Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 23.04.2003, Az.: L 16/12 U 7/98

Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit (hier: Asbestose); Objektiv nachweisbare pulmokardiale Einbuße

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.04.2003
Aktenzeichen
L 16/12 U 7/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19997
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0423.L16.12U7.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 15.01.1998 - AZ: S 5 U 92/97

Redaktioneller Leitsatz

1. Maßgeblich für die Bemessung der MdE infolge einer Asbestose ist das Ausmaß der objektiv nachweisbaren pulmokardialen Einbuße.

2. Sind asbestosebedingte wesentliche, mehr als geringfügige Einschränkungen der kardiopulmonalen Funktion nicht festzustellen, kann eine durch die Asbestose bedingte MdE um 20 v. H. oder - im Falle des Vorliegens einer Stütz-MdE um mindestens 10 v. H. gemäß § 581 Abs. 3 RVO und § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII - nicht begründet werden.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 15. Januar 1998 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Zahlung einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura -.

Der am 11. April 1940 geborene Kläger war von 1964 bis 1997 als Schiffsschlosser bei der I., Schiffbau und Maschinenfabrik, tätig; hier war er der Einwirkung von Asbeststaub ausgesetzt. - Seit dem 1. März 1998 erhält er gemäß Bescheid vom 14. Juli 2000 von der Beklagten wegen der Folgen eines am 16. Januar 1970 erlittenen Unfalls (am linken Arm: Bewegungseinschränkung des Handgelenkes und arthrotische Veränderungen der Knochen in diesem Bereich sowie Beeinträchtigung der Unterarmdrehung nach Speichentrümmerbruch mit Gelenkbeteiligung) eine Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente.

Mit Bescheid vom 25. Juli 1991 erkannte die Beklagte bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 4103 der Anlage 1 zur BKV an und gewährte ihm ab 13. März 1991 eine Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente. Als Folgen des am 12. März 1991 eingetretenen Versicherungsfalls erkannte sie an: Einschränkung der Lungenfunktion. Grundlage dieses Bescheides waren ein Gutachten der Ärztin für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. med. J. vom 9. April 1991 und eine Stellungnahme des Landesgewerbearztes Dr. K. vom 27. Mai 1991. In dem Gutachten von Dr. med. J. heißt es, bei dem Kläger bestehe eine gesicherte Asbeststaubexposition über etwa 30 Jahre, so dass die röntgenologisch feststellbaren Veränderungen (insbesondere Pleuraplaques beiderseits basal und lateral über den Mittel-/Unterfeldern) bei entsprechender Latenzzeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf eine Pleuraasbestose und wohl auch Lungenasbestose zurückzuführen seien. Bei der Lungenfunktionsprüfung bestehe bodyphlethysmographisch eine leicht- bis mittelgradige restriktive Ventilationsstörung. Der Sauerstoffpartialdruck liege in Ruhe und nach Belastung allerdings noch im Normbereich. Sie halte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. für gerechtfertigt.

Zur Rentennachprüfung holte die Beklagte ein Gutachten von dem Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. med. L. vom 13. Mai 1993 ein. Er führte aus, radiologisch liege eine gesicherte, recht fortgeschrittene Asbestose der Lunge und der Pleura vor. Gegenüber dem letzten Gutachten sei radiologisch keine Änderung eingetreten. Die Asbestose zeige jedoch zum Zeitpunkt seiner gutachterlichen Untersuchung im Gegensatz zu den Voruntersuchungen keine wesentlichen Folgen im Sinne einer bedeutsamen Lungenfunktionsstörung. Medizinisch müsste demnach eine deutliche Besserung angenommen werden, die jedoch bei einer Asbestose angesichts der Art der Erkrankung nicht möglich sei. Aufgrund der erhobenen Befunde könne er eine MdE wegen der Asbestose nicht erkennen. - Nach Anhörung des Klägers entzog die Beklagte mit Bescheid vom 25. Juni 1993 die dem Kläger bisher gezahlte Verletztenrente mit Ablauf des Monats Juli 1993 und begründete diese Entscheidung damit, die dem Bescheid vom 25. Juli 1991 zugrunde liegenden Verhältnisse hätten sich wesentlich geändert, denn die Lungenfunktionswerte lägen im Normbereich und verursachten nur noch geringe Ausfallerscheinungen; die Röntgenbefunde seien unverändert.

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens beauftragte die Beklagte Dr. med. J. mit der Durchführung einer Großen Lungenfunktionsuntersuchung. In ihrer Stellungnahme vom 3. September 1993 führte sie aus, die Lungenfunktionsuntersuchungen seien durch mangelnde Kooperation gekennzeichnet gewesen, die sich trotz entsprechender Aufforderung zur Mitarbeit nicht gebessert hätten. Die gemessenen Vitalkapazitätswerte von maximal 29 v. H. seien nicht glaubhaft. Während der Messungen seien Schwankungen zwischen 500 ml und 1 l auffällig gewesen. Bei einer Vitalkapazität von 29 v. H. des Sollwertes wäre keine Belastung bis 125 Watt über insgesamt 8 Minuten möglich gewesen, die jedoch toleriert worden sei. Der Sauerstoffpartialdruck in Ruhe habe im Normbereich gelegen und sei unter Belastung angestiegen. Eine Beurteilung der MdE sei nach den vorliegenden Befunden nicht möglich. - Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. November 1993).

Im Rahmen der für September 1994 vorgesehenen Nachuntersuchung holte die Beklagte ein Gutachten von Dr. med. L. vom 3. November 1994 ein. Zusammenfassend führte er aus, dass bei dem Kläger eine eindeutige und ausgeprägte Asbestose der Pleura und der Lunge vorliege, die von der Art geeignet sei, Funktionsstörungen zu verursachen. Solche Funktionsstörungen könnten jedoch nicht zuverlässig abgeschätzt werden, denn die Lungenfunktionsprüfung sei wegen einer ungenügenden Mitarbeit kaum bewertbar. Er sei der Meinung, dass es sich um eine bewusste Nichtkooperation handele. Wären die gemessenen Lungenfunktionsdaten real, müsste von einer schwersten Behinderung mit ausgeprägter Ruhedyspnoe ausgegangen werden, die jedoch klinisch nicht nachweisbar gewesen sei. Angesprochen auf die schlechten Funktionsdaten habe der Kläger gemeint, die Verschlechterung sei doch auf seine weitere berufliche Tätigkeit mit der Schadstoffexposition durch Schleifen und Schweißen zurückzuführen. Erfahrungsgemäß verursachten solche Schadstoffbelastungen eine obstruktive Ventilationsstörung; eine leichtgradige Obstruktion sei, soweit beurteilbar, wohl nachweisbar, sie habe jedoch gegenüber den Voruntersuchungen nicht zugenommen. Sie sei nicht die Erklärung für die stark erniedrigten Vitalkapazitätswerte. Der Kläger sollte darauf hingewiesen werden, dass er sich aufgrund seiner mangelhaften Kooperation um eine mögliche ihm zustehende Entschädigung bringe, da diese nicht eingeschätzt werden könne. Vielleicht sei dann eine weitere Begutachtung, z. B. bei Dr. med. M., möglich.

Nachdem der Kläger schriftlich seine Kooperationsbereitschaft bestätigt hatte, holte die Beklagte ein Gutachten von dem Arzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie Dr. med. M. (Allgemeines Krankenhaus - AKH - N.) vom 6. Juni 1995 mit einem röntgenologischen Fachgutachten von Oberarzt O. vom 22. März 1995 ein. Dr. med. M. stellte folgende Diagnosen: Ausgeprägte und progrediente Rippenfell- und Zwerchfellerkrankung bei früherer beruflicher Asbeststaubexposition mit hierdurch bedingter Funktionseinschränkung, aber mit nur eher geringer pulmonaler Beteiligung nach radiologischen Gesichtspunkten, kein Hinweis für eine Malignitätsentwicklung, leichte unspezifische bronchiale Hyperreagibilität auf nicht allergische Bronchialreize. Ferner führte er aus, die Röntgenserie zeige kontinuierlich eine Zunahme der Rippenfell- und Zwerchfellveränderungen und lasse keinen Zweifel daran, dass eine stetige Progredienz vorhanden gewesen sei, die zu einer recht umfangreichen Verschwielung der Rippenfellregion beidseits geführt habe. Parallel zu dieser Entwicklung habe sich im subjektiven Empfinden offensichtlich seit Anfang der 90er Jahre eine Verschlechterung ergeben mit Belastungskurzluftigkeit zumindest bei mittlerer Belastung, ohne dass eine schwerwiegende andere Ursache, z. B. in Form einer obstruktiven Atemwegserkrankung, nachgewiesen werden könne. Unter Berücksichtigung des Gesamtzeitraums ab 1978 und insbesondere ab März 1991 sei die Aussage zu treffen, dass die abweichenden Ergebnisse ab 1991 durch Kooperationsschwierigkeiten bedingt gewesen seien, die gelegentlich hätten durchbrochen werden können, sich schließlich aber doch im Nachhinein als vorübergehend herausgestellt hätten. Die anlässlich der jetzigen Untersuchung gelieferten Ergebnisse seien verlässlich und als gut auswertbar anzusehen gewesen. Die Längsschnittbeurteilung ab 1978 zeige eine erhebliche Auffälligkeit, die korreliere mit den radiologischen Merkmalen und subjektiven Empfindungen des Klägers. Es sei zu einer recht verlässlich erfassbaren Minderung der Volumenreserve gekommen aus einer ursprünglich gut erfassbaren sehr guten Ausgangslage auf einen jetzt im mittleren Sollwert liegenden Atemreservenwert. Dieser Abfall der maximalen Vitalkapazität gehe über den altersbedingten ganz wesentlich hinaus und reduziere die Atemreserven, die bei dem Kläger 1982 noch bei 125 v. H. der Altersnorm gelegen hätten, um ein Fünftel. Damit wäre verständlich, dass im Vergleich zu seiner gewohnten Leistungsfähigkeit für den Kläger im subjektiven Empfinden die Atmungsfähigkeit deutlich, und zwar bei Belastung, abgenommen habe. Längsschnittstudien an Asbeststaubbelasteten hätten ergeben, dass diese zu etwa 10 v. H. die auch im vorliegenden Fall charakterisierten Verläufe aufwiesen mit deutlich überproportionalem Abfall der Atemreserven aus ursprünglich hochnormalen Reserven auf einen vermeintlichen "Normwert", der jedoch bei Bekanntsein des individuellen Ausgangswertes sehr viel höher und deutlicher zu bewerten sei und auch zu entsprechenden subjektiven Beschwerden führe. In diesen Fällen sei der "mittlere Normwert" nicht als Referenzwert für die Leistungseinschränkung geeignet, sondern der individuelle Ausgangswert müsse herangezogen werden und daran sei auch die MdE einzuschätzen. Diese Veränderungen müssten schon dann zu einer MdE-Einschätzung von 10 v. H. führen, wenn sie - wie im vorliegenden Krankheitsfall - über eine Verdoppelung des physiologischen Abfalls der Vitalkapazitäten hinausgingen. Offen sei, ob im Einzelfall bei noch höherer Reduktion dieser Erscheinung in Form einer höheren MdE Rechnung getragen werden müsse. Falls die an dem individuellen Ausgangswert zu messende Reduktion der Atemreserven über den üblichen Altersgang hinausgehend ein Fünftel der Atemreserven betrage, sei ernsthaft zu diskutieren, ob allein deshalb eine MdE von 20 v. H. einzuschätzen sei. Im vorliegenden Fall sei die Bewertung mit einer MdE von 20 v. H. als Einzelfallentscheidung gerechtfertigt, denn es lägen individuelle Lungenfunktionswerte zu einem Zeitpunkt vor, als die radiologische Entwicklung noch eher geringe Veränderungen aufgewiesen habe und subjektive Beschwerden nicht bestanden hätten, und seither seien Abweichungen als zuverlässig erfassbar erwiesen. Aus jetziger Sicht seien subjektive Beschwerdesymptomatik, radiologische Entwicklung und die funktionelle Entwicklung als plausibel aufeinander beziehbar anzusehen.

Die Beklagte holte zu diesem Gutachten eine Stellungnahme von dem Arbeitsmediziner Dr. med. P. (Hauptverwaltung - Referat für Angelegenheiten der arbeitsmedizinischen Vorsorge -) vom 26. September 1995 ein. Er führte aus, zu der Frage, ob die MdE-Schätzung nach Vergleich mit Normwerten oder im individuellen Verlauf vorzunehmen sei, sei festzustellen, dass der individuelle Verlauf sicherlich den Krankheitsbefund besser beurteilen lasse als der Vergleich mit Normwerten, sich die MdE hingegen nach der Abweichung der Funktionsbefunde vom Normbereich richte. Im vorliegenden Fall sei auffällig, dass bis 1983 hochnormale Vitalkapazitätswerte um 6 l festgestellt worden seien und es danach innerhalb von zwei Jahren zu einem Abfall der Vitalkapazitätswerte auf Bereiche zwischen 4,6 und 5 l gekommen sei. Ab 1990 seien dann ebenfalls plötzlich sehr niedrige Vitalkapazitätswerte aufgetreten, 1993 und 1994 hätten sich dann bei den Untersuchungen durch Dr. med. L. und Dr. med. M. zumindest teilweise Vitalkapazitätswerte bestimmen lassen, die im Bereich der Werte zwischen 1985 und 1989 gelegen hätten, wobei der beste Wert 1995 immerhin bei 107 v. H. der Vitalkapazität gelegen habe, also noch oberhalb des mittleren Wertes der Norm. Diese plötzlichen Sprünge der Vitalkapazität seien zweifellos vom Krankheitsbefund unplausibel, da sich auch asbestbedingte Lungenfibrosen langsam entwickelten. Seit 1985 habe sich jedenfalls letztlich keine wesentliche Änderung der Funktionsbefunde gezeigt, so dass auch im Hinblick darauf, dass die Werte immer noch im deutlich positiven Bereich lägen, eine MdE von 20 v. H. insgesamt nicht abgeleitet werden könne.

Die Beklagte forderte von Dr. med. L. eine erneute Stellungnahme nach Durchführung einer Großen Lungenfunktionsprüfung an. In seiner Stellungnahme vom 28. Februar 1996 führte er aus, bei der Lungenfunktionsprüfung seien die inspiratorische Vitalkapazität und die forcierte Vitalkapazität in Ruhe erheblich eingeschränkt gewesen; auffallend sei, dass der Einsekundenwert über dem Wert für die inspiratorische Vitalkapazität liege. Erfahrungsgemäß spreche eine solche Konstellation für eine mangelhafte Mitarbeit. Er halte eine Verschlechterung der inspiratorischen Vitalkapazität um über 2 l in einem Zeitraum von elf Monaten für ungewöhnlich. Hierbei berücksichtige er die Konstanz des Röntgenbefundes. Auch die übrige Befundkonstellation mit einer Belastbarkeit bis 125 Watt trotz angeblich stark eingeschränkter Atemleistung sei zumindest ungewöhnlich. Er halte eine langzeitstationäre Behandlung im Zentralkrankenhaus (ZKH) Bremen-Ost für sinnvoll, damit dort die dringend notwendigen zusätzlichen Untersuchungen mit HR-Computertomographie (CT) durchgeführt werden könnten.

Die Beklagte holte daraufhin ein Gutachten von Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. (Klinik für Lungen- und Atemwegserkrankungen im Zentrum für Innere Medizin des S.) vom 22. November 1996 mit einem radiologischen Zusatzgutachten von Prof. Dr. med. T./Dr. med. U. vom 13. November 1996 ein. Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. führten u. a. aus, bei Zusammenfassung der Lungenfunktionsdiagnostik könne bei noch im Normbereich gemessener Vitalkapazität und normalen mitarbeitsunabhängigen bodyplethysmographischen Werten mit normalem Residualvolumen und unauffälligen Parametern des pulmonalen Gaswechsels nicht von einer bedeutsamen pulmonalen Funktionseinbuße ausgegangen werden. Für die von dem Kläger empfundene Atemnot könne als konkurrierende schädigungsunabhängige Ursache eine latente Linksherzinsuffizienz namhaft gemacht werden. Weiterhin habe sich, ebenfalls schädigungsunabhängig, der Befund eines mäßiggradig hyperreagiblen Bronchialsystems im unspezifischen bronchialen Provokationstest mit Acetylcholin ergeben. Diese mäßiggradige unspezifische bronchiale Hyperreagibilität sei bereits von Dr. med. M. festgestellt worden und erkläre Husten und Atemnot bei Kontakt mit unspezifischen bronchialen Reizstoffen. Der Auffassung von Dr. med. M., die MdE sei auf 20 v. H. einzuschätzen, obwohl er die Vitalkapazität mit 107 v. H. des Normwertes als durchaus normal gemessen habe, sei nicht zuzustimmen. Zutreffend sei demgegenüber die Meinung von Dr. med. P., nach der sich die MdE-Bewertung nicht nach dem individuellen Verlauf, sondern nach den allgemein vorgegebenen Normwerten zu orientieren habe. Als Argument hierfür sei anzuführen, dass eine Orientierung am individuellen Verlauf diejenigen Versicherten über Gebühr benachteilige, bei denen in früheren Zeiten keine Lungenfunktionsprüfung vorgenommen worden sei, an der sich der individuelle Verlauf und ein eventueller Vitalkapazitätsabfall ablesen ließen. Die Orientierung am Normwert sei somit unabdingbare Voraussetzung zur Wahrung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzips. Sie hielten es für im Einzelfall denkbar, bei grenzwertigen Befunden und typischer Konstellation die MdE nach dem individuellen Verlauf abzuschätzen, jedoch hielten sie es keinesfalls für gerechtfertigt, bei einem guten und hochnormalen Kapazitätswert von 107 v. H. der Norm eine MdE anzunehmen.

Mit Bescheid vom 14. Januar 1997 lehnte die Beklagte die Feststellung einer Rente ab. Zur Begründung führte sie aus, eine MdE von wenigstens 20 v. H. liege nicht vor. Sie stützte sich auf die Darlegungen von Dr. med. P., Dr. med. L. und Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. und legte dar, dass der Auffassung von Dr. med. M. nicht gefolgt werden könne.

Den am 23. Januar 1997 eingelegten Widerspruch, mit dem der Kläger auf die Gutachten von Dr. med. J. vom 9. April 1991 und Dr. med. M. vom 6. Juni 1995 hinwies, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. April 1997, auf den verwiesen wird, Bl. 373/374 Verwaltungsakte).

Der Kläger hat am 15. Mai 1997 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben und wiederum auf das Gutachten von Dr. med. M. vom 6. Juni 1995 Bezug genommen. Er hat ferner vorgetragen, er sei dem von Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. geäußerten Verdacht, der Abfall der Lungenfunktion sei auf eine latente Linksherzinsuffizienz zurückzuführen, nachgegangen und habe sich kardiologisch untersuchen lassen. Dabei sei zwar ein in der Funktion leicht geminderter linker Ventrikel festgestellt worden, jedoch habe sich ein konkreter Anhalt für eine koronare Herzkrankheit nicht ergeben. Hierzu hat er einen Arztbrief von dem Arzt für Innere Medizin - Kardiologie - Dr. med. V. vom 16. Januar 1997 zur Akte gereicht.

Die Beklagte hat sich auf die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Feststellungen bezogen.

Das SG hat ein Gutachten von dem Arzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie Dr. med. W. vom 17. November 1997 eingeholt. Er hat ausgeführt, am Untersuchungstag sei eine maximale Vitalkapazität von 3,81 l (90 v. H. vom Soll) gemessen worden. Aufgrund der lungenfunktionsanalytisch gemessenen Parameter sei die MdE weiterhin auf unter 20 v. H. einzuschätzen. Er stimme Dr. med. P. zu, dass die Sprünge der Vitalkapazität mit dem Krankheitsbild nicht in Einklang zu bringen seien. Erwähnt werden müsse in diesem Zusammenhang der Aspekt, dass computertomographisch eine allenfalls geringe pulmonale Beteiligung an der Asbeststauberkrankung gefunden worden sei. Die grundsätzliche Entscheidung, ob die Bemessung der MdE dem individuellen Verlauf von Lungenfunktionsparametern zu folgen habe oder sich an den geltenden Normwerten orientieren solle, könne anlässlich dieser Begutachtung nicht getroffen werden.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. Januar 1998 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat sich auf die Beurteilungen von Dr. med. L., Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R., Dr. med. P. und Dr. med. W. gestützt und den Vorschlag von Dr. med. M., angesichts der individuellen Messdaten des Klägers sei die MdE mit 20 v. H. zu bewerten, als nicht gerechtfertigt abgelehnt. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Gerichtsbescheid (Bl. 42-50 Prozessakte) Bezug genommen.

Der Kläger hat gegen den ihm am 9. Februar 1998 zugestellten Gerichtsbescheid am 3. März 1998 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Bremen Berufung eingelegt. Er macht geltend, er zweifele die von Dr. med. L., Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. und Dr. med. W. erhobenen Befunde an, zumal seine Lungenfunktion stark eingeschränkt sei und er schon bei ganz leichten Anstrengungen immer wieder Atembeschwerden bekomme. Da die Folgen eines Arbeitsunfalls eine MdE von 20 v. H. bedingten, stehe ihm auch eine Verletztenrente zu, wenn die Folgen der Asbestose mit einer MdE von 10 v. H. bewertet würden. Die heutige Lungenfunktionsdiagnostik erlaube eine außerordentlich differenzierte und reproduzierbare Funktionsanalyse, so dass sich auch geringe Funktionsstörungen, die einer MdE von 10 v. H. entsprächen, feststellen ließen. - Der Kläger hat einen Arztbrief über eine von der Ärztin für Innere Medizin, Lungen-Bronchialheilkunde, Allergologie Dr. med. X. durchgeführte Lungenfunktionsprüfung vom 16. März 1998 übersandt, der die Diagnose enthält: Nachweis einer leichten obstruktiven und mittelgradigen restriktiven Ventilationsstörung. Ferner hat er einen Bericht der Radiologischen Praxis Y. (Dr. Z.) vom 20. März 2003 über eine CT der Brustwirbelsäule überreicht.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 15. Januar 1998 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 1997 zu verurteilen, ihm ab September 1994 eine Verletztenrente in Höhe von mindestens 10 v. H. der Vollrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend und hat zu dem Arztbrief von Dr. med. AB. vom 16. März 1998 eine Stellungnahme von Dr. med. L. vom 14. Juli 1999 überreicht, in der es heißt, die Untersuchungsbefunde von März 1998 zeigten eine obstruktive Ventilationsstörung mit Erhöhung des zentralen Atemwegswiderstandes (mitarbeitsunabhängig) und die Vitalkapazitätswerte bewegten sich zwischen 2,43 und 2,90 und wären demnach deutlich eingeschränkt. Das Ausmaß dieser Einschränkung übersteige deutlich die bei der leichten Obstruktion zu erwartende Einschränkung. Die Flussvolumenkurven legten erneut den Verdacht auf eine nicht korrekte Durchführung nahe. Sowohl inspiratorisch als auch exspiratorisch seien Flussschwankungen nachweisbar, die weder zu einer Obstruktion noch zu einer Restriktion passten. Die Verwertbarkeit der Ergebnisse sei nicht sehr groß. Zu empfehlen sei eine erneute Begutachtung in einem Krankenhaus.

Die Beklagte hat daraufhin den Facharzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie Prof. Dr. med. BB. (AKH N.) mit einer Untersuchung des Klägers und einer Begutachtung beauftragt. Er hat ein radiologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. med. CB./Oberarzt O. vom 24. Januar 2001 angefordert. In ihrem Gutachten vom 23. März 2000 sind Prof. Dr. med. BB./Assistenzärztin Dr. med. DB. zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger ausgeprägte pleurale Asbeststaubinhalationsfolgen (ausgedehnte pleurale Verdickungen und Verkalkungen) vorlägen, die im Vergleich zu den Vorbefunden weiterhin progredient seien. Ein Anhalt für eine Malignitätsentwicklung bestehe nicht. Wegen der Asbeststaubinhalationsfolgen bestehe nach den Lungenfunktionsparametern keine Funktionseinschränkung.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Gericht weiterhin ein Gutachten von dem Arzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie Dr. med. EB. (Institut für Umwelt- und Arbeitsmedizin Moers) vom 14. Dezember 2000 eingeholt. Er hat ausgeführt, bei dem Kläger bestehe eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura und - angedeutet - der Lunge. Die Pleuraverdickung und -verkalkungen seien eindeutig und ausgeprägt; die subpleuralen Fibrosezonen seien vereinzelt vorhanden und durch hochauflösende Schichten der thorakalen CT nachweisbar. Die Folgen der Berufserkrankung bestünden in Form von restriktiven Ventilationsstörungen, wie sie mehrfach über den Untersuchungszeitraum hätten nachgewiesen werden können; die Obstruktion sei nicht Folge der Berufskrankheit. Die durch die Berufskrankheit bedingte MdE sei seit dem 9. April 1991 (Begutachtung durch Dr. med. J.) bis auf weiteres mit 20 v. H. einzuschätzen. Zu diesem Zeitpunkt habe Dr. med. J. eine leicht- bis mittelgradige restriktive Ventilationsstörung feststellen können, die im Zusammenhang mit der asbestassoziierten Pleuraerkrankung gesehen worden sei. Dieser Begutachtung stimme er zu. In der Folgezeit seien mehrere Begutachtungen durchgeführt worden mit unterschiedlichsten Wertekonstellationen. Sicherlich sei die Mitarbeit des Klägers nicht ausreichend; die statischen und dynamischen Lungenvolumina, die als wesentliche Parameter für die Beurteilung einer Restriktion herangezogen werden müssten, seien nun einmal von der Mitarbeit der Probanden abhängig. Da über den Untersuchungszeitraum häufiger Hinweise für restriktive Ventilationsstörungen in den Lungenfunktionsprüfungen hätten nachgewiesen werden können, sei die von ihm vorgenommene Schätzung der MdE auf 20 v. H. zutreffend. Bei den jetzt durchgeführten Überprüfungen der Lungenfunktion habe die Vitalkapazität mit 61,4 v. H. eine mittelgradige Störung gezeigt, ebenso der Einsekundenwert mit 61 v. H. Die relative Einsekundenkapazität sei mit 83,6 v. H. hochnormal gewesen. Nach Bronchospasmolyse hätten sich bei der Vitalkapazität und dem Einsekundenwert mittelgradige Einschränkungen gezeigt bei unveränderter hochnormaler relativer Einsekundenkapazität. Am Folgetag des 5. Dezember 2000 habe die Vitalkapazität mit 67,9 v. H. eine mittelgradige Einschränkung und der Einsekundenwert mit 66 v. H. eine geringe Einschränkung gezeigt. Unverändert sei die relative Einsekundenkapazität hochnormal gewesen. Somit sei von leichten bis mittelgradigen restriktiven Ventilationsstörungen auszugehen, die eine MdE von 20 v. H. bedingten.

Die Beklagte hat zu diesem Gutachten eine Stellungnahme von Dr. med. L. vom 2. Februar 2001 überreicht. Dieser hat darin ausgeführt, Dr. med. EB. sei der Meinung, dass durchgehend eine leichte bis mittelgradige Restriktion nachweisbar sei, auch bei Berücksichtigung der nicht ausreichenden Mitarbeit. Die Messergebnisse seien recht konstant, obwohl die Flussvolumenkurve nach wie vor nicht optimal sei. Ungewöhnlich sei, dass am 12. Januar 2000 bei der Untersuchung durch Prof. Dr. med. BB. noch unauffällige Werte nachweisbar gewesen seien (Vitalkapazität 107 v. H.), während sich bei der jetzigen Untersuchung ein Bestwert von 68 v. H. ergebe. Eine solche Abnahme um über 1 l (von 4,2 l auf 2,9 l) aufgrund einer radiologisch nicht progredienten Asbestose innerhalb von elf Monaten wäre sehr ungewöhnlich. Er bleibe daher bei seiner Auffassung, dass eine medizinisch-logische Beurteilung aufgrund der Mitarbeitsprobleme nicht möglich sei.

Das Gericht hat hierzu eine Stellungnahme von Dr. med. W. vom 21. Juni 2001 eingeholt, in der er dargelegt hat, dass Dr. med. EB. aufgrund unzureichender lungenfunktionsanalytischer Atemmanöver zu einem anderen Schluss als die Vorgutachter gekommen sei und dabei wesentliche Grundsätze einer pneumologischen Begutachtung nicht beachtet habe. So habe er nicht beachtet, dass mitarbeitsabhängige Werte durch optimale Atemmanöver reproduzierbar sein müssten, d. h. Werte und Kurven müssten anlässlich mehrerer Untersuchungen weitgehend deckungsgleich sein. Wenn dies nicht möglich sei, müsse attestiert werden, dass die Untersuchung nicht oder nur eingeschränkt bewertbar sei. Ein Paradebeispiel für ein unzureichendes Atemmanöver seien die Flussvolumenkurven, die anlässlich der Untersuchung durch Dr. med. EB. gewonnen worden seien. Durch die Flussvolumenkurve werde in der Regel die Strömungsdynamik erfasst, d. h. sie diene in erster Linie zum Nachweis einer obstruktiven Atemwegserkrankung. Allerdings sei bei einer unzureichenden Flussvolumenkurve der Rückschluss erlaubt, dass auch die mit langsamem Atemmanöver gemessene maximale inspiratorische Vitalkapazität nicht ausreichend reproduzierbar erstellt worden sei. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass anlässlich der vorangegangenen Untersuchungen sowohl pathologische Werte der Vitalkapazität wie auch Normwerte erzielt worden seien. Letzteres ignoriere Dr. med. EB ... Dieser gehe auch nicht auf möglicherweise bestehende andere Ursachen der wechselnd eingeschränkten Vitalkapazität ein. Für ein Untersuchungsergebnis müssten die besten Werte herangezogen werden.

Auf weiteren Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das Gericht eine ergänzende Stellungnahme von Dr. med. EB. vom 28. Dezember 2001 angefordert. Dieser ist bei seiner Beurteilung geblieben und hat ausgeführt, auch bei Berücksichtigung der nicht ausreichenden Mitarbeit könne doch von einer zumindest leichten Restriktion ausgegangen werden. Er empfehle, bei dem Kläger eine Compliance-Untersuchung durchführen zu lassen, zumal bei dieser Untersuchung die Mitarbeit nicht erforderlich sei. Falls sich eine Einschränkung der Lungendehnbarkeit finde, seien die angenommenen restriktiven Verteilungsstörungen eher wahrscheinlich.

Das Gericht hat hierzu wiederum eine Stellungnahme von Dr. med. W. vom 27. Mai 2002 eingeholt, in der dieser mitgeteilt hat, dass der Kläger sich zur Messung der Lungendehnbarkeit zwar in seiner Praxis eingefunden, ihm aber berichtet habe, dass er nach früheren Messungen immer wochenlang krank gewesen sei und daher die Untersuchung nicht durchführen lassen wolle. Dr. med. W. ist bei seiner Kritik an der von Dr. med. EB. durchgeführten Lungenfunktionsuntersuchung geblieben und hat eine nochmalige Begutachtung im AKH N. durch Oberarzt Dr. med. FB. vorgeschlagen.

Das Gericht ist dieser Anregung nachgekommen und hat ein Gutachten von dem Arzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie Dr. med. FB. vom 13. August 2002 eingeholt. Er hat ausgeführt, bei dem Kläger liege eine ausgeprägte beidseitige Pleura- und Zwerchfellasbestose mit erheblicher Verkalkung vor, die umgreifend sei, d. h., die aktuellen Röntgenaufnahmen zeigten auch ausgeprägte Kalkplaques in der sogenannten En-face-Darstellung. Die Veränderungen hätten seit 1978 bis zum jetzigen Zeitpunkt deutlich zugenommen, wobei offenbar von 1983 bis 1985 und von 1995 bis 2000 Schübe verlaufen seien. Die CT aus dem Jahr 2000 bestätige die ausgeprägteren Befunde mit umgreifenden Kalkspangen. Die Folgen der Berufskrankheit bestünden einerseits in der erheblichen Verkalkungstendenz und Verklammerung von Interkostalräumen, so dass Auswirkungen auf die Atemtiefe angenommen werden könnten. Lungenfunktionell lasse sich eine restriktive Funktionsstörung absolut ausschließen, die Funktionseinschränkungen, die zu gewissen Zeitpunkten gemessen worden seien, seien allein durch unzureichende Mitarbeit zu erklären. Konkurrierende Faktoren wie Obstruktion, Überblähung, Atemwegsinfekte oder Ähnliches seien zu diesen Zeitpunkten nicht dokumentiert. Die Funktionswerte lägen weit oberhalb der Norm. Unter Berücksichtigung der Ausführungen von Borsch-Galetke/Sigmund in "ErgoMed" 2/1998, S. 91-93, könnte/sollte unter dem Aspekt der überproportionalen Volumenverminderung in Bezug zu einer progredienten Asbestose im Zeitraum 1978 bis 2002 eine MdE von 10 v. H. eingeschätzt werden unter der Annahme eines Stichtags vom 7. August 2002 (jetzige Begutachtung). Die derzeitige Rechtsprechung sei diesbezüglich sicherlich noch nicht einheitlich, die Einwendungen, die von Borsch-Galetke/Sigmund vorgebracht würden, seien allerdings korrekt, wenn man sich überlege, dass z. B. ein Volumenverlust von 20 v. H. bei einem Patienten mit einer Vitalkapazität von 120 v. H. zu einer Vitalkapazität von 100 v. H. (normal) führe, bei einem anderen Erkrankten mit einer Vitalkapazität von 90 v. H. zu einem Funktionswert von 70 v. H. (pathologische MdE) führen würde. Bei der Asbestoseerkrankung des Klägers sei der Fall eines intraindividuellen übermäßigen Volumenverlustes gegeben.

Das Gericht hat zu diesem Gutachten eine weitere Stellungnahme von Dr. med. W. vom 18. Dezember 2002 angefordert. Er hat ausgeführt, aufgrund der von Dr. med. FB. gewonnenen Funktionswerte lasse sich eine restriktive Ventilationsstörung definitionsgemäß nicht ableiten, da sie oberhalb der Norm liege. Dr. med. FB. habe ausführlich dargelegt, dass ein Abfall der Vitalkapazität mit einem schubweisen Verlauf der Pleuraasbestose einhergegangen sei. Ausgehend von überdurchschnittlich guten Werten der Lungenvolumina hätten die Lungenfunktionswerte signifikant abgenommen, auch wenn sie noch den Normwerten entsprächen. Für das Individuum habe sich somit der Zustand signifikant verschlechtert. Bei der Quantifizierung von Funktionseinschränkungen würden die gemessenen individuellen Werte mit Normwerten verglichen, die aus großen Kollektiven gezogen würden. Die generelle Frage, ob sich die Bemessung einer MdE allein an vorgegebenen Normwerten zu orientieren habe oder auch individuelle Verläufe, ausgehend von überdurchschnittlichen Werten, berücksichtigen solle, sei eine Frage des Prinzips. Gutachterlich könne die Argumentation von Dr. med. FB. auch deshalb nachvollzogen werden, weil das Ausmaß der radiologisch sichtbaren Veränderungen durchaus in der Lage sei, Einschränkungen im pulmonalen Bereich (der Atemtiefe) zu verursachen. Aufgrund des individuellen Verlaufs der Asbestose bei dem Kläger könne er Dr. med. FB. zustimmen, dass eine MdE von 10 v. H. gerechtfertigt sei. - Die Beklagte ist weiterhin der Auffassung, dass auch eine MdE von 10 v. H. nicht angenommen werden könne, da objektive nachweisbare Einschränkungen der Lungenfunktion nicht vorlägen und die Untersuchungen Normwerte ergeben hätten.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten (Az. BKS 3.25509.815) beigezogen. Diese Akte und die Prozessakte (Az. S 5 U 92/97, L 16/12 U 7/98) sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG). Sie ist nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente wegen der anerkannten Berufskrankheit nach Nr. 4103 der Anlage 1 zur BKV.

Dabei kann es im vorliegenden Fall dahin stehen, ob das Rentenbegehren des Klägers als "Neuantrag" zu behandeln oder anhand der Kriterien des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zu prüfen ist. Mit Bescheid vom 25. Juni 1993 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 1993) hatte die Beklagte die dem Kläger bisher gewährte Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente mit Ablauf des Monats Juli 1993 mit der Begründung entzogen, die dem früheren Bescheid zugrunde liegenden Verhältnisse hätten sich wesentlich geändert, denn die Lungenfunktionswerte lägen im Normbereich und verursachten nur noch geringe Ausfallerscheinungen; die Röntgenbefunde seien unverändert. Dem Bescheid vom 25. Juni 1993 und dem Widerspruchsbescheid vom 12. November 1993 lagen die Gutachten von Dr. med. L. vom 13. Mai 1993 und von Dr. med. J. vom 3. September 1998 zugrunde, in denen ausgeführt ist, aufgrund der erhobenen Befunde sei eine MdE wegen der Asbestose nicht erkennbar, zumal wegen der mangelnden Mitarbeit des Klägers die gewonnenen Befunde für die Einschätzung einer MdE nicht verwertbar seien; wesentliche Folgen im Sinne einer bedeutsamen Lungenfunktionsstörung könnten nicht objektiviert werden.

Da in dem Bescheid vom 25. Juni 1993 jedoch die "unveränderten Röntgenbefunde" genannt sind und daher nach wie vor Folgen der anerkannten Berufskrankheit vorhanden waren (jedoch ohne Einschätzung einer MdE), erscheint es zunächst naheliegend, dass die Wiederbewilligung einer Rente im Rahmen des im September 1994 eingeleiteten Verwaltungsverfahrens unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X zu erfolgen hat. Nach dieser Vorschrift ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben oder soll - unter weiteren Voraussetzungen - vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden.

Die Anwendung des § 48 SGB X setzt allerdings voraus, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, wesentlich geändert haben; ein Bescheid, der die Gewährung einer Rente ablehnt, ist jedoch kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Zwar steht mit dem Eintritt der Bindungswirkung eines die Gewährung einer Rente ablehnenden Bescheides nicht nur für den Zeitpunkt seines Erlasses, sondern auch für die folgende Zeit zwischen den Beteiligten fest, dass dem Antragsteller die Leistung nicht zusteht, jedoch ist dies allein das Ergebnis der Bindungswirkung des ablehnenden Bescheides. Hiervon ist die Dauerwirkung zu unterscheiden. Mit der Ablehnung eines Rentenantrages wird die Rechtslage für den Antragsteller und den Leistungsträger einmalig gestaltet und das Bestehen eines Leistungsrechtsverhältnisses mit sich daraus ergebenden tatsächlichen und/oder rechtlichen Wirkungen gerade verneint (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 30. Januar 1985, BSGE 58, S. 27/29 [BSG 30.01.1985 - 1 RJ 2/84]; BSG, Urteil vom 22. Oktober 1985, SGb 1987, S. 510, 511 m. w. N.). Bei einer nachträglichen wesentlichen Änderung ist auch ohne Aufhebung des früheren Ablehnungsbescheides eine Entscheidung über den "Neuantrag" zulässig (Schneider-Danwitz, SGB-SozVers-GesKomm., Bd. 4a, § 48 SGB X Anm. 38b).

Andererseits ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen LSG ein Bescheid, der die Gewährung einer Rente ablehnt, ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, wenn er die Anerkennung von Unfallfolgen (oder Folgen einer Berufskrankheit) enthält; die Zuerkennung einer Verletztenrente setzt dann nach § 48 SGB X eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber denen bei Erlass des Ablehnungsbescheides voraus (Bayerisches LSG, Urteile vom 10. Januar 1990, Az. L 2 U 26/89, und vom 14. Februar 1990, Az. L 1 U 55/89; Leitsätze abgedruckt im Informationsdienst des BSG - Dokumentationsstelle - vom 8. Oktober 1990). Nach dieser Rechtsauffassung bestand zwischen der Beklagten und dem Kläger ein Dauerrechtsverhältnis, da die Beklagte nach wie vor die unveränderten Röntgenbefunde als Folgen der Berufskrankheit anerkannt hatte. Ob diese Ansicht zutrifft, braucht nicht abschließend entschieden zu werden, denn bei einer Prüfung sowohl nach § 48 SGB X als auch als "Neuantrag" ergibt sich kein Anspruch des Klägers auf eine Verletztenrente.

Entscheidend ist, dass nach wie vor die anerkannte Berufskrankheit keine rentenberechtigende MdE bedingt, und zwar auch nicht in Höhe von 10 v. H. Ein solcher Grad der MdE wäre hier für die Zahlung einer Rente ausreichend, denn der Kläger erhält seit dem 1. März 1998 wegen der Folgen eines am 16. Januar 1970 erlittenen Unfalls eine Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente (vgl. § 581 Abs. 3 Reichsversicherungsordnung - RVO - und § 56 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VI)).

Wegen der Folgen der anerkannten Berufskrankheit sind seit der im September 1994 eingeleiteten Nachuntersuchung zahlreiche Gutachten eingeholt worden, die zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben. Es handelt sich um das Gutachten von Dr. med. L. vom 3. November 1994, das Gutachten von Dr. med. M. vom 6. Juni 1995, die Stellungnahme von Dr. med. P. vom 26. September 1995, die Stellungnahme (nach Durchführung einer Großen Lungenfunktionsprüfung) von Dr. med. L. vom 28. Februar 1996, das Gutachten von Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. vom 22. November 1996, das Gutachten von Dr. med. W. vom 17. November 1997, das Gutachten von Prof. Dr. med. BB./Dr. med. DB. vom 23. März 2000, das Gutachten von Dr. med. EB. vom 14. Dezember 2000, die Stellungnahmen von Dr. med. L. vom 2. Februar 2001 und von Dr. med. W. vom 21. Juni 2001, die ergänzende Stellungnahme von Dr. med. EB. vom 28. Dezember 2001, die Stellungnahme von Dr. med. W. vom 27. Mai 2002, das Gutachten von Dr. med. FB. vom 13. August 2002 und schließlich die Stellungnahme von Dr. med. W. vom 18. Dezember 2002. Aus diesen Stellungnahmen und Gutachten ergibt sich zusammenfassend, dass objektive nachweisbare Einschränkungen der Lungenfunktion nach wie vor nicht nachweisbar sind, diese sich - soweit nachvollziehbare Befunde erhoben werden konnten - vielmehr im Normbereich bewegt, obwohl nach wie vor die röntgenologisch sichtbaren Veränderungen wegen der Asbestose bestehen und sich sogar im Laufe der Zeit verschlechtert haben. Maßgeblich für die Bemessung der MdE infolge einer Asbestose ist das Ausmaß der objektiv nachweisbaren pulmokardialen Einbuße. Sind asbestosebedingte wesentliche, mehr als geringfügige Einschränkungen der kardiopulmonalen Funktion nicht festzustellen, kann eine durch die Asbestose bedingte MdE um 20 v. H. oder - im Falle des Vorliegens einer Stütz-MdE um mindestens 10 v. H. gemäß § 581 Abs. 3 RVO und § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII - nicht begründet werden (vgl. Urteil des BSG vom 10. März 1994, Az. 2 RU 13/93, veröffentlicht im Rundschreiben Nr. 64/94 vom 18. Juli 1994 des Bundesverbandes der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand). Objektiv befindet sich die pulmo-kardiale Leistungsfähigkeit des Klägers noch im Normbereich, so dass eine MdE nicht abgegrenzt werden kann.

Die Einschätzung der MdE auf 10 v. H. durch Dr. med. FB. im Gutachten vom 13. August 2002 und durch Dr. med. W. in seiner letzten Stellungnahme vom 18. Dezember 2002 überzeugt nicht. Bereits Dr. med. M. hat in seinem Gutachten vom 6. Juni 1995 die von Dr. med. FB. und zuletzt von Dr. med. W. (zurückhaltend) vertretene These aufgestellt, dass im Falle des Klägers eine rentenrelevante MdE bestehe, da bei ihm infolge der Asbestoseerkrankung der Fall eines intra-individuellen übermäßigen Volumenverlustes gegeben sei. Dr. med. P. hat in seiner Stellungnahme vom 26. September 1995 überzeugend ausgeführt, dass diese Sichtweise nicht der herrschenden Meinung entspreche, vielmehr sich die MdE nach der Abweichung der Funktionsbefunde vom Normbereich richte. Er hat im Einzelnen nachvollziehbar dargelegt, die entsprechenden Empfehlungen, z. B. Tagung Asbestose-Begutachtung 1987 in Hamburg-Lohbrügge, Schönberger/Mehrtens/Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Aufl. 1993, S. 885) gingen daher bei der Bewertung der MdE bei Lungenerkrankungen immer vom Vergleich mit Normalwerten aus. Die Angabe von Dr. med. M., dass auf der Tagung in Essen-Heidhausen eine anderslautende Empfehlung gegeben worden sei, treffe nicht zu. Nach Durchsicht des offiziellen Protokolls sei eine solche offizielle Empfehlung dort nicht zu erkennen, zumal - anders als bei der Tagung in Hamburg-Lohbrügge - keine zusammenfassenden Empfehlungen zur Begutachtung gegeben worden seien, sondern sich das Protokoll auf die Wiedergabe der Einzelreferate beschränke. Es frage sich auch, ob eine Bewertung nach dem individuellen Verlauf mit dem Begriff der MdE übereinstimme. Hierbei handele es sich um einen abstrakten Begriff, der sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt beziehe und - von Ausnahmen abgesehen - nicht von der individuellen Betroffenheit ausgehe. Auch bei Lungenerkrankungen beziehe sich die Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt darauf, inwieweit die Befunde von der Norm abwichen. Bei eventuellen Einstellungsuntersuchungen für bestimmte Tätigkeiten werde bei der Erhebung von Funktionsdaten in der Bewertung immer auf die Normwerte abgestellt, dementsprechend bezögen sich auch die "Berufsgenossenschaftlichen Arbeitsmedizinischen Grundsätze" bei allen Lungenerkrankungen immer auf die Normwerte. Diese Auffassung haben Prof. Dr. med. Q./Dr. med. R. in ihrem Gutachten vom 22. November 1996 bestätigt und als Begründung zutreffend angeführt, eine Orientierung am individuellen Verlauf benachteilige diejenigen Versicherten über Gebühr, bei denen in früheren Zeiten keine Lungenfunktionsprüfung vorgenommen worden sei, an der sich der individuelle Verlauf und ein eventueller Vitalkapazitätsabfall ablesen ließen. Die Orientierung am Normwert sei somit unabdingbare Voraussetzung zur Wahrung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzips. Dieser Beurteilung schließt sich das Gericht an, zumal auch Dr. med. FB. und Dr. med. W. einräumen müssen, dass ihre abweichende Beurteilung der MdE sich noch auf eine medizinische Mindermeinung stütze.

Dr. med. W. hat ferner in seinen Stellungnahmen vom 21. Juni 2001 und 27. Mai 2002 eingehend und zutreffend dargelegt, aus welchem Grund den gutachtlichen Ausführungen von Dr. med. EB. in seinem Gutachten vom 14. Dezember 2000 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. Dezember 2001 nicht gefolgt werden kann. Danach hat Dr. med. EB. wesentliche Grundsätze einer pneumologischen Begutachtung nicht beachtet. So habe er - wie Dr. med. W. ausgeführt hat - nicht berücksichtigt, dass mitarbeitsabhängige Werte durch optimale Atemmanöver reproduzierbar sein müssten und dass für ein Untersuchungsergebnis die besten Werte herangezogen werden müssten. Bereits Dr. med. L. hat in seiner von der Beklagten überreichten Stellungnahme vom 2. Februar 2001 das Gutachten von Dr. med. EB. als nicht überzeugend bezeichnet und ausgeführt, die von Dr. med. EB. angenommene MdE von 20 v. H. sei medizinisch-logisch aufgrund der bekannten Mitarbeitsprobleme des Klägers nicht begründbar.

Da somit eine wesentliche Verschlimmerung nach § 48 SGB X in den Folgen der Berufskrankheit nicht eingetreten ist, erreicht die MdE weiterhin keinen rentenberechtigenden Grad. Hieraus ergibt sich ferner, dass auch bei einer Behandlung des Rentenbegehrens des Klägers als "Neuantrag" die Gewährung einer Verletztenrente nicht in Betracht kommt.

Nach allem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und der Senat weicht nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab.