Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 08.04.2003, Az.: L 9 SB 55/01
Feststellung des Grades einer Behinderung; Bedeutung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit; Feststellung der Höhe des Grades einer Behinderung; Bildung des Gesamtgrades einer Behinderung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 08.04.2003
- Aktenzeichen
- L 9 SB 55/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21012
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0408.L9SB55.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - AZ: S 30 SB 710/98
Rechtsgrundlagen
- § 124 Abs. 2 SGG
- § 48 Abs. 1 SGB X
- § 3 SchwbG
- § 69 Abs. 1 S. 3 SGB IX
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Höhe des Grades einer Behinderung richtet sich nicht nach Anzahl und Schwere der etwa vorhandenen Erkrankungen, sondern ausschließlich nach dem Ausmaß regelwidriger, ggf. krankheitsbedingt entstandener Funktionseinbußen. Ihre Bewertung ist anhand der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit und nach dem Schwerbehindertengesetz zu vollziehen, die insoweit aus Gründen der Gleichbehandlung auch für die Rechtsprechung verbindlich sind, obwohl ihnen keine Rechtsnormqualität zukommt.
- 2.
Es obliegt im gerichtlichen Verfahren nicht dem Mediziner, insbesondere dem ärztlichen Gutachter, sondern dem Gericht, aus den ärztlicherseits objektivierten Funktionsbeeinträchtigungen den letztverantwortlichen Schluss auf bestimmte einzelne Grade einer Behinderung zu ziehen und bei Vorliegen mehrerer Behinderungen hieraus im Vergleich zu anderen Funktionseinschränkungen und den für sie vorgesehenen Behinderungsgraden einen systemgerechten Gesamtgrad der Behinderung zu bilden.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Im Berufungsverfahren streiten die Beteiligten noch über die Frage, ob der beim Berufungskläger vorliegende schwerbehindertenrechtliche Grad der Behinderung (GdB) mit mehr als 40 festzustellen ist.
Bei dem im Februar 1953 geborenen Berufungskläger war zuletzt mit Ausführungsbescheid vom 12. Januar 1993 ein GdB von 30 wegen umformender Wirbelsäulenveränderungen bei operiertem Bandscheibenvorfall L4/L5 mit Wurzelrestsymptomatik sowie eines Zwölffingerdarm-Geschwürsleidens und Hämorriden festgestellt worden.
Am 13. November 1997 stellte der Berufungskläger einen Verschlimmerungsantrag, zu dessen Begründung er darauf hinwies, dass unterdessen auch Beschwerden im Bereich des Nackens und der Brustwirbelsäule sowie im Bereich der Hüftgelenke bestünden und ein Prostataleiden hinzugetreten sei. Das Versorgungsamt (VA) Hannover zog hierüber Befundberichte des Orthopäden Dr. D. vom 28. November 1997 sowie des Urologen Dr. E. vom 25. November 1997 bei, holte eine Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes ein und lehnte sodann den Antrag mit Bescheid vom 9. Juni 1998 unter Hinweis darauf ab, dass eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Berufungsklägers nicht eingetreten sei. Den hiergegen am 23. Juni 1998 erhobenen Widerspruch wies das Landesversorgungsamt nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 1998 zurück.
Am 23. Dezember 1998 ist Klage erhoben worden, mit der der Berufungskläger die Zuerkennung eines GdB von wenigstens 50 begehrt hat. Zur Begründung hat er geltend gemacht, bereits die auf orthopädischem und internistischem Fachgebiet vorliegenden Funktionseinbußen seien mit einem höheren GdB als 30 zu bewerten. Hinzu getreten sei noch das Prostataleiden, das wegen seines chronisch-entzündlichen Verlaufs mit einem höheren Teil-GdB als 10 zu bewerten sei.
Das Sozialgericht (SG) hat zur weiteren Sachaufklärung Befundberichte des Orthopäden Dr. D. vom 18. März 1999, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. F. vom 18. März 1999 sowie des Urologen Dr. E. vom 23. März 1999 eingeholt, verschiedene ärztliche Bescheinigungen, darunter das Attest der Neurologin Dr. G. vom 15. Januar 2001 über einen im Bereich der Halswirbelsäule im Segment C 3/C4 vorliegenden Bandscheibenvorfall, ausgewertet und das Terminsgutachten des Dr. H. vom 27. Februar 2001 erstatten lassen. Der Gutachter hat darin den beim Berufungskläger vorliegenden GdB mit insgesamt 40 eingeschätzt.
Mit Urteil vom 27. Februar 2001 hat daraufhin das SG den Berufungsbeklagten unter Aufhebung seiner entgegen stehenden Bescheide verurteilt, den beim Berufungskläger vorliegenden GdB mit nunmehr 40 zu bewerten.
Mit seiner am 11. April 2001 eingelegten Berufung verfolgt der Berufungskläger sein Begehren weiter, bei ihm einen GdB von wenigstens 50 festzustellen. Er macht geltend, der Sachverständige Dr. H. habe in seinem mündlich erstatteten Gutachten die bei ihm vorliegenden Funktionseinschränkungen nicht vollständig und angemessen berücksichtigt.
Der Berufungskläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichtes Hannover vom 27. Februar 2001 abzuändern und den Bescheid des Beklagten vom 9. Juni 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 1998 aufzuheben,
- 2.
den Berufungsbeklagten zu verurteilen, den bei ihm vorliegenden Grad der Behinderung mit wenigstens 50 festzustellen.
Der Berufungsbeklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung hinsichtlich der Folgen eines vom Berufungskläger am 17. August 2000 erlittenen Unfalls das Attest des Zahnarztes Dr. I. vom 29. August 2001 sowie das neurologische Gutachten des J. Hannover, Dr. K., vom 4. November 2001 ausgewertet und das orthopädische Fachgutachten des Dr. L. vom 18./28. Juni 2002 erstatten lassen. Dr. L. hat bei dem Berufungskläger degenerative Veränderungen im Bereich aller drei Wirbelsäulenabschnitte (interner Teil-GdB 40), eine chronische Prostatitis mit Miktionsstörung und Potenzstörung (interner Teil-GdB 20), einen Hallux valgus beiderseits ohne wesentliche Funktions- oder Belastungsbeschwerden (interner Teil-GdB 10) sowie ein Zwölffingerdarmgeschwürs- und Hämorridalleiden (interner Teil-GdB 10) festgestellt und den beim Berufungskläger vorliegenden Gesamt-GdB auf dieser Grundlage mit 40 eingeschätzt.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Schwerbehindertenakten des Berufungsbeklagten Bezug genommen, die beigezogen worden sind. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung. Dabei ist die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung zurückzuweisen. Nachdem das Sozialgericht das Vorliegen einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X gegenüber dem letzten bestandskräftigen Feststellungsbescheid 12. Januar 1993 bereits bejaht und den Berufungsbeklagten zu einer Neufeststellung des beim Berufungskläger vorliegenden schwerbehindertenrechtlichen Grades der Behinderung - GdB - mit 40 verurteilt hat, ist auf die lediglich vom Berufungskläger eingelegte Berufung hin allein noch darüber zu befinden, ob vom Berufungsbeklagten beim Berufungskläger ein noch höherer GdB als 40 festzustellen ist. Hierauf hat der Berufungskläger zur Überzeugung des Senats keinen Anspruch. Eine weiter gehende wesentliche Änderung in seinen gesundheitlichen Verhältnissen im Sinne einer Verschlimmerung ist nach dem Ergebnis der medizinischen Sachaufklärung nicht über das mit Urteil vom 27. Februar 2001 festgestellte Ausmaß nachgewiesen. Das angefochtene Urteil erweist sich daher als zutreffend.
Nach § 3 Abs. 1 und 2 SchwbG bzw. § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX sind für den GdB die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Funktionsbeeinträchtigungen maßgebend, die auf regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zuständen beruhen. Die Höhe des GdB richtet sich daher von Gesetzes wegen nicht nach Anzahl und Schwere der etwa vorhandenen Erkrankungen, sondern ausschließlich nach dem Ausmaß regelwidriger, ggf. krankheitsbedingt entstandener Funktionseinbußen. Ihre Bewertung ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts anhand der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit und nach dem Schwerbehindertengesetz (zuletzt von 1996) - AHP 96 - zu vollziehen, die insoweit aus Gründen der Gleichbehandlung auch für die Rechtsprechung verbindlich sind, obwohl ihnen keine Rechtsnormqualität zukommt (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 23. Juni 1993, Az. 9/9a RVs 1/91; BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 - Az.: 9 RVs 1/93 -). Weil die gleichmäßige Heranziehung der AHP 96 hiernach Gegen stand einzelfallbezogener Rechtsanwendung ist, obliegt es im gerichtlichen Verfahren nicht dem Mediziner, insbesondere dem ärztlichen Gutachter, sondern dem Gericht, aus den ärztlicherseits objektivierten Funktionsbeeinträchtigungen den letztverantwortlichen Schluss auf bestimmte einzelne GdB - Grade zu ziehen und bei Vorliegen mehrerer Behinderungen hieraus im Vergleich zu anderen Funktionseinschränkungen und den für sie vorgesehenen Behinderungsgraden einen systemgerechten Gesamt - GdB zu bilden. Allerdings wird das Gericht hierbei die Vorschläge der im Verfahrensverlauf eingeschalteten Gutachter wesentlich berücksichtigen, wenn und soweit diese ihrerseits erkennbar in Anwendung der AHP 96 entstanden und an diesen gemessen schlüssig sind. Methodisch sind insoweit bei der Anwendung der AHP ausgehend von den einzelnen Gesundheitsstörungen regelmäßig Teil - Behinderungsgrade für die in Randnummer 18 Abs. 4 der AHP (83 und 96) genannten Funktionssysteme zu bilden. Für die Bildung des Gesamt - GdB ist von dem Funktionssystem mit dem höchsten Teil - GdB auszugehen und dann für die weiteren beeinträchtigten Funktionssysteme jeweils zu prüfen, ob und inwieweit eine Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung eintritt und damit eine Erhöhung des GdB gerechtfertigt ist (Rdnr. 1 Abs. 3 AHP 96). Durch das Hinzutreten weiterer leichterer Behinderungen ist dabei in der Regel eine Erhöhung des GdB nicht gerechtfertigt (Randnr. 1 Abs. 3 AHP 84, Randnr. 1 Abs. 4 AHP 96).
Das vom Senat eingeholte orthopädische Gutachten des M. entspricht den vorstehend erläuterten Anforderungen der AHP 96, sodass der Senat keine Bedenken hat, den Vorschlägen dieses Gutachters zu folgen.
Die führenden Funktionseinschränkungen sind beim Berufungskläger danach im Bereich der Wirbelsäule festzustellen. Gegenüber dem Befundbericht des Dr. D. vom 18. März 1999 und dessen Bescheinigung vom 5. Oktober 1999 hat dabei im Anschluss an den Befundbericht der Frau Dr. G. vom 15. Januar 2001 bereits das Gutachten des Dr. H. vom 27. Februar 2001 insoweit eine wesentliche Verschlimmerung ergeben, als sich die im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) bestehenden Funktionseinschränkungen mit Eintritt eines Bandscheibenvorfalls im Segment C3/C4 und verstärkter Schmerzausstrahlung in Schulter und Arme deutlich intensiviert haben, sodass sie nunmehr bis auf weiteres als mittelgradig einzustufen sind. Unter Berücksichtigung der bekannten, ebenfalls mittelgradigen Funktionseinschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule und der geringer ausgeprägten degenerativen Veränderungen im Bereich der Brustwirbelsäule, die dort ohne wesentliche, dokumentierte Bewegungseinschränkungen oder Schmerzsymptome bleiben, liegen mithin mittelgradige, d.h. von häufigen und tagelang andauernden Wirbelsäulensyndromen bestimmte Funktionseinbußen in zwei Wirbelsäulenabschnitten und geringgradige Funktionseinbußen in einem weiteren Wirbelsäulenabschnitt vor. Dieses Beschwerdebild kann - wie von Dr. L. vorgeschlagen - nach den AHP 96 (vgl. dort Nr. 26.18, Seite 139) mit einem Teil - GdB von jedenfalls nicht mehr als 40 bewertet werden; denn danach steht für Wirbelsäulenveränderungen mit mittelgradigen bis schweren Funktionseinschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ein Bewertungsrahmen zwischen 30 und 40 zur Verfügung, während die Zuerkennung eines Teil - GdB von 50 für Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule eine - beim Berufungskläger nicht vorliegende - weit gehende Versteifung in allen Abschnitten oder vergleichbare Bewegungseinschränkungen voraussetzt (vgl. AHP 96 a.a.O.).
Hinzu tritt eine Prostatitis (infektiöse Entzündung der Vorsteherdrüse, vgl. Pschyrembel, klinisches Wörterbuch, Stand 2002, unter dem entsprechenden Stichwort), deren von Dr. L. vorgeschlagene Bewertung mit einem Teil - GdB von 20 ebenfalls keinen Bedenken begegnet. Diese Einstufung schöpft den nach Nr. 26.13 AHP 96 für chronische bakterielle Entzündungen der Vorsteherdrüse überhaupt möglichen Bewertungsrahmen vollständig aus und impliziert dabei bereits das Vorliegen andauernder Miktionsbeschwerden und Schmerzzustände. Demgegenüber ergibt sich aus den Befundberichten des behandelnden Urologen Dr. E. ein bis auf weiteres schubweiser Verlauf mit wechselnden Phasen unter-schiedlicher Beschwerdeintensität, sodass die vollständige Ausschöpfung des Bewertungsrahmens durch Dr. L. im Ganzen sogar eher wohl wollend und nur unter Berücksichtigung der vom Berufungskläger geklagten weiteren Symptome (Potenzstörung) gerechtfertigt erscheint.
Schließlich hat der Senat auch keinen Zweifel daran, dass die beim Berufungskläger festzustellende Großzehen - Belastungsdeformität (hallux valgus, vgl. Pschyrembel, a.a.O., zum entsprechenden Stichwort) auf Grund des Fehlens wesentlicher Funktionsstörungen mit einem Behinderungsgrad von 10 zutreffend bewertet ist. Entsprechendes gilt nach Nr. 26.10 AHP 96 in Ermangelung wesentlicher Auswirkungen auf den Ernährungs- und Kräftezustand für das Zwölffinger-darmgeschwürsleiden des Berufungsklägers sowie für dessen Hämorridalleiden, für das eine wesentliche Thrombose- oder Blutungsneigung ärztlicherseits nicht festgestellt worden sind. Auch der von Dr. L. in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Dr. H. vorgeschlagene Gesamt - GdB von 40 begegnet hiernach keinen Bedenken.