Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.04.2003, Az.: L 6 U 64/02
Bewilligung von Hinterbliebenenrente; Voraussetzungen eines Anspruchs auf Hinterbliebenenrente; Kausalität zwischen Arbeitsunfall und Tod des Versicherten; Beweiserleichterung nach den Grundsätzen zum sog. Beweisnotstand
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 24.04.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 64/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21144
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0424.L6U64.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 10.01.2002 - AZ: S 11 U 2/00
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs. 1 SGB VII
- § 7 Abs. 1 SGB VII
Redaktioneller Leitsatz
Für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Arbeitsunfall und dem Tod muss eine Wahrscheinlichkeit bestehen, d.h. bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände müssen die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, dass die dagegen sprechenden außer Betracht bleiben können.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Januar 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Tod des Ehemannes der Klägerin durch (mittelbare) Folgen eines Arbeits-unfalls verursacht worden ist.
Der am 9. Januar 1937 geborene C. (Versicherter) erlitt im März 1992 einen Arbeitsunfall, bei dem ihm eine Eisenstange an den Kopf stieß. Es zeigte sich eine blutende Platzwunde an der Stirn, die mit einem Pflaster versorgt wurde. In der Folgezeit war der Versicherte wegen rechtsseitiger Kopfschmerzen in ärztlicher Behandlung. Im Oktober 1992 wurden beidseitig subdurale Hämatome (Blutungen unter die harte Hirnhaut) festgestellt, die mehrfach operativ behandelt wurden (Druckentlastung durch Bohrlochdrainage). In seinem Gutachten vom 13. November 1994 führte Dr. D. aus, es sei durch die Hämatome zu einer Akzentuierung des hirnorganischen Psychosyndroms und zu einer verstärkten Ausprägung der Gleichgewichtsstörungen gekommen. Mit Bescheid vom 11. Mai 1995 erkannte die Beklagte als Unfallfolgen an "hirnorganisches Psychosyndrom und anteilige Gleichgewichtsstörungen nach Schädelhirntrauma". Außerdem bewilligte sie ab 26. Oktober 1993 Verletztenrente in Höhe von 70 v.H. der Vollrente.
Am 26. Juni 1997 wurde der Versicherte wegen einer stark erhöhten Pulsfrequenz und kaum messbaren Blutdruckwerten sowie sich im EKG darstellende Herzrhythmusstörungen (supraventrikuläre Tachykardie) notfallmäßig stationär im Kreiskrankenhaus E. aufgenommen. Bei der dort durchgeführten Echokardiographie wurden ein vergrößertes rechtes Herz und zwei Herzklappenfehler diagnostiziert. Am 4. Februar 1998 wurde er im Niedersächsischen Landeskrankenhaus F. wegen seit zwei bis drei Wochen bestehender cerebraler Anfälle behandelt. Nachdem eine delirante Symptomatik aufgetreten war, wurde er am 11. Februar 1998 in das G. verlegt. Dort wurde mittels computertomographischer Untersuchung eine massive Hirnblutung festgestellt. Am 16. Februar 1998 verstarb der Versicherte an zentralem Regulationsversagen als Folge einer intracerebralen Blutung. Prof. Dr. H. vertraten in ihrem Bericht vom 8. Juni 1998 die Auffassung, die zum Tode führende Blutung sei Unfallfolge, weil seit dem Unfall ein cerebrales Anfallsleiden bestanden habe. Die Beklagte holte das Gutachten von Dr. D. vom 14. September 1998 ein. Nach den Ausführungen des Gutachters handelte es sich bei der massiven Ponsblutung wahrscheinlich um ein akutes Ereignis, das in keiner Beziehung zu dem Unfall vom März 1992 stand. Mit Bescheid vom 14. Oktober 1998 gewährte die Beklagte der Klägerin eine einmalige Hinterbliebenenbeihilfe und lehnte die Zahlung von Hinterbliebenenrente mit der Begründung ab, der Tod sei nicht Folge des Arbeitsunfalls. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin das Attest des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. I. vom 5. Februar 1999 vor, in dem der Arzt einen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und der Hirnblutung bejaht. Die Beklagte holte das Gutachten des Pathologen Prof. Dr. J. vom 30. Juli 1999 ein. Nach dessen Ausführungen ist Ursache für den Tod des Versicherten nicht eine erneute Subduralblutung, sondern eine Blutung innerhalb des Hirns, möglicherweise auf dem Boden eines Hirninfarktes oder einer hypertonen Massenblutung. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1999 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim holte das SG auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten von Prof. Dr. K. vom 5. April 2001 ein. Nach den Ausführungen des Sachverständigen steht auf Grund der durchgeführten Computertomographie fest, dass der Versicherte durch ein zentrales Regulationsversagen infolge einer Hirnblutung verstorben ist. Ein Zusammenhang zwischen dieser Blutung und dem Unfall wäre allenfalls denkbar gewesen, wenn eine sog. sekundäre Wühlblutung (ausgehend von einer bestehenden subduralen Blutung) vorgelegen hätte. Eine derartige Subduralblutung sei kurz vor dem Tod jedoch nicht nachgewiesen worden. Außerdem gäbe es auch keine Anhaltspunkte für eine Brückensymptomatik, weil in den Folgejahren nach dem Arbeitsunfall keine Subduralblutung mehr aufgetreten sei. Der Tod sei vielmehr plausibel auf dem Boden einer vorbestehenden erheblichen Herzkreislauferkrankung (Veränderungen am Herzen und Bluthochdruck) zu erklären. Die tödliche intracerebrale Blutung könne auch nicht als Folge eines anlagebedingten Krampfleidens angesehen werden, da sich keine belegbaren Anhaltspunkte für ein unfallbedingtes Anfallsleiden ableiten ließen.
Die Klägerin hat dagegen unter Berufung auf das Attest von Dr. I. vom 13. Juni 2001 und eine ärztliche Bescheinigung von Prof. Dr. L. (Niedersächsisches Landeskrankenhaus F.) vom 1. Juni 2001 eingewandt, ihr Ehemann habe normale Blutdruckwerte gehabt. Allerdings sei er bei den von der Beklagten veranlassten Untersuchungen immer sehr aufgeregt gewesen, weil er befürchtet habe, dass ihm die Verletztenrente entzogen werden könnte.
Das SG hat sich den Ausführungen von Dr. D., Prof. Dr. J. und Prof. Dr. K. angeschlossen und die Klage mit Urteil vom 10. Januar 2002 abgewiesen.
Gegen dieses am 5. Februar 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11. Februar 2002 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, ihr Ehemann sei vor dem Unfall gesund gewesen, insbesondere habe er normale Blutdruckwerte gehabt. Es sei wegen der unterlassenen Obduktion ein Beweisnotstand eingetreten.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Januar 2002 aufzuheben,
- 2.
2. den Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 1999 zu ändern,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Januar 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des SG Hildesheim und ihre Bescheide für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist aber nicht begründet, denn das SG und die Beklagte haben zu Recht einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente verneint. Gemäß § 63 Abs. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII besteht ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn der Tod infolge eines Arbeitsunfalls eingetreten ist. Für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Arbeitsunfall und dem Tod muss eine Wahrscheinlichkeit bestehen, d.h. bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände müssen die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, dass die dagegen sprechenden außer Betracht bleiben können. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann im vorliegenden Fall nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass der Tod des Ehemannes der Klägerin durch (mittelbare) Folgen des Arbeitsunfalls, den der Versicherte im Jahr 1992 erlitt, wesentlich (mit)verursacht worden ist.
Der Versicherte verstarb an einem zentralen Regulationsversagen infolge einer Hirnblutung. Dies steht nach den Feststellungen sämtlicher behandelnder Ärzte und Gutachter sowie nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. auf Grund des Ergebnisses der durchgeführten Computertomographie fest.
Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Tod lässt sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit begründen. Nach dem Unfall sind weder klinisch noch bildgebend eine Hirnkontusion oder andere Traumafolgen im Hirnstammbereich festgestellt worden. Darauf hat Dr. D. hingewiesen. Nach den Erläuterungen von Prof. Dr. K. wäre ein Zusammenhang zwischen der zum Tode führenden Hirnblutung und dem Unfall allenfalls denkbar gewesen, wenn eine sog. sekundäre Wühlblutung (ausgehend von einer bestehenden subduralen Blutung) vorgelegen hätte. Der Sachverständige hat jedoch überzeugend darauf aufmerksam gemacht, dass eine derartige subdurale Blutung kurz vor dem Tod des Versicherten nicht nachgewiesen worden ist und dass es auch keine Anhaltspunkte für eine Brückensymptomatik gibt, weil in den Folgejahren nach dem Arbeitsunfall keine Subduralblutung mehr aufgetreten ist.
Für die Richtigkeit der Beurteilung des Sachverständigen spricht zudem, dass andere Verursachungsmöglichkeiten für die zum Tode führende Hirnblutung in Betracht kommen. Denn nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sach-verständigen Prof. Dr. K. stellt die vom Unfall unabhängige erhebliche Herzkreislauferkrankung eine plausible Erklärung für die Hirnblutung dar. Der Sachverständige hat nach sorgfältiger Auswertung aller vorliegenden Krankenberichte darauf hingewiesen, dass bei dem Versicherten neben einer Rechtsherzhypertrophie und zwei Herzklappenfehlern insbesondere ein - schon vor dem Unfall bestehender - Bluthochdruck festgestellt worden sei. Auch Dr. D. hat auf die (un-fallunabhängige) Hypertonie aufmerksam gemacht. Angesichts der aktenkundigen durchweg hohen Blutdruckwerte (vgl. z.B. Zusammenstellung auf Bl. 11 des Gutachtens von Prof. Dr. K.) bestehen auch keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose, selbst wenn bei den jährlichen Untersuchungen bei Dr. I. bzw. während des stationären Aufenthaltes im Landeskrankenhaus F. im Februar 1998 auch normale Werte gemessen worden sind.
Eine für die Klägerin günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Arztbriefes von Prof. Dr. M. und des Attestes von Dr. I. vom 5. Februar 1999. Prof. Dr. M. - und ihnen folgend Dr. I. - bejahen in ihrem Bericht vom 8. Juni 1998 einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der zum Tode führenden Blutung, weil sie unterstellen, dass der Unfall ein cerebrales Anfallsleiden verursacht hat. Dieser Argumentation vermag der Senat jedoch nicht folgen. In diesem Zusammenhang hat Prof. Dr. K. darauf hingewiesen, dass keine Anhaltspunkte für ein unfallbedingtes Anfallsleiden vorliegen, vielmehr die Krampfanfälle erst kurze Zeit vor dem Letzten stationären Aufenthalt aufgetreten sind. Auch die Klägerin hat nicht behauptet, dass ihr Ehemann zeitnah zu dem Unfall epileptische Anfälle hatte, sie hat dies gegenüber Dr. D. am 24. September 1996 sogar ausdrücklich verneint.
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist im vorliegenden Fall keine Umkehr der Beweislast dergestalt eingetreten, dass ein Zusammenhang zwischen dem Tod des Versicherten und unfallunabhängigen Gründen feststehen muss. Denn eine Beweislastumkehr ist dem sozialgerichtlichen Verfahren fremd (BSG, Urteil vom 29. September 1965, BSGE 24, 25). Der Senat konnte, wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, auch nicht die Grundsätze berücksichtigen, die das BSG zum so genannten Beweisnotstand entwickelt hat und die anzuwenden sind, wenn die Verwaltung durch eine unterlassene Obduktion den Beweisnotstand verschuldet hat. Bei einem solchen Sachverhalt sind die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung in der Weise gesenkt, dass die richterliche Überzeugung von einem bestimmten Geschehensablauf schon auf wenige tatsächliche Anhaltspunkte gestützt werden kann (BSG a.a.O., BSG, Urteil vom 12. Juni 1991 - Az: 2 RU 58/89). Im vorliegenden Fall haben sich unter Würdigung der verschiedenen Sachverständigengutachten für den Senat keine Anhaltspunkte oder Hinweise darauf ergeben, dass der Versicherte wahrscheinlich wesentlich wegen (mittelbarer) Folgen des Arbeitsunfalls verstarb. Auch Prof. Dr. K. hat solche Hinweise nicht aufzuzeigen vermocht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.