Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.04.2003, Az.: L 9 U 135/01
Anspruch auf höhere Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung; Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit; Orientierung an Erfahrungswerten; Zurückführung von Beschwerden auf Unfallfolgen; Einholung eines handchirurgischen Gutachtens
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.04.2003
- Aktenzeichen
- L 9 U 135/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21188
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0429.L9U135.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 12.03.2001 - AZ: S 33 U 170/00
Rechtsgrundlage
- § 153 Abs. 2 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit obliegt dem Gericht, das sich in aller Regel an den Erfahrungswerten, wie sie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung üblich sind, orientieren wird.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Berufungsklägers auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der 1934 geborene Berufungskläger war als Werker bei der Firma "D." in Einbeck tätig. Mit Wirkung vom 1. September 1995 bezieht der Berufungskläger Erwerbs-unfähigkeitsrente (EU-Rente) von der Landesversicherungsanstalt Hannover.
Am 13. Oktober 1994 kam es bei versicherter Tätigkeit zu einem Unfall. Insoweit ergibt sich aus dem Durchgangsarztbericht des Chirurgen und Unfallchirurgen Dr. E. vom 13. Oktober 1994, dass es durch das Herunterfallen eines scharfen Stanzteiles auf den rechten Zeigefinger zu einer lappenförmigen Schnittverletzung auf der Streckseite des rechten Zeigefingermittelgliedes gekommen ist. Die Strecksehne war um 1/2 angeschnitten. Die Wunde wurde von Dr. E. versorgt. Insbesondere wurde auch die Sehne genäht. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1994 teilte Dr. E. mit, der Berufungskläger sei ab dem 5. Dezember 1994 wieder arbeitsfähig. Aus einem Nachschaubericht von Dr. E. vom 26. Januar 1995 ergibt sich indessen, dass der Berufungskläger sich dort erneut vorgestellt hatte. Dieser hatte eine neurologische Konsiliaruntersuchung veranlasst und hierbei war ein Carpaltunnelsyndrom diagnostiziert worden. Ein Zusammenhang mit dem Ereignis vom 13. Oktober 1994 hielt Dr. E. für möglich. Diesbezüglich gelangten noch mehrere Berichte des Neurologen Dr. F. zum Vorgang der Berufungsbeklagten. Dieser teilte u.a. in seinem Bericht vom 31. März 1995 mit, der Berufungskläger sei vor 5 Wochen von Dr. E. am Carpaltunnelsyndrom operiert worden. Es lägen keine Sensibilitätsstörungen oder Paresen vor. Sowohl Dr. F. als auch der die Berufungsbeklagte beratende Orthopäde Dr. G. hielten einen Zusammenhang des Carpaltunnelsyndroms mit dem Ereignis vom 13. Oktober 1994 für gegeben.
In einem weiteren Nachschaubericht vom 9. Januar 1996 kam Dr. E. auf Anfrage der Berufungsbeklagten zu dem Ergebnis, ab Eintritt der Arbeitsfähigkeit am 5. Dezember 1994 sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach 20 v.H. einzuschätzen. Sodann ließ sich die Berufungsbeklagte ein Zusammenhangsgutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. H. vom 23. April 1999 erstatten. Anlässlich der Untersuchung durch Dr. H. gab der Berufungskläger an, die Schmerzen seitens der Unfallverletzung seien nunmehr verschwunden. Die Kribbelpa-raesthesien hätten sich deutlich gebessert. Dr. H. stellte neben den Unfallverletzungen sowohl an der linken als auch an der rechten Hand des Berufungsklägers eine Dupuytren'sche Kontraktur fest. Weiter diagnostizierte Dr. E. an der rechten Hand des Berufungsklägers einen Morbus Sudeck. Für das auch nach Ansicht von Dr. H. unfallbedingte Carpaltunnelsyndrom hielt er eine MdE in Höhe von 30 v.H. bis zu drei Monate nach der Operation für angemessen. In einem unfallchirurgischen Zusatzgutachten nach Aktenlage stellte Dr. E. fest, unter Berücksichtigung des Morbus Sudeck liege nunmehr noch eine MdE in Höhe von 10 v.H. bei dem Berufungskläger vor.
Sodann holte die Berufungsbeklagte noch eine Stellungnahme des sie beratenden Arztes, des Unfallchirurgen Prof. Dr. I., vom 12. August 1999 ein. Dieser hielt im Hinblick auf das nunmehr infolge der Operation beseitigte Carpaltunnelsyndrom nur die Feststellung einer MdE in Höhe von 20 v.H. für angemessen. Hinsichtlich des Morbus Sudeck hielt Prof. Dr. I. in Übereinstimmung mit Dr. E. die Feststellung einer MdE in Höhe von 10 v.H. für richtig.
Mit Bescheid vom 13. Dezember 1999 stellte die Berufungsbeklagte fest, der Berufungskläger habe wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 13. Oktober 1994 Anspruch auf eine Verletztenrente. Die Rente beginne mit Wirkung vom 5. Dezember 1994, da dies der Tag nach Wegfall der unfallbedingten Arbeitunfähigkeit sei. Die Rente ende mit dem 14. Mai 1995 und werde nach einer MdE in Höhe von 20 v.H. festgestellt. Darüber hinaus bestehe kein Rentenanspruch, da eine MdE in rentenberechtigender Höhe nicht mehr vorliege. Als Unfallfolgen stellte die Berufungsbeklagte fest:
"Carpaltunnelsyndrom nach Schnittverletzung des rechten Zeigefingers mit Strecksehnenbeteiligung; Schwellung der rechten Hand; Streck- und Beugedefizit der Fingergelenke rechts"
Als Unfallfolgen erkannte die Berufungsbeklagte nicht an:
"geringgradige Dupuytren'sche Kontraktur beidseits".
Auf den Widerspruch des Berufungsklägers, zu dessen Begründung er ein Attest des Allgemeinmediziners Dr. J. beifügte, holte die Berufungsbeklagte erneut eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes, des Unfallchirurgen Prof. Dr. I., vom 21. Juli 2000 ein. Dieser hielt unter Hinweis auf die unfallmedizinische Literatur und die nicht komplette Lähmung des Nervus medianus die Zubilligung einer MdE in Höhe von 20 v.H. unter Einbeziehung des Morbus Sudeck für gerechtfertigt. Die Gewährung sei bis zum 16. Juli 1995 vertretbar.
Mit weiterem Bescheid vom 25. September 2000 nahm die Berufungsbeklagte ihren Bescheid vom 13. Dezember 1999 teilweise zurück und gewährte dem Berufungskläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. auch für die Zeit vom 15. Mai 1995 bis zum 16. Juli 1995. Ansonsten hielt sie ihren Bescheid aufrecht. Dies wurde durch im Übrigen zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2000 bestätigt.
Am 1. November 2000 ist Klage erhoben worden.
Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 12. März 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf hingewiesen, das unfallbedingte Carpaltunnelsyndrom des Berufungsklägers sei zwischenzeitlich abgeheilt. Für die verbliebene Streck- und Beugehemmung der Finger der rechten Hand, die auch zu einem inkompletten Faustschluss geführt habe, und den nunmehr vorliegenden Morbus Sudeck ließe sich keine rentenberechtigende MdE feststellen.
Gegen den - den Bevollmächtigten des Berufungsklägers am 15. März 2001 zugestellten - Gerichtsbescheid ist am 9. April 2001 Berufung eingelegt worden. Zu deren Begründung beruft sich der Berufungskläger auf das Gutachten von Dr. H ...
Der Berufungskläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Hildesheim vom 12. März 2001 aufzuheben und den Bescheid der Berufungsbeklagten vom 13. Dezember 1999 in der Gestalt des Abhilfebescheides vom 25. September 2000 und des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2000 abzuändern,
- 2.
die Berufungsbeklagte zu verurteilen, dem Berufungskläger eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 13. Oktober 1994 zu zahlen.
Die Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre angefochtenen Bescheide und den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Berufungsbeklagten (1 Bd. zum Az. K.) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Das SG hat zutreffend erkannt, dass der Berufungskläger keinen Anspruch auf Zuerkennung einer höheren Verletztenrente auf Dauer hat. Es ist hierbei von den richtigen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen ausgegangen und hat mit nachvollziehbaren Erwägungen und zutreffend seine Entscheidung begründet. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe des Ge-richtsbescheides vom 12. März 2001 Bezug genommen, § 153 Abs. 2 Sozialge-richtsgesetz (SGG).
Im Berufungsverfahren sind wesentliche neue Gesichtspunkte nicht zu Tage getreten.
Insbesondere lässt sich aus dem Gutachten von Dr. H., auf das sich der Berufungskläger beruft, keine andere Einschätzung der MdE entnehmen. Insoweit hat das SG zu Recht darauf hingewiesen, dass die Einschätzung der MdE letztlich Sache des Gerichts ist, das sich in aller Regel an den Erfahrungswerten, wie sie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung üblich sind, orientieren wird. Daher geht auch der Senat in Auswertung der unfallversicherungsrechtlichen Literatur davon aus, dass die Verletzung des Berufungsklägers nach Ausheilung des operierten Carpaltunnelsyndroms keine rentenberechtigende MdE von 20 v.H. mehr erreicht. Bei dem Berufungskläger ist lediglich eine endgradige Beuge- und Streckhemmung der Finger der rechten Hand festzustellen. Diese ist indessen nicht allein auf die Unfallfolgen, sondern auch auf die beginnende Dupuytren'sche Erkrankung zurückzuführen. Selbst wenn dies aber außer Acht gelassen wird, so rechtfertigt diese endgradige Einschränkung der Beweglichkeit sowie der ebenfalls unfallbedingte Morbus Sudeck nicht die Zuerkennung einer rentenberechtigenden MdE (vgl. hierzu etwa die bei Ricke in Kasseler Kommentar zum Sozial-versicherungsrecht, SGB VII, § 56 Rdnr. 69 und bei Izbicki/Neumann/Spohr, Un-fallbegutachtung, 9. Aufl. 1992, S. 132 genannten Vergleichswerte). So geht insbesondere Izbicki/Neumann/Spohr a.a.O. davon aus, eine rentenberechtigende MdE liege erst dann vor, wenn eine stärkere Beuge- oder Streckhemmung aller Gelenke vorliege. Eben dies ist aber bei dem Berufungskläger von Dr. H., auf den er sich zur Begründung seiner Berufung bezieht, gerade nicht diagnostiziert worden. Auch dieser Gutachter geht nur von einer endgradigen Einschränkung der Beweglichkeit aus.
Angesichts dieser von allen Ärzten letztlich übereinstimmend erhobenen Befunde hat sich der Senat auch nicht gedrängt gesehen, der Anregung des Berufungsklägers, ein handchirurgisches Gutachten einzuholen, nachzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.