Poliklinik für HNO-Heilkunde der Universität C. vor und gab eine progrediente Hörminderung des rechten Ohres sowie ein seit 1970 bestehendes Ohrgeräusch an. Am 13. Oktober 1998 erfolgte eine dritte Tympanorevision, die Reste der Schweißperle wurden entfernt. Am 7. März 2000 beantragte der Kläger Unfallrente.
Die Beklagte holte das Gutachten von Prof. Dr. D. vom 6. Juni 2000 ein. Nach den Ausführungen der Gutachter besteht als Folge des Arbeitsunfalls eine Schwerhörigkeit rechts und auf Grund des zeitlichen Zusammenhanges auch ein Tinnitus. Unter Berücksichtigung des einfachen Gesamtwortverstehens für die Knochenleitung rechts bestehe ein prozentualer Hörverlust von 50 % und für die Luftleitung ein prozentualer Hörverlust von 70 %. Auch unter Berücksichtigung des bisher nicht therapierten Ohrgeräusches, das nicht zur Beeinträchtigung des Schlafverhaltens führe, schätzten sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 10 vH.
Mit Bescheid vom 17. Juli 2000 erkannte die Beklagte eine kombinierte, dem Schweregrad nach beginnende Schwerhörigkeit mit Tinnitus rechts an. Die Zahlung einer Rente lehnte sie mit der Begründung ab, die Unfallfolgen begründeten nur eine MdE unter 10 v.H. (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2000). Die dagegen gerichtete Klage hat das SG Oldenburg mit Gerichtsbescheid vom 22. Mai 2001 abgewiesen.
Gegen diesen am 29. Mai 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 1. Juni 2001 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
den Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 22. Mai 2001 aufzuheben,
- 2.
den Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2000 zu ändern,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente auf unbestimmte Zeit in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 22. Mai 2001 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält den Gerichtsbescheid des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens von Prof. Dr. E. vom 21. Oktober 2002.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes, des Vorbringens der Beteiligten und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung hat die Verwaltungsakte der Beklagten zu Grunde gelegen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Das SG und die Beklagte haben zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente verneint.
Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wird gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII nur gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls (hier: Arbeitsunfall) über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis heranzuziehen sind (BSG SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23). Zur Beurteilung der MdE bei Hörschäden bieten die Empfehlungen des HVBG für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit ("Königsteiner Merkblatt"), 4. Auflage 1995 eine geeignete Grundlage (BSG, Urteil vom 15. Dezember 1982, 2 RU 55/81, Meso B 40/24).
Im vorliegenden Fall hat der Unfall vom 5. November 1969 zu einer Schwerhörigkeit rechts mit Tinnitus rechts geführt; diese Unfallfolgen hat die Beklagte auch anerkannt. Indes rechtfertigt diese Beeinträchtigung des Gehörs noch nicht die Annahme einer MdE um mindestens 20 vH. Dies ergibt sich nach Auswertung der im Verwaltungs- und Berufungsverfahren eingeholten Gutachten. Nach den übereinstimmenden Feststellungen von Prof. Dr. F. und Prof. Dr. E. besteht rechts ein Hörverlust von 70 % (hochgradige Schwerhörigkeit), während für das linke Ohr kein Hörverlust festzustellen ist. Eine Hörminderung dieses Ausmaßes rechtfertigt jedoch lediglich eine MdE von 10 v.H. ("Königsteiner Merkblatt").
Eine mindestens 20 %ige MdE ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Ohrgeräusches rechts. Denn ein - dauernder - Tinnitus ist bei der Bemessung der MdE nur zu berücksichtigen, wenn der vernommene Ton als quälend empfunden wird und entsprechende psychovegetative Auswirkungen zur Folge hat (LSG Niedersachsen Urteil vom 30. Oktober 1996, L 6 U 44/96, MESO B 40/68; Mehrtens/Perlebach Die Berufskrankheiten-Verordnung M 2301 6.4). Empfindet der Betroffene den Tinnitus dagegen nicht als belastend, so ist das Geräusch für sich gesehen bedeutungslos und kann nicht mit einer Einzel-MdE bewertet werden. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ergibt sich, dass das Ohrgeräusch des Klägers bei der Bewertung des Gesamtschadensbildes nicht zu berücksichtigen ist. Denn der Tinnitus ist zwar belästigend, der Kläger hat sich aber - wie er bei der Untersuchung bei Prof. Dr. E. angegeben hat - damit arrangiert; die Ohrgeräusche haben nicht zu einer Veränderung seines Lebenswandels oder zu einer Beeinträchtigung des Schlafverhaltens geführt. Folglich hat auch Prof. Dr. E., der Arzt des Vertrauens des Klägers, die MdE selbst unter Berücksichtigung des Tinnitus nur mit 15 v.H. eingeschätzt.
Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.