Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 09.04.2003, Az.: L 6 U 381/01

Rechtmäßigkeit der Entziehung einer Dauerrente; Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen einer Schulterverletzung ; Aufhebung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
09.04.2003
Aktenzeichen
L 6 U 381/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21017
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0409.L6U381.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 14.08.2001 - AZ: S 7 U 91/98

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist eine Änderung nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 v.H. beträgt.

  2. 2.

    Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. wegen einer Schulterverletzung ist erst anzunehmen, wenn eine Funktionsbeeinträchtigung vorliegt, die etwa mit der Einschränkung der Vorhebung des Armes nur bis 90 Grad vergleichbar ist.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 14. August 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung einer Dauerrente. Der 1950 geborene Kläger erlitt am 10. Januar 1995 einen Arbeitsunfall, bei dem er von einem LKW stürzte und auf die rechte Schulter fiel. Dabei zog er sich eine Schultereckgelenksprengung rechts (Tossy III) zu, die mehrmals operativ behandelt werden musste. Seit dem 16. September 1996 war der Kläger wieder arbeitsfähig. In dem Ersten Rentengutachten vom 3. Januar 1997 stellten Prof. Dr. C. als Unfallfolgen fest: Deutliche Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk in allen Ebenen, Minderung der Muskelausstattung des Schultergürtels und des Oberarmes, glaubhafte Belastungsschmerzen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzten sie bis 16. März 1997 auf 20 vH, danach auf 10 vH. In seiner Stellungnahme vom 17. Januar 1997 empfahl der beratende Arzt der Beklagten Dr. D., die MdE unter Berücksichtigung des komplizierten Heilverlaufes und der entsprechenden Unfallfolgen auch zum Zeitpunkt der Dauerrentenbewilligung mit 20 v.H. festzusetzen. Eine Nachuntersuchung solle in einem Jahr erfolgen. Mit Bescheid vom 27. Januar 1997 erkannte die Beklagte als Unfallfolgen an: Deutliche Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk in allen Ebenen, Muskelminderung des rechten Schultergürtels und des rechten Oberarmes, Belastungsschmerzen des rechten Armes. Außerdem bewilligte sie ab 16. September 1996 bis auf Weiteres eine Dauerrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er eine höhere Verletztenrente begehrt hatte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 1997 zurück.

2

In ihrem Zweiten Rentengutachten vom 16. Januar 1998 stellten Dr. E. eine nur endgradige Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk fest sowie eine geringgradige Fehlstellung im rechten Schultereckgelenk mit daraus resultierenden subjektiven Beschwerden. Nach der Einschätzung der Gutachter war eine Herabsetzung der MdE um 10 v.H. zu rechtfertigen, weil sich die im Gutachten von Prof. Dr. C. festgestellten Bewegungseinschränkungen deutlich gebessert hätten. Der Muskelmantel des rechten Armes sei etwas kräftiger ausgebildet als auf der Gegenseite, dies sei ein Hinweis auf eine auch subjektive Beschwerdelinderung. Nach Anhörung hob die Beklagte die Bewilligung der Verletztenrente mit Bescheid vom 17. Februar 1998 mit Ablauf des Monats Februar 1998 auf. Zur Begründung führte sie aus, die Beweglichkeit im rechten Schultergelenk in allen Ebenen habe sich deutlich gebessert, und die Muskulatur am rechten Arm habe zugenommen (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 23. April 1998).

3

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Stade hat das SG das Gutachten von Dr. F. vom 12. April 1999 eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, die Unfallfolgen hätten sich gebessert. Es bestehe noch eine leichte Schultergürtelinstabilität, eine Bewegungseinschränkung sei nicht mehr festzustellen, die Muskulatur sei rechts stärker als links. Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG das Gutachten von Dr. G. vom 6. August 1999 nebst ergänzender Stellungnahme vom 2. September 2000 eingeholt. Der Sachverständige hat die MdE auf 20 v.H. geschätzt. Nach seinen Feststellungen liegen eine dezente Muskelminderung am rechten Oberarm, eine Verschmächtigung des rechten Deltamuskels, eine Reduzierung der Belastung des rechten Armes beim Heben und Tragen und eine Reizung der Rotatorenmanschette vor. Das SG holte die ergänzende Stellungnahme von Dr. F. vom 21. September 2000 zu dem Gutachten von Dr. G. ein sowie das Gutachten von Prof. Dr. H. vom 17. Oktober 2000 nebst ergänzender Stellungnahme vom 10. April 2001. Nach den Feststellungen von Prof. Dr. H. besteht im rechten Schultergelenk keine deutliche Bewegungseinschränkung mehr, allerdings sei es zu einer gestörten Mechanik des Schultereckgelenkes gekommen, die zu einem Reizzustand des Schultereckgelenkes und einer Schleimbeutelentzündung geführt habe. Deshalb nutze der Kläger das ihm eigentlich mögliche Bewegungsausmaß nicht aktiv aus. Die MdE schätzten die Sachverständigen auf 20 vH.

4

Die Beklagte reichte die Stellungnahmen von Dr. I. vom 18. März 2001 und vom 15. Mai 2001 ein. Nach der Einschätzung von Dr. I. beträgt die MdE 10 vH. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. August 2001 hat das SG als Sachverständigen Dr. J. gehört, der seine schriftliche Stellungnahme vom 16. Juli 2001 zur Gerichtsakte gereicht hat. Dr. J. hat die MdE mit 10 v.H. bewertet.

5

Das SG hat sich den Einschätzungen von Dr. K. angeschlossen und die Klage mit Urteil vom 14. August 2001 abgewiesen.

6

Gegen dieses am 28. September 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. Oktober 2001 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

7

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

das Urteil des SG Stade vom 14. August 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 1998 aufzuheben.

8

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Stade vom 14. August 2001 zurückzuweisen.

9

Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.

10

Die Beteiligten sind mit Verfügungen der Berichterstatterin vom 7. Oktober 2002 und vom 30. Oktober 2002 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

12

II.

Gegenstand des Rechtsstreits ist die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 17. Februar 1998, mit dem sie die Dauerrente entzogen hat. Dagegen ist im Rahmen dieser Anfechtungsklage nicht zu prüfen, ob nach der Entziehung der Dauerrente eine Verschlimmerung der Unfallfolgen eingetreten ist, wie dies der Kläger im Berufungsverfahren geltend gemacht hat.

13

Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).

14

Die Beklagte hat zu Recht die Bewilligung der Verletztenrente ab 1. März 1998 aufgehoben, weil sich die dem Bescheid vom 27. Januar 1997 zu Grunde liegenden Verhältnisse wesentlich geändert haben.

15

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bei der Feststellung der MdE ist eine Änderung nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 v.H. beträgt (§ 73 Abs. 3 i.V.m. § 214 Abs. 3 Satz 2 SGB VII). Eine Dauerrente kann nur in Abständen von mindestens 1 Jahr geändert werden (§ 622 Abs. 2 Satz 2 RVO).

16

Im vorliegenden Fall zeigt eine Gegenüberstellung der unfallbedingten Gesundheitsstörungen des Klägers am 27. Januar 1997 (Bewilligung der Dauerrente) und des Zustandes am 17. Februar 1998 (Aufhebungsbescheid), dass eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Mit Bescheid vom 27. Januar 1997 hatte die Beklagte dem Kläger mit Rücksicht auf das Erste Rentengutachten von Prof. Dr. C. eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. bewilligt. Die Gutachter hatten bei der Untersuchung eine deutliche Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk in allen Ebenen festgestellt. Die Funktionseinschränkung bestand darin, dass das Vorwärtsführen des rechten Armes nur bis 130 Grad (links 180 Grad) und das Rückwärtsführen bis 20 Grad (links 60 Grad) gelang und außerdem die Seitwärtshebung des rechten Armes nur bis 120 Grad (links 170 Grad) möglich war. Zwar wird eine MdE von 20 v.H. erst angenommen, wenn eine Funktionsbeeinträchtigung vorliegt, die etwa mit der Einschränkung der Vorhebung des Armes nur bis 90 Grad vergleichbar ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, Seite 561). Im vorliegenden Fall war aber zu berücksichtigen, dass die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes außerdem durch eine deutliche Minderung der groben Kraft und durch Belastungsschmerzen beeinträchtigt war. Letztere Einschränkungen waren durch die von den Gutachtern gemessenen Muskelminderungen des rechten Schultergürtels und des rechten Oberarmes auch objektivierbar. Zu Recht hat deshalb Dr. D. die MdE mit 20 v.H. eingeschätzt.

17

Die Änderung besteht darin, dass sich die unfallbedingten Gesundheitsstörungen zum Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides (17. Februar 1998) gebessert hatten und auch keine neuen Unfallfolgen hinzugekommen waren. Die Änderung ist auch wesentlich, weil die MdE nur noch auf 10 v.H. geschätzt werden konnte: Bei der Untersuchung durch Dr. L. am 16. Januar 1998 bestand nur noch eine endgradige Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk (Vorhebung bis 180 Grad, Rückhebung bis 30 Grad, Seitwärtshebung bis 170 Grad). Die grobe Kraft erschien ungestört. Eine Muskelminderung rechts lag nicht mehr vor, beide Handinnenflächen wiesen Beschwielungen auf, dies spricht - anders als vorher - für eine gute Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes.

18

Eine für den Kläger günstigere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Gutachten von Dr. M., denn diese Gutachten überzeugen den Senat nicht.

19

Dr. G. begründet seine MdE- Einschätzung (20 vH) mit einer dezenten Muskelminderung am rechten Oberarm, einer Verschmächtigung des rechten Deltamuskels, einer Reduzierung der Belastbarkeit des rechten Armes (Heben und Tragen) sowie einer Reizung der linken Rotatorenmanschette. Diese Diagnosen können der MdE- Bewertung jedoch nicht zu Grunde gelegt werden. Eine Muskelmassenminderung am rechten Oberarm ist nicht bewiesen. Abgesehen davon, dass sich eine Minderung dieses Umfangmaßes anlässlich der Untersuchung bei Dr. F. am 20. Oktober 1998 (9 Monate vor der Untersuchung durch Dr. G.) nicht hat feststellen lassen, hat Dr. F. auch darauf aufmerksam gemacht, dass eine Muskelmassenminderung am Oberarm nicht plausibel ist, wenn gleichzeitig die Muskulatur an den Unterarmen und die Gebrauchsspuren an den Händen seitengleich ausgeprägt sind. Er hat auch überzeugend darauf hingewiesen, dass Oberarmumfänge von 35 cm und mehr sowie Unterarmumfänge von 30 cm auf eine kräftige Armmuskulatur hinweisen und nicht auf eine Schonung schließen lassen. Außerdem hat Dr. F. verdeutlicht, dass sich die Muskelmasse des Deltamuskels nicht messen, sondern nur abschätzen lässt und somit vom subjektiven Eindruck des Untersuchers abhängig ist. Soweit Dr. G. eine "Reduzierung in der Hebe- und Trageleistung" und eine Reizung der Rotatorenmanschette als Unfallfolgen angenommen hat, hat er keine überprüfbaren medizinischen Befunde mitgeteilt, die entsprechende Funktionseinschränkungen belegen könnten. Zudem liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass bei dem Unfall die Rotatorenmanschette verletzt worden ist. Darauf hat Dr. I. zu Recht hingewiesen.

20

Auch Prof. Dr. H. kommen zu dem Ergebnis, dass im rechten Schultergelenk keine deutliche Bewegungseinschränkung mehr besteht. Das Gelenk sei annähernd frei beweglich, die Umfangmaße am rechten Oberarm seien größer als links. Ihre Schätzung der unfallbedingten MdE auf 20 v.H. begründen sie vielmehr mit einer gestörten Mechanik des Schultereckgelenkes, die zu einem Reizzustand des Schultereckgelenkes und einer Schleimbeutelentzündung geführt habe. Die unfallbedingte Restinstabilität des Schultereckgelenkes führe dazu, dass der Kläger das ihm eigentlich mögliche Bewegungsausmaß aktiv nicht ausnutze. Bei dieser Beurteilung haben die Sachverständigen jedoch nicht berücksichtigt, dass es bei der Einschätzung der MdE in erster Linie auf Funktionsbeeinträchtigungen ankommt, die sich hier - wie ausgeführt - nicht mehr in einem rentenberechtigendem Umfang feststellen lassen.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.