Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.04.2003, Az.: L 6/3 U 1/99
Anspruch auf Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit (BK) und die Zahlung einer Verletztenrente; Weitergeltung bereits aufgehobener Vorschriften des Sozialrechts; Anerkennung der Krankheit Enzephalopathie, d.h. einer Störung der Hirnfunktion mit typischen Begleiterscheinungen; Eintritt des Versicherungsfalls nach dem Stichtag des 31. Dezembers 1992
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 24.04.2003
- Aktenzeichen
- L 6/3 U 1/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21141
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0424.L6.3U1.99.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 03.12.1998 - AZ: S 11 U 109/98
Rechtsgrundlagen
- § 212 SGB VII
- § 548 RVO
- § 580 RVO
- § 581 RVO
- § 551 Abs. 1 S. 2 RVO
- § 6 Abs. 1 BKV
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Berufskrankheiten sind diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) als solche bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet
- 2.
Die Anerkennung der Krankheit Enzephalopathie erfordert einer Störung der Hirnfunktion mit typischen Begleiterscheinungen.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 3. Dezember 1998 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit (BK) und die Zahlung einer Verletztenrente. Er führt seine Beschwerden (Seh- und Hörstörungen, Kreislaufbeschwerden, starke Kopfschmerzen, Benommenheit, Konzentrationsschwäche) auf die Exposition gegenüber Lösungsmitteln zurück. Der 1950 geborene Kläger absolvierte von August 1967 bis Juli 1970 eine Ausbildung zum Buchdrucker und war anschließend als Buch- bzw. Offsetdrucker tätig. Etwa 1980 entwickelte sich ein Beschwerdebild mit Kopfschmerzen, Benommenheit und Übelkeit. Ende 1985 erfolgte in der C. eine Therapie wegen eines psychosomatischen Beschwerdekomplexes (Bericht Dres. D. vom 17. Dezember 1985). Seit Januar 1989 traten die Beschwerden nach den Beobachtungen des Klägers immer während der Arbeitszeit auf, während es an den arbeitsfreien Wochenenden regelmäßig zu einer Beschwerdebesserung kam. Die Untersuchung bei dem Arzt für Neurologie E. ergab kein psychiatrisch bedeutsames Leiden und keine neurologisch benennbare Erkrankung. Vom 23. April bis 10. Mai 1989 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im Kreiskrankenhaus F ... Dort ergab sich außer einem gehäuft erhöht diastolischen Blutdruckwert kein fassbarer organpathologischer Befund (Arztbrief Dr. G. vom 25. August 1989). Vom 20. Juli 1989 bis 17. August 1989 absolvierte der Kläger eine Kur wegen eines psychovegetativen Syndroms mit Oberbauchbeschwerden (Entlassungsbericht Dr. H. vom 17. August 1989).
Am 18. September 1989 zeigte die Arbeitgeberin des Klägers (I.) eine Berufskrankheit an, die sie auf eine Dauerbelastung mit Lösungsmitteln bei Reinigungsarbeiten an Offsetmaschinen zurückführte. Der Kläger habe mit den Berufsstoffen "Böttcherin Blau", "Böttcherin Gelb" und "Farblöser sehr scharf" Kontakt gehabt. Innerbetrieblich wurde der Kläger zum Foto- bzw. Schriftsetzer umgeschult und an einen anderen Arbeitsplatz umgesetzt. Am 8. März 1990 teilte er der Beklagten mit, dass nach der Umsetzung keine gesundheitlichen Beschwerden mehr aufgetreten seien. Die Beklagte holte den Bericht des TAD vom 11. Februar 1990 und die Stellungnahme der staatlichen Gewerbeärztin Dr. J. vom 23. März 1990 ein. Mit Schreiben vom 5. April 1990 teilte sie dem Kläger mit, dass sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen seiner früheren Tätigkeit und den Beschwerden nicht wahrscheinlich machen lasse. Ab 2. Januar 1991 arbeitete der Kläger als Schriftsetzer bei der Firma K ...
Am 16. Januar 1996 beantragte er beim Arbeitsamt L. Leistungen zur beruflichen Rehabilitation und gab an, seit acht Monaten während der Arbeit wieder unter den selben Beschwerden wie 1989 zu leiden. Bei seiner jetzigen Tätigkeit als Schriftsetzer sei ein Umgang mit Lösemitteln zwar eingeschränkt, aber nicht ausgeschlossen. Nach dem Bericht von Dr. M. vom 8. Mai 1996 liegt beim Kläger ein zur Arbeitsunfähigkeit führendes Lösungsmittelsyndrom vor. Seit dem 1. Juli 1996 bezieht der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Am 23. Januar 1997 beantragte er bei der Beklagten Leistungen wegen der Erkrankung "Lösungsmittelsyndrom". Die Beklagte zog medizinische Unterlagen bei und holte den Bericht zur Arbeitsplatzanalyse des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 4. September 1997 ein.
Mit Bescheid vom 28. Januar 1998 lehnte sie den Antrag auf Anerkennung einer BK mit der Begründung ab, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Beschwerden und der beruflichen Tätigkeit lasse sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründen. Gegenüber der Tätigkeit als Drucker sei bei der jetzigen Tätigkeit als Schriftsetzer von einer geringeren Schadstoffexposition auszugehen. Darüber hinaus hätten keine objektiven Befunde von Krankheitswert i.S.d. BKV nachgewiesen werden können, die typisch für eine Lösemitteleinwirkung wären. Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, dass die Ermittlung des TAD unrichtig seien. Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass in der Druckerei leicht flüchtige Lösungsmittel verwendet würden, die sich auch in den Räumen außerhalb der Druckerei verbreiteten. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 1998 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Stade hat sich der Kläger zur Begründung auf die ihn behandelnden Ärzte Dr. N. und Dr. O. (Arbeitsamt L.) berufen. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 1998 mit der Begründung abgewiesen, der Kläger leide seit seiner Kindheit an diversen subjektiven Befindlichkeitsstörungen. Objektive Symptome für eine BK nach den Ziffern 1302, 1303 und 1306 ließen sich nicht wahrscheinlich machen. Soweit die behandelnden Ärzte des Klägers zu anderen Feststellungen gelangt seien, berücksichtigten diese zu wenig die Feststellungen des TAD über die tatsächliche und objektivierbare Schadstoffkonzentration während der beruflichen Tätigkeit des Klägers. Gegen diesen am 8. Dezember 1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28. Dezember 1998 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Der Kläger hat im Einzelnen dargestellt, mit welchen Arbeitsstoffen er während seines Berufslebens umgegangen ist.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 3. Dezember 1998 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 1998 aufzuheben,
- 2.
festzustellen, dass eine Enzephalopathie des Klägers Folge einer Berufskrankheit ist,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 3. Dezember 1998 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält den Gerichtsbescheid des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Im vorbereitenden Verfahren sind u.a. Befundberichte eingeholt worden von Dr. P. sowie das Gutachten von Dr. Q. vom 26. Mai 2000. Außerdem ist auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten von Prof. Dr. R. vom 7. Dezember 2000 eingeholt worden. Die Beklagte hat dazu die Stellungnahme von Prof. Dr. S. vom 7. Februar 2001 vorgelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes, des Vorbringens der Beteiligten und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch unbegründet, denn der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Im Falle des Klägers liegt eine entschädigungspflichtige BK nicht vor, deshalb hat er auch keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente.
Das Begehren des Klägers richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997 eingetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist.
BKen sind diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung (in der Berufskrankheiten-Verordnung - BKV - ) als solche bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Zu den von der Verordnungsgeberin bezeichneten BKen gehören nach der Nr. 1317 der Anlage zur BKV "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische", die nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens wegen der neurotoxischen Wirkung von Lösemitteln und deren Gemischen als einzige BK ernsthaft in Betracht zu ziehen ist. Der Kläger hat seinen Antrag demgemäß sachdienlich auf die Anerkennung der Krankheit Enzephalopathie, d.h. einer Störung der Hirnfunktion mit typischen Begleiterscheinungen, beschränkt. Denn die im Entlassungsbericht der Diana-Klinik vom 17. Dezember 1985 zusammengefassten und von behandelnden Ärzten auch als MCS bezeichneten verschiedenartigen psychovegetativen Beschwerden und Gesundheitsstörungen des Klägers lassen sich dagegen keiner BK zuordnen. Sie könnten auch nicht i.S.d. § 551 Abs. 2 RVO "wie" eine BK entschädigt werden, weil es ausweislich der den Beteiligten bekannten Auskunft des BMA vom 28. Oktober 1999 keine neuen medizinischen Erkenntnisse über einen Zusammenhang zwischen einem MCS und einer beruflichen Schadstoffexposition gibt.
Es kann offen bleiben, ob der Feststellung einer toxischen Enzephalopathie als BK Nr. 1317 bereits die Stichtagsregelung des § 6 Abs. 1 BKV entgegensteht. Nach dieser Vorschrift kann eine Krankheit nach Nummer 1317 nur als BK anerkannt werden, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist. Im vorliegenden Fall könnte die Stichtagsregelung einer Anerkennung entgegenstehen, weil der Kläger, wie sich auch aus dem zutreffenden Hinweis der Sachverständigen Prof. Dr. R. ergibt, bereits vor 1993 unter denselben Beschwerden litt. Dieser Frage musste der Senat jedoch nicht weiter nachgehen, denn die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach der Nr. 1317 sind nicht erfüllt. Unter Berücksichtigung der Ermittlungsergebnisse des TAD kann zwar davon ausgegangen werden, dass der Kläger während seines Berufslebens über einen Zeitraum von mehreren Jahren verschiedenen Lösemitteln in unterschiedlicher Konzentration ausgesetzt war. Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme ist aber nicht bewiesen, dass bei dem Kläger eine toxische Enzephalopathie besteht.
Der Senat folgt bei dieser Bewertung den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Q., nach dessen Beurteilung keine sicheren Hinweise für eine Hirnleistungsstörung vorliegen. Vielmehr ist nach seinen Feststellungen, die er auf eine umfangreiche Exploration stützt, beim Kläger die Intelligenz bis auf eine altersgemäße Abblassung der Erinnerungsfähigkeit völlig unbeeinträchtigt. Dr. Q. hat in diesem Zusammenhang auch überzeugend darauf hingewiesen, dass es dem Kläger beim Vorliegen einer Hirnleistungsstörung z.B. nicht möglich gewesen wäre, die zwischenzeitlich begonnene Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter aufzunehmen bzw. eine neue partnerschaftliche Beziehung aufzubauen und zu strukturieren. Auch auf den Senat hat der Kläger den Eindruck eines Menschen gemacht, dessen Hirnfunktion in keiner Weise beeinträchtigt ist. Zudem hat Dr. Q. deutlich gemacht, dass es bei einer Lösemittelintoxikation zur einer globalen Schädigung des Großhirns mit allen hier liegenden komplexen integrativen Leistungen kommt. Dagegen sei es wissenschaftlich nicht vorstellbar, dass nach jahrzehntelanger Exposition nur das - hier im Vordergrund stehende - Symptom Kopfschmerz auftrete, während die übrigen komplexen integrativen cerebralen Leistungen voll erhalten blieben.
Die Ausführungen von Dr. Q. stehen in Übereinstimmung mit der Beurteilung durch Prof. Dr. S ... Eine für den Kläger günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Gutachtens der Prof. Dr. R., die eine Enzephalopathie diagnostiziert hat. Denn dieses Gutachten überzeugt den Senat nicht. Die Diagnose einer Enzephalopathie erfordert eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung durch einen erfahrenen Arzt. Darauf hat die Beklagte zu Recht hingewiesen. Prof. Dr. R. ist Arbeitsmedizinerin und hat demgemäß auch keine psychiatrische Untersuchung durchgeführt, obwohl eine solche Untersuchung erforderlich ist, um die Diagnose einer Encephalopathie zu sichern. Sie hat ihre Diagnose ("Encephalopathie Grad II A") vielmehr allein auf die Auswertung eines vom Kläger ausgefüllten Fragebogens gestützt, in dem dieser Angaben zu diversen Befindlichkeitsstörungen gemacht hatte. Das Gutachten enthält auch keine Auseinandersetzung mit den entgegenstehenden - den Senat überzeugenden - Feststellungen in dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten von Dr. Q ...
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.