Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.04.2003, Az.: L 5 SB 138/01
Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 70 v.H.; Ablauf der Heilungsbewährung für eine Lungenerkrankung und für einen "Kunstafter nach Dickdarmteilentfernung"; Wesentliche Änderung in den tatsächlichen (gesundheitlichen) Verhältnissen; Bemessung des Grades der Behinderung (GdB) für eine Lungenerkrankung; Bildung eines Gesamt-Grades der Behinderung (GdB) aus den einzelnen Funktionsbeinträchtigungen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.04.2003
- Aktenzeichen
- L 5 SB 138/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21183
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0429.L5SB138.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich -11.09.2001 - AZ: S 4 SB 77/00
Rechtsgrundlagen
- § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 69 Abs. 3 SGB IX
Redaktioneller Leitsatz
Bei der Bildung des Gesamt-GdB erfolgt keine Addition der Einzel-GdB. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen der erste GdB um 10 oder 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 11. September 2001 wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht noch, ob der Kläger im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens über das Teil-Anerkenntnis vom 9. März 2001 hinaus einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 70 hat.
Der am I. geborene Kläger litt seit Jahren an intermittierenden Atemwegsbeschwerden mit Dyspnoe und Auswurf. Im Herbst 1994 wurde der Verdacht auf ein zentrales Bronchialkarzinom links geäußert. Auf Grund dieser Diagnose und eines dem Kläger mitgegebenen histologischen Befundes, der ein großzellig entdifferenziertes Carcinom mit umgebender chronisch unspezifischer entzündlicher Infiltration auswies, wurde beim Kläger im September 1994 im J. eine Pneumektomie (komplette Entfernung des linken Lungenflügels) vorgenommen. Ausweislich des Arztbriefes des K. an Dr. L. vom 17. November 1994 erbrachte die histologische Untersuchung des Lungenpräparats jedoch keinen Tumornachweis. Eine nochmalige Überprüfung des histologischen Präparats bestätigte die Tumorfreiheit.
Unter dem 14. Oktober 1994 stellte der Kläger einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Nach Auswertung weiterer medizinischer Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Januar 1995 beim Kläger einen GdB von 100 fest und erkannte die Nachteilsausgleiche "G", "aG" und "B" zu. Als zu Grunde liegende Gesundheitsstörung wurde anerkannt:
"Lungenerkrankung - im Zustand der Heilungsbewährung."
Im Oktober 1995 wurde beim Kläger im Rahmen einer Koloskopie ein bösartiger Polyp im Dickdarm diagnostiziert. Es erfolgte im Städtischen Klinikum M. eine basisnahe Polyektomie, die einen Dickdarmtumor nachwies. Wegen postoperativer Komplikationen musste ein protektives Ileostoma (künstlicher Darmausgang) gelegt werden, das ausweislich der Befundberichte des behandelnden Internisten Dr. N. am 24. Juli 1996 zurückverlegt worden ist.
Den im Hinblick auf den Dickdarmkrebs gestellte Neufeststellungsantrag, mit dem der Kläger auch die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" beantragte, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19. März 1996 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass als weitere Behinderung zwar ein "Kunstafter nach Dickdarm-Teilentfernung - im Zustand der Heilungsbewährung -" vorliege, dies jedoch keinen Einfluss auf den festgestellten Gesamt-GdB habe. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" lägen nicht vor.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 1999 stellte der Beklagte nach vorausgegangener Anhörung den GdB des Klägers ab 1. Januar 2000 mit 70 neu fest. In der Anhörung hatte der Beklagte darauf hingewiesen, dass die Heilungsbewährung für die Lungenerkrankung abgelaufen sei. Daher sei der GdB für die verbliebene mittelgradige Lungenfunktionseinschränkung auf 50 herabzusetzen. Im Zusammenwirken mit der weiteren Funktionseinschränkung "Kunstafter nach Dickdarmteilentfernung" ergebe sich ein GdB von 70. Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen und Beteiligung des Ärztlichen Dienstes setzte der Beklagte nach erneuter Anhörung mit Bescheid vom 13. März 2000 den GdB des Klägers ab 1. April 2000 auf 50 herab und entzog die Merkzeichen "aG" und "B". Begründet wurde die Herabsetzung des GdB mit dem Ablauf der Heilungsbewährung sowohl für die Lungenerkrankung als auch für den "Kunstafter nach Dickdarmteilentfernung". In beiden Fällen seien keine Rezidive oder Metastasen aufgetreten. Der Kläger erstreckte seinen Widerspruch auch auf diesen Bescheid. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2000 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen beide Bescheide zurück.
Dagegen hat der Kläger am 3. Juli 2000 Klage erhoben, mit der er sich gegen die Herabsetzung des GdB und die Entziehung der Merkzeichen "B" und "aG" gewendet hat. Die chronische Bronchitis und der Zustand nach Pneumektomie und nach Entfernung eines Colonca. rechtfertige einen Einzel-GdB von 70. Nach der Dickdarmteilentfernung sei es zu starken Verwachsungen und damit verbunden zu starken Adhäsionsbeschwerden im Unterbauch gekommen.
Das Sozialgericht (SG) Aurich hat gemäß Beweisbeschluss vom 13. November 2000 das Sachverständigengutachten des Internisten und Facharztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. O. vom 11. Dezember 2000 eingeholt. Der Kläger hat die Klage bezüglich der Merkzeichen zurückgenommen. Am 9. März 2001 hat der Beklagte ein Teil-Anerkenntnis abgegeben, das der Kläger angenommen und das der Beklagte in den Ausführungsbescheid vom 11. September 2001 umgesetzt hat. Danach wird der GdB des Klägers ab 1. Januar 2000 mit 80 und ab 1. April 2000 mit 60 festgestellt. Mit Urteil vom 9. August 2001 - zugestellt am 21. August 2001 - hat das SG die Klage, soweit sie über das Teil-Anerkenntnis hinausgeht, abgewiesen.
Daraufhin hat der Kläger am 12. September 2001 Berufung eingelegt, mit der er über das Teil-Anerkenntnis hinaus die Feststellung eines GdB von mindestens 70 weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des SG Aurich vom 9. August 2001 aufzuheben sowie die Bescheide des Beklagten vom 15. Dezember 1999 und 13. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2000 sowie den Ausführungsbescheid vom 11. September 2001 zu ändern,
- 2.
den Beklagten zu verurteilen, über das Teil-Anerkenntnis vom 9. März 2001 hinaus einen GdB von wenigstens 70 festzustellen.
Der Beklagte beantragt
die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Ausführungsbescheid vom 11. September 2001 abzuweisen.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Schwerbehinderten-Akten des Versorgungsamtes Oldenburg (Az. P.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet.
Im Streit ist jetzt noch der ab 1. April 2000 festzustellende GdB. Dieser ist nach dem Prüfungsmaßstab des § 48 SGB X zutreffend bewertet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB über das Teil-Anerkenntnis vom 9. März 2001 hinaus.
Es kann dahinstehen, ob der Erstbescheid vom 16. Januar 1995 angesichts der Zweifel über die medizinische Grundlage der festgestellten Funktionseinschränkung zum Zeitpunkt seiner Bekanntgabe - also ursprünglich - rechtswidrig i.S.d. § 45 SGB X war. Jedenfalls wäre er im Nachhinein bei zutreffender Bewertung des Lungenleidens und angesichts der hinzugetretenen basisnahen Polyektomie mit Nachweis eines dann operativ entfernten Dickdarmtumors mit der Anlage eines künstlichen Darmausgangs nicht nur vorübergehend, nämlich für 9 Monate (GdB: 70) ab Oktober 1995 rechtmäßig geworden. Die Rechtswidrigkeit wäre zeitlich begrenzt bis Oktober 1995. Dieser Zeitraum steht aber nicht mehr im Streit.
Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X sind erfüllt. Der Beklagte hat ihnen mit seinem Teil-Anerkenntnis vom 9. März 2001 zutreffend Rechnung getragen.
Nach § 48 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Das war beim Kläger der Fall. Die wesentliche Änderung im Sinne einer Besserung der gesundheitlichen Störungen liegt im Ablauf der Heilungsbewährung für die Lungenerkrankung und die Darmkrebserkrankung. Nach den AHP 1996 Nr. 26.8, Seite 84, ist nach Entfernung eines nicht kleinzelligen Bronchialtumors, der von dem Beklagten zunächst angenommen worden war, eine Heilungsbewährung von 5 Jahren abzuwarten. Diese Heilungsbewährung war im Herbst 1999 abgelaufen, sodass der GdB für die Lungenerkrankung herabzusetzen war. Die verbliebene mittelgradige Lungenfunktionsstörung hat der Beklagte mit einem GdB von 50 bewertet. Damit hält er sich im Rahmen der AHP, die als Vorgaben zu beachten sind.
Die AHP sind keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn unter anderem fehlt jede entsprechende Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, das heißt die Summe von allgemeinen und besonderen Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und von den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden (BSGE 72, 285; 75, 176).
Nach Nr. 26.8 Seite 83 der AHP 1996 sind Krankheiten der Atmungsorgane mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades mit einem GdB von 50 - 70 zu bemessen. Die Bemessung des GdB für die Lungenerkrankung des Klägers an der unteren Grenze steht im Einklang mit den Befundberichten seines behandelnden Arztes Dr. Q., Facharzt für Lungen- und Bronchialheilkunde. Dieser bescheinigt in seinem letzten Befundbericht vom 28. Juli 1995 eine mittelgradige Restriktion, leichte Obstruktion keine Lungenüberblähung. Auch der Sachverständige Dr. O., Internist und Facharzt für Lungen- und Bronchialheilkunde, hält in seinem Gutachten vom 11. Dezember 2000 einen höheren GdB nicht für gerechtfertigt, da eine Herabsetzung der Vitalkapazität auf nur etwa die Hälfte besteht und eine respiratorische Partialinsuffizienz nicht festzustellen ist. Der daraus in Zusammenschau mit der weiteren Funktionsbeeinträchtigung "Kunstafter nach Dickdarmteilentfernung" und den vom Sachverständigen diagnostizierten Bauchfellverwachsungen mit erheblichen Passagestörungen gebildete Gesamt-GdB von 60 ab 1. April 2000 ist nicht zu beanstanden. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Heilungsbewährung für den malignen Dickdarmtumor nach den AHP 1996 (2 Jahre), die insoweit maßgeblich sind, ohne Rezidiv oder Metastasen abgelaufen. Eine höhere Bemessung ist nach den vorliegenden Umständen nicht gerechtfertigt. Sowohl mit der Bewertung der verbliebenen Lungenfunktionsstörung mit einem Einzel-GdB von 50 als auch der Bauchfellverwachsungen mit einem Einzel-GdB von 20 (AHP 1996 Nr. 26.10. Seite 99) hält sich der Beklagte im Anschluss an den Sachverständigen im Rahmen der AHP. Dabei ist in Rechnung zustellen, dass bei der Bildung des Gesamt-GdB keine Addition der Einzel-GdB erfolgt. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen der erste GdB um 10 oder 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.