Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.04.2003, Az.: L 5/9 SB 153/99

Höhe des Grades der Behinderung (GdB); Wirbelsäulen-Leiden mit chronischem Wurzelreizsyndrom, psychische Störung, Hörminderung, Verlust des Geruchssinns mit Geschmacksstörung; Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP); Bestimmung des Grades der Behinderung (GdB) hinsichtlich der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen und Bildung eines Gesamt-Grades der Behinderung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
29.04.2003
Aktenzeichen
L 5/9 SB 153/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20205
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0429.L5.9SB153.99.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - AZ: S 3 SB 117/98

Redaktioneller Leitsatz

Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) sind antizipierte Sachverständigengutachten, also die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden.

Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 50 zusteht.

2

Der am ... geborene Kläger beantragte im Mai 1994 die Feststellung seines Behindertenstatus. Das Versorgungsamt (VA) zog medizinische Unterlagen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) sowie der J. bei und stellte nach versorgungsärztlicher Stellungnahme der Frau Dr. K. einen GdB von 20 fest aufgrund der Funktionseinschränkungen

3

a) umformende Veränderungen der Wirbelsäule

4

(Bescheid vom 16. Mai 1995). Im Vorverfahren zog das VA das für die L. erstattete Untersuchungsgutachten des Facharztes für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten Dr. M. mit orthopädisch-traumatologischem Zusatzgutachten der Dres. N., des Zahnarztes Dr. O. sowie des Nervenarztes Dr. P. bei. Nach versorgungsärztlicher Stellungnahme stellte es mit Abhilfebescheid vom 7. Januar 1998 einen GdB von 30 ab 1. April 1992 fest aufgrund der Funktionseinschränkung

  1. a)

    umformende Veränderungen der Wirbelsäule (verwaltungsinterne Bewertung: 20),

  2. b)

    psychische Störung (verwaltungsinterne Bewertung: 20),

  3. c)

    Hörminderung (verwaltungsinterne Bewertung: 10).

5

Nachdem die Berufsgenossenschaft am 22. Dezember 1997 die Zahlung einer Verletztenrente abgelehnt hatte, weil die Folgen des Wegeunfalles folgenlos abgeklungen seien, blieb der Widerspruch erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. April 1998).

6

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 26. Mai 1998 beim Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben und einen GdB von 100 begehrt. Er hat sich auf einen Arztbrief des Orthopäden Dr. Q. und ein Attest der Ärztin für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten Dr. R. gestützt. Das SG hat Beweis erhoben durch Untersuchungsgutachten des Chirurgen Dr. S. vom 16. Dezember 1998 mit Arztbrief des Radiologen Dr. T ... Dem Gutachten folgend hat der Beklagte durch das vom Kläger angenommene Teil-Anerkenntnis vom 8. März 1999 ab Dezember 1998 einen GdB von 40 sowie die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festgestellt aufgrund der Beeinträchtigungen:

  1. 1.

    Umformende Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen (verwaltungsinterne Bewertung: 30),

  2. 2.

    psychische Störungen (verwaltungsinterne Bewertung: 20).

7

Die mit einem GdB von 10 bewertete Hörminderung sowie das ebenfalls mit einem GdB von 10 bewertete Krampfaderleiden des linken Beines blieben ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB.

8

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 17. Juni 1999 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, auf chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet bestehe als Hauptbehinderung ein Wirbelsäulen- (Hals- und Lendenwirbelsäule) Leiden mit chronischem Wurzelreizsyndrom. Nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) sei diese Einschränkung mit einem GdB von 30 zu bewerten. Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke sowie deutliche Krampfaderbildungen mit Umlaufstörungen am linken Unterschenkel seien zutreffend mit einem Wert von 10 eingestuft. Die leichtere, noch nicht mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit verbundene psychische Störung sei mit einem Wert von 20 einzustufen. Fraglich sei, ob für eine Hörminderung sowie für eine - im Ausmaß fragliche - Beeinträchtigung des Geruchs- und Geschmackssinns überhaupt ein GdB oder ein Wert von 10 oder 20 zuzumessen sei. Für den Gesamt-GdB spiele dies indes keine Rolle. Dabei sei zu berücksichtigen, dass aufgrund der psychischen Störung von einer verstärkten Wahrnehmung der jeweiligen Auswirkungen auszugehen sei. Die Gesamtbeeinträchtigung sei, ausgehend von der die Wirbelsäule betreffenden Beeinträchtigung mit 40 zutreffend eingestuft.

9

Gegen den am 1. Juli 1999 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit der am 28. Juli 1999 eingegangenen Berufung. Er rügt mangelnde Sachaufklärung. Es sei ein Gutachten auf hals-nasen-ohrenfachärztlichem Gebiet unterblieben. Auch hätten die Akten der Berufsgenossenschaft beigezogen werden müssen. Der Kläger stützt sich auf das für die L. erstattete zahnärztlich-oralchirurgische Untersuchungsgutachten des Dr. O. vom 23. Dezember 1996.

10

Aufgrund des durch den Senat eingeholten Untersuchungsgutachtens des Facharztes für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten Dr. U. vom 16. November 2001/10. September 2002 erkennt der Beklagte mit dem vom Kläger angenommenen Teil-Anerkenntnis vom 11. Dezember 2002 ab Dezember 1998 einen GdB von 50 an aufgrund folgender Funktionseinschränkungen:

  1. 1.

    Umformende Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen (verwaltungsintern: 30),

  2. 2.

    Innenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus beidseits, Gleichgewichtsstörungen (verwaltungsintern: 20),

  3. 3.

    Verlust des Geruchssinns mit Geschmacksstörung (verwaltungsintern: 20), 4. psychische Störung (verwaltungsintern: 20).

11

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg vom 17. Juni 1999 aufzuheben und den Bescheid vom 7. Januar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1998 zu ändern,

  2. 2.

    den Beklagten zu verpflichten, über das Teil-Anerkenntnis vom 11. Dezember 2002 hinaus einen GdB von 100 festzustellen.

12

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

13

Der Senat hat einen Befundbericht der Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten Dr. R. vom 2. März 2001 sowie auf Antrag des Klägers das Untersuchungsgutachten des Dr. U. gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt, der einen GdB von 60 für richtig hält.

14

Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden schwer Behinderten-Akten des VA Hannover (Az.: V.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

15

Entscheidungsgründe

16

Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Ein GdB von 100 ist nicht festzustellen, weil das vom Kläger angenommene Teil-Anerkenntnis vom 11. Dezember 2002 den Funktionseinschränkungen des Klägers zutreffend Rechnung trägt.

17

Die Maßstäbe des ursprünglich heranzuziehenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) finden sich in § 69 Abse. 1 und 3 des vom Senat infolge der zwischenzeitlichen Rechtsentwicklung im Rahmen der Verpflichtungsklage anzuwendenden Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wieder. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Bewertungsmaßstäbe des SchwbG und des SGB IX inhaltlich durch die AHP ausgefüllt werden. Diese sind keine Normen, nicht einmal Verwaltungsvorschriften, denn u.a. fehlt jede entsprechende Ermächtigungsgrundlage. Sie sind aber antizipierte Sachverständigengutachten, also die Summe von Erfahrungssätzen, die normähnliche Qualität und Auswirkung haben und ähnlich wie Richtlinien wirken. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind sie wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden und dementsprechend von den Gerichten auch nur wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hinsichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden (BSGE 72, 285; 75, 176; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6).

18

Der GdB ist nach in § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthaltenen Maßstäben zu bestimmen. Das bedeutet, dass alle körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Im Rahmen einer freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, hat das Gericht alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und entsprechend § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) mit ärztlicher Hilfe selbstständig zu bewerten. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist das Vorliegen einer Behinderung als Gesamtzustand festzustellen (BSGE 81, 50; E 82, 176).

19

Mit dem zweitinstanzlichen Teil-Anerkenntnis hat sich der Beklagte an die nach den vorstehenden Vorgaben verbindlichen Maßstäbe der AHP gehalten. Im Vordergrund steht die Einschränkung der Wirbelsäule (AHP S. 140) mit einem Wert von 30. Den Ausführungen des SG ist insoweit nichts hinzuzufügen. Zweitinstanzlich hat sich nichts anderes ergeben. Dagegen steht nach dem Untersuchungsgutachten des Dr. U. fest, dass der Kläger zusätzlich an einer gering- bis mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus beidseits, Gleichgewichtsstörungen sowie dem Verlust des Geruchssinns mit Geschmacksstörung leidet. Der Sachverständige hat zwar seine Ausführungen offenkundig in den Zusammenhang des Wegeunfalls von März 1992 mit etwaigen Folgen gestellt, der für die hiesige Betrachtung ohne Bedeutung ist. Denn hier kommt es ausschließlich auf die Funktionseinschränkungen an, die sich aus gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben, nicht etwa auf Anzahl und Benennung von Diagnosen. Der Sachverständige hat die mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus aurium beidseits mit einem Wert von 20 bedacht. Dies entspricht den AHP (S. 72) und ist vom Beklagten seinem Anerkenntnis zugrunde gelegt. Zutreffend ist auch, dass die Gleichgewichtsstörungen eine schwer wiegende Beeinträchtigung nicht darstellen. Der Sachverständige hat zwar zunächst von schweren Veränderungen der Gleichgewichtsregulation gesprochen. Für den organischen Befund ergeben sich nach den AHP (S. 73) jedoch lediglich Werte von 0 bis 10. Der Sachverständige hat dementsprechend dafür einen Wert von 5 zugrunde gelegt. Gleichzeitig weist indes die Angabe des Sachverständigen auf die psychische Komponente hin, die den Schweregrad einer leichteren psychovegetativen oder psychischen Störung jedoch nicht überschreitet und deshalb mit dem Wert von 20 zutreffend bedacht ist (AHP S. 60). Dass sich der Kläger etwa in ständiger neurologisch/psychiatrischer oder psychotherapeutischer Betreuung befindet, ist dem Vorbringen nicht zu entnehmen. Auch dieser Umstand spricht für die richtige Bewertung der Einschränkungen auf diesem Gebiet.

20

Zutreffend ist die Störung des Riechvermögens und des Geschmackssinnes mit einem Wert von 20 eingestuft (AHP S. 76).

21

Danach ist nach den vom SG zutreffend dargestellten Bewertungsmaßstäben für die Feststellung der Behinderung, die sich im GdB ausdrückt, der Wert von 50 nicht zu beanstanden.

22

Zu Unrecht weist der Kläger auf den zahnärztlich-oralchirurgisch erhobenen Befund durch Dr. O. im Gutachten vom 23. Dezember 1996 hin. Dieses Gutachten hat bereits vorgelegen und kann bei einer im Normbereich befindlichen Schneidekantendistanz von 42 mm nach den Maßstäben der AHP zu einem GdB nicht führen (vgl. AHP S. 77). Eine nach den AHP bewertbare Beeinträchtigung ist nicht festgestellt.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte den im zweitinstanzlich erstatteten Untersuchungsgutachten des Dr. U. erhobenen Befunden mit dem Teil-Anerkenntnis vom 11. Dezember 2002 unverzüglich Rechnung getragen und ein Anerkenntnis abgegeben hat. Hierfür ist er mit Kosten nicht zu belasten.

24

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.