Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 07.04.2003, Az.: L 3 P 52/02

Entziehung von Pflegegeld; Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen; Voraussetzungen der Aufhebung eines von Anfang an rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts; Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung; Erforderlichkeit eines ordnungsgemäßen Anhörungsverfahrens

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
07.04.2003
Aktenzeichen
L 3 P 52/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20156
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0407.L3P52.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Aurich - 04.09.2002 - AZ: S 12 P 49/00

Redaktioneller Leitsatz

Die Bewilligung von Pflegegeld kann nicht nach § 48 Abs. 1 SGB X aufgehoben werden, wenn von Anfang an nicht im erforderlichen Umfang ein Grundpflegebedarf bestand und mithin keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist. Vielmehr kann sie nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X zurückgenommen werden.

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 04. September 2002 und der Bescheid der Beklagten vom 25. April 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2000 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers aus beiden Rechtszügen.

Tatbestand

1

Der 1941 geborene Kläger wendet sich gegen die Entziehung von Pflegegeld.

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Der Kläger leidet insbesondere an einem Zustand nach zwei Bandscheibenoperation, an Diabetes und an Hypertonie. Er beantragte 1995 die Bewilligung von Pflegegeld. Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 14. Juni 1995 ein, demzufolge kein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege bestand. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Juli 1995 den damaligen Antrag des Klägers ab.

3

Ein im Widerspruchsverfahren eingeholtes weiteres MDKN-Gutachten vom 04. Januar 1996 (erstellt auf der Grundlage einer am 07. September 1995 durchgeführten Untersuchung des Klägers) vermochte nur einen "geringen Teilhilfebedarf" beim Duschen und beim An- und Auskleiden festzustellen; die Voraussetzungen der Pflegestufe I waren aus der Sicht des Gutachters weiterhin nicht gegeben. Ein - in den damaligen Verwaltungsvorgängen der Beklagten enthaltener - Entlassungsbericht der Reha-Klinik E. über eine stationäre Behandlung des Klägers in der Zeit vom 02. bis 30. Januar 1996 dokumentiert, dass der Kläger über Rückenschmerzen bei Gehstrecken von ca. 200 bis 300 Metern geklagt hatte. Hinweise auf einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege lassen sich weder dem Aufnahmebefund noch den in diesem Bericht festgehaltenen Beschwerdedarlegungen des Klägers entnehmen. Der Finger-Boden-Abstand wurde mit 50 cm gemessen.

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Mit Beschluss vom 24. April 1996 (Bescheid vom 25. April 1996) gab der Widerspruchsausschuss der Beklagten ohne nähere Begründung dem Widerspruch des Klägers nach vorausgegangener mündlicher Erörterung statt. Dieser erhielt daraufhin rückwirkend ab dem 01. April 1995 Pflegegeld nach Maßgabe der Pflegestufe I.

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Vom 01. April 1999 bis zum 30. November 2000 führte ein landwirtschaftliches Lohnunternehmen für den Kläger als einen dort - im Rahmen einer sog. geringfügigen Beschäftigung - tätigen Arbeiter Sozialversicherungsbeiträge ab. Nachdem die Beklagte hiervon durch einen anonymen Hinweis Kenntnis erlangt hatte, ließ sie den Kläger erneut durch den MDKN untersuchen. In dem auf der Grundlage einer am 11. April 2000 durchgeführten Untersuchung erstellten Gutachten gelangte die Pflegefachkraft F. zu der Einschätzung, dass der Kläger im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von nur 15 Minuten aufwies.

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Die Beklagte hörte daraufhin den Kläger zu einer beabsichtigten Einstellung der Pflegegeldzahlungen an. Hierauf reagierte der Kläger mit einem "Widerspruch" vom 17. April 2000. Mit Bescheid vom 25. April 2000 wurde die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung mit Wirkung ab dem 01. Mai 2000 eingestellt; dieser Bescheid wurde - soweit ersichtlich: ohne ein weiteres Widerspruchsschreiben - mit "Widerspruchsbescheid" vom 13. September 2000 (dem Kläger zugestellt am 29. September 2000) bestätigt, nachdem die Pflegefachkraft G. in einem weiteren im Auftrage des MDKN erstellten Gutachten vom 15. Mai 2000 den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege mit 33 Minuten bemessen hatte. Eine Rechtsgrundlage für die Einstellung der Pflegeleistungen wird weder im Bescheid vom 25. April 2000 noch im Widerspruchsbescheid genannt.

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Zur Begründung der am 30. Oktober 2000, einem Montag, erhobenen Klage hat der Kläger eine nur unzureichende Berücksichtigung seines umfänglichen Hilfebedarfs geltend gemacht. Er erfülle nach wie vor die Voraussetzungen der Pflegestufe I, zumal sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe. Bei dem landwirtschaftlichen Lohnunternehmen habe er nur Tätigkeiten ausgeübt, die keinen körperlichen Einsatz erfordert hätten.

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Mit Urteil vom 04. September 2002, dem Kläger zugestellt am 17. September 2002, hat das Sozialgericht Aurich die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es dargelegt, dass sich der Hilfebedarf des Klägers im Vergleich mit den Feststellungen, die für den Erlass des Widerspruchsbescheides maßgeblich gewesen seien, wesentlich verändert habe.

9

Zur Begründung der am 14. Oktober 2002 eingelegten Berufung macht der Kläger insbesondere geltend, dass das Sozialgericht bei der Heranziehung des § 48 SGB X das Erfordernis gleicher Tatsachenermittlungsgrundlagen verkannt habe. Zur Abklärung seines umfänglichen Hilfebedarfs sei die Einholung eines weiteren Gutachtens geboten.

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Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 04. September 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 25. April 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2000 aufzuheben.

11

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

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Sie legt dar, dass die angefochtenen Bescheide aus Ihrer Sicht auf § 48 SGB X zu stützen seien, dass sie außerhalb des vorliegenden Verfahrens aber auch eine Rücknahme der Bewilligung von Pflegeleistungen nach § 45 SGB X erwäge. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung, über die der Senat mit dem von beiden Beteiligten erklärten Einverständnis (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 07. November 2002 und Schriftsatz der Beklagten vom 14. März 2003) durch seinen Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg.

14

Der durch den Widerspruchsbescheid vom 13. September 2000 bestätigte angefochtene Bescheid vom 25. April 2000 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann der Bescheid nicht auf § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X gestützt werden. Die nach dieser Norm erforderliche wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist nicht gegeben. Eine solche wesentliche Änderung umfasst zwei Voraussetzungen: Zum einen muss der Versicherte im Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligung von Pflegeleistungen tatsächlich einen Hilfebedarf im Umfang zumindest der Pflegestufe I aufgewiesen haben, was namentlich voraussetzt, dass der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege den gesetzlichen Grenzwert (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 1 SGB XI) von 45 Minuten im Tagesdurchschnitt überschritten hat.

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Sollten hingegen bereits damals die Voraussetzungen auch nur der Pflegestufe I gefehlt haben, dann wären selbst etwaige nachfolgende Verbesserungen im Gesundheitszustand bezüglich dieser Einordnung nicht als rechtlich wesentlich zu qualifizieren (vgl. BSG, Urt. vom 09.09.1986 - 5b RI 66/85 - SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 27). Zum anderen setzt eine Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X voraus, dass bei Erlas des Aufhebungsbescheides die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht mehr gegeben waren.

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Dabei knüpft § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X nach seinem klaren Wortlaut an die tatsächlichen Verhältnisse an. Bezüglich ihrer muss sich eine wesentliche Veränderung ergeben haben. Es genügt nicht, dass sich ein Unterschied bei einem Vergleich der tatsächlichen Gegebenheiten in der Folgezeit mit in den Gründen des Bewilligungsbescheides dargelegten früheren Annahmen der Verwaltung über tatsächliche Umstände ergibt, solange nicht davon auszugehen ist, dass solche behördlichen Annahmen die tatsächlichen Verhältnisse zutreffend widerspiegelten.

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Es muss daher nicht näher darauf eingegangen werden, dass der erstmals Pflegegeld bewilligende Widerspruchsbescheid vom 25. April 1996 ohnehin keine tatsächlichen Feststellungen enthält. Überdies lassen auch die in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten enthaltenen - nicht einmal ihren Verfasser ausweisenden - handschriftlichen Notizen keinen nachvollziehbaren Rückschluss darauf zu, aus welchen Gründen und unter der Annahme welcher konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Funktionseinschränkungen auf Seiten des Klägers der Widerspruchsausschuss einen seit April 1995 fortlaufend bestehenden Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in einem Umfang von mehr als 45 Minuten im Tagesdurchschnitt ungeachtet der aktenkundigen MDKN-Gutachten und des Entlassungsberichtes der Rehaklinik Föhrenkamp angenommen haben will.

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Der maßgebliche Vergleich der tatsächlichen Verhältnisse einerseits im Zeitpunkt der Bewilligung des Pflegegeldes mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 1996 und andererseits bei Erlass des Aufhebungsbescheides vom 25. April 2000 und des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2000 lässt keine wesentliche Änderung erkennen. Unter Berücksichtigung der überzeugenden Gutachten des MDKN vom 14. Juni 1995 und vom 04. Januar 1996 und des Entlassungsberichtes der Rehaklinik E. hat der Senat keinen Zweifel, dass ein etwaiger Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege in der Zeit von April 1995 bis April 1996 jedenfalls nicht mehr als zehn Minuten im Tagesdurchschnitt betragen hat, sodass bereits damals die Voraussetzungen auch nur Pflegestufe I erkennbar fehlten.

19

Die Bewilligung von Pflegegeld mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 1996 ist damit als Erlass eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts im Sinne des § 45 SGB X zu qualifizieren. Dementsprechend ist die Beklagte zu seiner Rücknahme nach § 45 Abs. 1 SGB X unter den in den Absätzen 2 bis 4 dieser Vorschrift geregelten weiteren Voraussetzungen berechtigt.

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Auch unter diesem Gesichtspunkt lässt sich der angefochtene Bescheid jedoch nicht aufrechterhalten. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach dieser Vorschrift steht nach dem klaren Gesetzeswortlaut im Ermessen der Beklagten. Dementsprechend muss die Begründung der Entscheidung auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist.

21

Entsprechend Ermessenserwägungen fehlen in den angefochtenen Bescheide jedoch vollständig. Ihnen ist nicht einmal zu entnehmen, dass sich die Beklagte des ihr von Gesetzes wegen eingeräumten Ermessensspielraums überhaupt bewusst war. Bezeichnenderweise wird in den Bescheiden nicht einmal eine Rechtsgrundlage für die Entziehung des Pflegegeldes genannt. Das Gesetz eröffnet dem Senat keine Möglichkeiten, diesen Verwaltungsfehler zu korrigieren und etwa sein Ermessen an die Stelle des bislang nicht ausgeübten Verwaltungsermessens zu setzen.

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Darüber hinaus setzt die Rücknahme eines Bescheides nach § 45 SGB X voraus, dass die nach § 24 Abs. 1 SGB X gebotene Anhörung des Betroffenen auch auf die nach § 45 SGB X maßgeblichen Rücknahmevoraussetzungen erstreckt wird.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.