Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.04.2003, Az.: L 5 VI 5/00
Anerkennung einer progressiven spinalen Muskelatrophie als Impfschaden und Gewährung daraus folgender Versorgung; Durchführung einer Schluckimpfung gegen Poliomyelitis; Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen Impfung, Impfschaden und Gesundheitsschaden; Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP); Verschlimmerung der spinalen Muskelatrophie durch die Poliomyelitis-Schutzimpfung; Voraussetzungen der sog. "Kann-Versorgung"
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.04.2003
- Aktenzeichen
- L 5 VI 5/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21185
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0429.L5VI5.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 04.09.2000 - AZ: S 11 VI 23/98
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs. 1 IfSG
- § 2 Nr. 11 IfSG
- § 61 S. 2 IfSG
Redaktioneller Leitsatz
Anspruch auf Versorgung besteht, wenn durch eine Impfung ein Impfschaden sowie ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden nachgewiesen sind. Impfschaden und Gesundheitsstörung müssen jeweils durch die Impfung verursacht sein. Dabei genügt die Wahrscheinlichkeit der Kausalität, das heißt, es muss mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang sprechen.
Welche Impfreaktionen als Impfschaden anzusehen sind, ist im Allgemeinen den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) zu entnehmen. Sie geben den der herrschenden medizinischen Lehrmeinung entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u.a. auch über die Auswirkung und Ursache von Gesundheitsstörungen nach Impfungen.
Nach § 61 Satz 2 IfSG kann eine Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache der festgestellten Leiden in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Es muss aber wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs vertritt.
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 4. September 2000 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 27. September 2000 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Anerkennung einer progressiven spinalen Muskelatrophie als Impfschaden und die Gewährung daraus folgender Versorgung.
Der Landkreis I. übersandte am 30. Januar 1989 dem Versorgungsamt (VA) Hannover einen Bericht vom 30. Dezember 1988 über die Störung des Impfverlaufs einer Schluckimpfung des am J. geborenen Klägers gegen Poliomyelitis im November 1975 und Januar 1976. Der Bericht enthält anamnestische Angaben der Mutter, wonach der Kläger einige Tage nach der zweiten Impfung begonnen habe, ohne äußeren Anlass zu stürzen. Nach dem Akteninhalt wurde der Kläger in der Folgezeit seit Mai 1977 in verschiedenen Kliniken (Zentralkrankenhaus K., Kinderklinik und Poliklinik der Universität L., Kinderklinik der Universität M., Kinderklinik der Stadt N.) untersucht und behandelt. Ferner wurden Muskelbiopsien neuropathologisch ausgewertet (Krankenhaus O., Nervenkliniken der Universität P.).
Am 16. Februar 1996 beantragte der Kläger die Feststellung eines Impfschadens sowie daraus folgende Versorgung. Das VA lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 10. September 1997): Zwar seien die Impfungen glaubhaft, die festgestellte Muskelatrophie des Klägers sei jedoch nicht deren Folge. Der Widerspruch, mit dem der Kläger mangelhafte Sachverhaltsaufklärung rügte und darauf hinwies, die Inkubationszeit für die Manifestation eines Impfschadens sei eingehalten, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 1998).
Gegen den am 12. Mai 1998 abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 18. Mai 1998 bei dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben. Er hat sich auf eine Dissertation zum Impfschadensrisiko bei der Poliomyelitis-Schutzimpfung gestützt und darauf hingewiesen, unstreitig sei er im November 1975 und Januar 1976 mit Lebendimpfstoff gegen Poliomyelitis geimpft worden. Sein Zustand habe sich nach dem Aufenthalt im Krankenhaus Q. 1977 in der Folgezeit verschlechtert. Er habe an einem Sprachverlust gelitten, seit April 1992 könne er sich nur noch mit dem Rollstuhl fortbewegen. Ausweislich der beigefügten ärztlichen Äußerungen sei die Ursache seiner Erkrankung nicht eindeutig geklärt. Nach prozessleitender Verfügung des SG hat der Kläger vorgetragen, die Zweitimpfung sei im Januar/Februar 1977, nicht 1976 durchgeführt worden.
Das SG hat verschiedene Auskünfte u.a. zu dem Verbleib des Impfausweises des Klägers eingeholt und Beweis erhoben durch das am 4. September 2000 mündlich erläuterte Gutachten der Neurologen Prof. Dres. R. vom 2. Juli 2000 nach Lage der Akten.
Durch Urteil vom 4. September 2000 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, ab Antragstellung Beschädigtenversorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) zu gewähren. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, die unstreitig erfolgten Polio-Schutzimpfungen hätten entgegen der ursprünglichen Angaben der Eltern im November 1976/Januar 1977 stattgefunden. Ein Impfausweis liege nicht vor. Die Impfdaten ergäben sich aus der anlässlich der Aufnahme am 24. Mai 1977 im Krankenhaus Q. erhobenen Anamnese. Zwar sei dort eine Eintragung in der Spalte "Pocken" vorgenommen worden. Deren Richtigkeit sei jedoch schon deshalb zweifelhaft, weil fraglich sei, ob 1977 noch Pockenimpfungen durchgeführt worden seien. Der aufnehmende Arzt habe versehentlich Eintragungen in die Spalte "Pocken" statt "Polio" vorgenommen. Im Krankenhaus festgestellte Polio-Antikörper belegten, dass eine solche Impfung stattgefunden habe. Nach der im Mai 1977 bestehenden vollständigen Polioimmunisierung bestehe ausschließlich der mögliche Zeitraum dieser Impfungen im November 1976 und Januar 1977. Falls die Polioimpfung bereits 1975 bzw. 1976 stattgefunden hätte, bleibe wegen der dann eingetretenen Immunisierung das Auftreten einer entzündlichen Erkrankung im Jahre 1977 unerklärlich. Als deren Ursache komme in erster Linie eine akute Polio-Erkrankung in Betracht. Die aus dem Aufnahmebefund des Zentralkrankenhauses Q. hervorgehenden, etwa Anfang März 1977 eingetretenen Beeinträchtigungen hätten innerhalb der Inkubationszeit gelegen. Daraus ergebe sich der vom Beklagten auf Grund vorheriger Angaben des Klägers verneinte zeitliche Zusammenhang mit der Impfung. Für eine Zweitimpfung im Jahre 1977 spreche auch der Umstand, dass das Universitätskrankenhaus S. im Dezember 1980 auf eine im Alter von 3 Jahren, also 1977 aufgetretene Schwäche der Beckengürtelmuskulatur des Klägers hingewiesen habe, welche ebenso wie häufige Stürze seit Februar 1977 von der Mutter des Klägers auf die damals durchgeführte Polio-Schluckimpfung zurückgeführt worden sei. Aus dem Bericht ergebe sich, dass die Erkrankung exakt 3 Wochen nach der zweiten Polio-Schluckimpfung ziemlich akut begonnen habe. Die 1977 aufgetretene subakute Erkrankung habe sich im Bereich des Gehirns (Encephalitis) und im peripheren Nervensystem im Bereich der Vorderhornzellen des Rückenmarks manifestiert. Die 1977 aufgetretenen Erscheinungen hätten nicht bereits den Beginn der Erkrankung spinale Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander belegt, die den hier für einige Jahre festzustellenden Rückgang von Krankheitssymptomen nach Manifestation dieser Erkrankung ausschließe. Für den Sachverständigen sei es schlüssig, dass der Kläger eine Poliomyelitis nach Impfung 1977 durchgemacht habe. Sowohl diese Erkrankung als auch die spinale Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander schädigten die Vorderhornzellen. Erfahrungsgemäß beeinflussten sich die auf das gleiche Organ zielenden Erkrankungen gegenseitig und potenzierten sich in den Auswirkungen. Eine Polioerkrankung erhöhe das Risiko einer Krankheitsmanifestation bei einem genetischen Defekt nicht, der bei der Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander vorliege. Erfahrungsgemäß zeige sich der Krankheitsverlauf der spinalen Muskelatrophie durch eine Polioerkrankung etwa um 3 bis 4 Jahre beschleunigt. Darin liege hier der über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehende Gesundheitsschaden. Die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs bestehe auf Grund der Ausführungen des Sachverständigen. Der Impfschaden sei ab Antragstellung im Februar 1996 festzustellen, weil trotz früherer Belehrungen die Eltern erst dann einen Antrag gestellt hätten.
Gegen das - in berichtigter Fassung - am 4. Oktober 2000 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit der am 9. Oktober 2000 eingegangenen Berufung. Er hält das Impfdatum nicht für bewiesen und verneint einen Zusammenhang der Gesundheitsstörungen mit der Impfung.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Lüneburg vom 4. September 2000 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 27. September 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, für den Fall, dass der Senat der Berufung stattgeben sollte, ein Gutachten einzuholen zu den Voraussetzungen einer Kann-Versorgung, nämlich zu der Frage, ob es eine medizinisch-wissenschaftliche Diskussion zu den Voraussetzungen der Manifestation der Erkrankung vom Typ Kugelberg-Welander gibt.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat den Sachverständigen Dr. H. durch den Berichterstatter im Erörterungstermin vom 6. Mai 2002 angehört. Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten des VA Hannover (Az.: T.), die Schwerbehinderten-Akten des VA Verden (Az.: U.), die Akten S 7 Ar 314/93 SG Lüneburg, die Akten S 9 KR 61/93 SG Lüneburg (= L 4 KR 88/95 Landessozialgericht Niedersachsen = 1 RK 14/96 Bundessozialgericht), die den Kläger betreffenden Akten des Landkreises I., die Krankenakten des Universitätskrankenhauses S. sowie die Vorgänge des Zentralkrankenhauses Q. zur Aufnahme des Klägers am 24. Mai 1977 und am 6. Dezember 1977 vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist begründet. Zu Unrecht ist der Beklagte zur Versorgung verurteilt worden. Denn es kann nicht festgestellt werden, dass ein zur Versorgung berechtigender Impfschaden eingetreten ist.
Der Kläger leidet an einer progressiven spinalen Muskelatrophie vom Typ III (Kugelberg-Welander). Dabei handelt es sich um eine erbliche Krankheit, die autosomal-rezessiv vererbt wird (vgl. Pschyrembel Stichwort Muskelatrophie, spinale; Suchenwirth/Kunze/Krasney: Neurologische Begutachtung, 3. Auflage 2000, S. 497 f). Der Sachverständige Dr. H. hat zutreffend darauf hingewiesen, dass eine genetische Untersuchung des Klägers nicht durchgeführt worden ist. Seinen erstinstanzlichen Ausführungen ist jedoch zu entnehmen, dass selbst ein fehlender Nachweis eines Gendefekts nicht dahingehend interpretiert werden könne, dass dieses Krankheitsbild nicht vorliegt. Der Sachverständige geht auf Grund der seit 1977 vorliegenden klinischen Befunde der Prof. Dr. V. Kinderklinik des Krankenhauses O., der Universität W. und der Kinderklinik N. vom Bestehen dieser Erkrankung bei dem Kläger aus. Sie ist jedoch durch die in Rede stehenden Schutzimpfungen gegen Poliomyelitis nicht entstanden. Auch hat sich hierdurch eine Verschlimmerung der Krankheit nicht eingestellt.
Ob der Kläger einen Impfschaden nach den Polio-Schutzimpfungen davon getragen hat, ist in Anwendung der §§ 51 Abs. 1, 52 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG, jetzt: §§ 60 Abs. 1, 61 Abs. 2 Nr. 11 Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu beurteilen. Nach § 51 Abs. 1 BSeuchG, jetzt § 60 Abs. 1 IfSG erhält, wer durch eine unter den dort genannten, hier nicht umstrittenen Voraussetzungen durchgeführte Impfung einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG, jetzt § 2 Nr. 11 IfSG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden. Anspruch auf Versorgung besteht, wenn durch eine Impfung ein Impfschaden sowie ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden nachgewiesen sind. Impfschaden und Gesundheitsstörung müssen nach § 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG bzw. § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG, jetzt § 61 IfSG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG jeweils durch die Impfung verursacht sein. Dabei genügt die Wahrscheinlichkeit der Kausalität, das heißt, es muss mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang sprechen (BSGE 60, 58; BSG vom 27. August 1998 - B 9 VI 2/97 R = USK 98 120 = Versorgungsverwaltung 1999, 14).
Welche Impfreaktionen als Impfschaden im vorgenannten Sinn anzusehen sind, ist im Allgemeinen den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) zu entnehmen. Sie geben den der herrschenden medizinischen Lehrmeinung entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u.a. auch über die Auswirkung und Ursache von Gesundheitsstörungen nach Impfungen (BSG USK 98 120). Bei Poliomyelitis-Schutzimpfungen mit Lebendimpfstoff können als Impfschäden poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impf-Poliomyelitis) auftreten. Die Inkubationszeit beim Impfling beträgt 3 bis 30 Tage, es kommt zu Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten) (vgl. AHP S. 230).
Es ist zwar nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Abs. 1 SGG davon auszugehen, dass der Kläger einen Impfschaden davongetragen hat; indes kann ein darauf beruhender andauernder Gesundheitsschaden nicht festgestellt werden.
1.
Der Kläger hat im Frühjahr 1977 nach den nachvollziehbaren Äußerungen des Sachverständigen Dr. H. eine entzündliche Erkrankung, nämlich eine Impf-Poliomyelitis erlitten. Dabei geht der Senat zu Gunsten des Klägers ohne Beweisaufnahme davon aus, dass die vom SG zu Grunde gelegten Impfdaten November 1976 (Erstimpfung)/Januar oder Februar 1977 (Zweitimpfung) gegen Poliomyelitis zutreffen. Der Sachverständige hat zwar ausgeführt, eine kernspintomographische Untersuchung würde die Frage nicht mit Sicherheit beantworten, ob die von dem Sachverständigen festgestellte Encephalitis poliomyelitischen Charakter hatte. Gestützt wird die Diagnose jedoch durch die wissenschaftlich eindeutig zutreffenden (vgl. Suchenwirth/Kunze/Krasney a.a.O. S. 497 f) Ausführungen, wonach die spinale Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander das periphere motorische System angreift, während der Sachverständige aus der medizinischen Aktenlage nachvollziehbar geschlossen hat, dass eine zentrale Beeinträchtigung vorgelegen haben muss. Der Sachverständige hat diese Schlussfolgerung an die im Mai 1977 berichtete Beeinträchtigung des Sprachvermögens und das durch die Befunderhebung im Zentralkrankenhaus Q. belegte Babinskiphänomen angeknüpft. Beide genannten Störungen werden durch die Erkrankung der spinalen Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander nicht hervorgerufen. Gestützt wird die Diagnose auch dadurch, dass die seit 1977 den Kläger behandelnden Ärzte differenzialdiagnostisch immer (ausschließlich) eine Impf-Poliomyelitis diskutiert haben. Der Sachverständige hat seine Aussage nachvollziehbar entwickelt, dass eine Besserung, wie sie hier im Verlauf zwischen Mai 1977 und Dezember 1977 ohne spezielle Therapie bei dem Kläger in Bezug auf die Fallneigung aufgetreten war, nur als Indiz dafür aufgefasst werden kann, dass die beim Kläger bestehende Erkrankung vom Typ Kugelberg-Welander damals noch nicht manifest war, sondern dass es sich um remittierende Folgen einer entzündlichen akuten Erkrankung gehandelt hat.
2.
Als aus dem Impfschaden folgende dauernde Gesundheitsstörung kommt jedoch eine Impf-Poliomyelitis nicht in Betracht. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen ist diese Erkrankung innerhalb von 6 Monaten bis Dezember 1977 (zweite stationäre Aufnahme im Zentralkrankenhaus Q.) vollständig remittiert, das heißt, eine Krankheitsfeststellung mit den üblichen Mitteln war nicht mehr möglich und Beeinträchtigungen daraus bestanden und bestehen nicht. Auch ein Post-Polio-Syndrom (PPS) scheidet nach den Ausführungen des Sachverständigen aus. Es entwickelt sich erst viele Jahre nach einer akuten Poliomyelitis (vgl. Suchenwirth/Kunze/Krasney a.a.O., 498; AHP S. 245). Eine lange Latenz zwischen den Schutzimpfungen und der Erkrankung besteht im Fall des Klägers nicht.
3.
Eine aus dem Impfschaden folgende Gesundheitsschädigung kommt deshalb nur im Zusammenhang mit der spinalen Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander in Betracht. Allerdings scheidet die Feststellung der Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung aus. Diese setzt nämlich voraus, dass zurzeit der Einwirkung des schädigenden Vorganges noch kein dieser Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen vorhanden war (BSG SozR 3100 § 1 Nr. 3; AHP S. 187). Dies gilt auch, wenn auf eine Disposition zu der Gesundheitsstörung geschlossen werden kann. Bei der spinalen progressiven Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander, deren Erblichkeit nachgewiesen ist, kommt nach den insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen eine Entstehung durch Schutzimpfung gegen Poliomyelitis nicht in Betracht. Bei ihr ist ein ursächlicher Zusammenhang mit äußeren Faktoren unwahrscheinlich (AHP S. 245).
4.
Demnach steht lediglich eine Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung in Rede. Diese hat der Sachverständige darin gesehen, dass die Manifestation der spinalen Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander bei dem Kläger etwa 5 bis 6 Jahre früher aufgetreten ist, als sie ohne die Poliomyelitis-Schutzimpfung eingetreten wäre. Dem vermag der Senat jedoch nicht zu folgen:
Sofern zurzeit der Einwirkung des schädigenden Vorganges bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch noch nicht bemerkt, vorhanden war, kommt nur eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, wenn die äußere Einwirkung entweder den Zeitpunkt vorverlegt hat, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden in schwererer Form aufgetreten ist, als es sonst zu erwarten gewesen wäre (AHP S. 187). Impfschaden und Gesundheitsstörung - auch im Sinne der Verschlimmerung - müssen jeweils nur wahrscheinlich durch die Impfung verursacht sein. Das heißt, es muss mehr für als gegen einen solchen Kausalzusammenhang sprechen. Diese Wahrscheinlichkeit im Rechtssinne kann unter Berücksichtigung der Maßstäbe der AHP auch nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht festgestellt werden. Nach den AHP (S. 230) ist als Impfschaden nach einer Poliomyelitis-Schutzimpfung eine vorzeitige Manifestation der spinalen Muskelatrophie als Impfschaden nicht genannt. Der Sachverständige Dr. H. hat sich selbst für diese Aussage nur auf eine eigene Einschätzung auf der Grundlage klinischer Erfahrung gestützt. Gleichzeitig hat er hervorgehoben, dass es keinerlei valide Statistiken gibt, die eine Aussage zuließen, welchen Verlauf die spinale Muskelatrophie ohne entzündliche Erkrankung im Jahre 1977 genommen hätte. Der Sachverständige hat selbst ausgeführt, dass es keine vergleichbaren Kasuistiken gibt, was aus dem Umstand zu folgern ist, dass sowohl spinale Muskelatrophien als auch Impf-Poliomyelitiden sehr selten sind. Nach diesen Ausführungen ist die Feststellung nicht möglich, dass eine Vorverlegung der Manifestation der muskelatrophischen Erkrankung des Klägers im Rechtssinne wahrscheinlich ist. Denn es spricht nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht mehr für einen solchen Verlauf als dagegen. Grundlage ist lediglich eine von dem Sachverständigen selbst in der zweit- instanzlichen Erläuterung des Gutachtens angesprochene persönliche Hypothese, die nirgends wissenschaftlich belegt ist oder in einer wissenschaftlichen Diskussion vertreten wird.
Eine Feststellung im Sinne des Klägers käme deshalb nur unter dem Gesichtspunkt einer "Kann-Versorgung" in Betracht. Auch diese Voraussetzungen liegen indes nicht vor. Nach § 61 Satz 2 IfSG (früher: § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG) kann eine Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache der festgestellten Leiden in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Für die Kann-Versorgung im Sinne der hier allein in Betracht kommenden Verschlimmerung bieten die AHP (S. 184 Abschnitt 6 Abse. 1 und 2) die Bewertungsmaßstäbe. Voraussetzung für die Anwendung der Kann-Versorgung ist indes, dass nicht etwa lediglich die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs - hier zwischen der zu Grunde gelegten Impf-Poliomyelitis und dem Zeitpunkt der Manifestation der spinalen Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander - besteht. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs vertritt (BSGE 73, 190 ff.; BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 13). Eine solche gibt es nach den eigenen Ausführungen des Sachverständigen Dr. H. hier jedoch nicht. Dem Hilfsantrag des Klägers war angesichts der Aussagen des Sachverständigen nicht nachzugehen. Denn es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Sachverständige sich in Vorbereitung eines eigenen Vortrags wissenschaftlich nur unvollständig informiert haben sollte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.