Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 29.08.2003, Az.: L 5/9 V 31/00

Anspruch auf Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge und Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 40 von Hundert; Innerer Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zum Unfall führenden Verhalten, sowie zwischen diesem und dem Unfall und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen; Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung; Beweis der Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit; Erwerbsminderung wegen Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf weniger als drei Stunden Erwerbstätigkeit täglich und mindestens 20 von Hundert; Anspruch auf Höherbewertung der MdE wegen wesentlicher Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
29.08.2003
Aktenzeichen
L 5/9 V 31/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21191
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0829.L5.9V31.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - AZ: S 12 V 9/97

Redaktioneller Leitsatz

Beweismaßstab für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeitl und einer Gesundheitsstörung ist grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Das Vorliegen der bei der medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilung des Kausalzusammenhangs zu Grunde zu legenden Tatsachen muss dagegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Gewissheit) erwiesen sein.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge und die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 40 v.H. nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Bei dem im Jahre 1924 geborenen Kläger wurden Gesundheitsstörungen im Bereich des linken Fußes und Beines als Schädigungsfolgen nach dem BVG erstmals mit Wirkung vom 1. Oktober 1950 nach einer MdE um 40 v.H. anerkannt (Bescheid vom 3. April 1951). Die Schädigungsfolgen wurden mit Wirkung vom 9. Juli 1955 folgendermaßen anerkannt und die MdE ab diesem Zeitpunkt auf 30 v.H. herabgesetzt (Bescheid vom 3. November 1955):

3

Teilversteifung des linken Fußgelenkes. Arthrosis deformans des Fußgelenkes, Hammerzehenstellung, Verkürzung des Beines um 1 cm. Reizlose Narben im Bereich des inneren und äußeren Knöchels.

4

Diesen Feststellungen lag das versorgungsärztliche Gutachten des Dr. E. vom 29. Juli 1955 zu Grunde.

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Der Kläger stellte danach zahlreiche Anträge auf Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen, die nach versorgungsärztlichen Begutachtungen jeweils erfolglos beschieden wurden (zuletzt Bescheid vom 7. Januar 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. September 1993).

6

Am 19. August 1996 stellte der Kläger einen erneuten Antrag bei dem Beklagten. Er vertrat die Ansicht, dass eine retropatellare Arthrose im linken Knie nunmehr auch Folge der Kriegsbeschädigung sei. Nachdem Dr. F. in dem versorgungsärztlichen Gutachten vom 3. Dezember 1996 dieses Leiden als altersbedingt und die anerkannten Schädigungsfolgen als unverändert bewertet hatte, lehnte der Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 11. Dezember 1996). Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb unter Berücksichtigung der ärztlichen Stellungnahme des Dr. G. vom 10. März 1997 erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. März 1997).

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Hiergegen hat der Kläger am 2. April 1997 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben. Unter Vorlage der ärztlichen Bescheinigung des Dr. H. vom 19. Mai 1997 hat der Kläger weiterhin vorgetragen, dass die retropatellare Arthrose im linken Knie Folge der Kriegsbeschädigung sei. Auch habe sich eine posttraumatische Arthrose im linken Fuß verschlimmert. Deshalb hat der Kläger während des Klageverfahrens einen erneuten Antrag bei dem Beklagten im April 1998 gestellt, den der Beklagte abgelehnt hat (Bescheid vom 9. November 1998). Nach Vorlage der im Auftrage der Beklagten erteilten ärztlichen Stellungnahme der Dr. I. vom 18. August 1997 und nach Einholung des gerichtlichen Sachverständigengutachtens des Dr. J. vom 12. Februar 1998 nach Aktenlage hat das SG die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. April 2000, abgesandt am 19. Juni 2000).

8

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die retropatellare Arthrose im linken Kniegelenk eine altersbedingte, schädigungsunabhängige Gesundheitsstörung sei. Hierfür hat es sich auf die Feststellungen des Dr. F. vom 3. Dezember 1996 und auf die des gerichtlichen Sachverständigen vom 12. Februar 1998 bezogen. Infolge der anerkannten Schädigungsfolgen sei das linke Bein nur geringfügig fehlbelastet worden. Dies zeige sich insbesondere anhand der aktuellen Untersuchungsbefunde des linken Beines und der guten Kompensation durch eine orthopädische Versorgung. Auch sei eine Höherbewertung der anerkannten Schädigungsfolgen im Bereich des linken Fußes und Beines im Sinne von § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht festzustellen. Denn insbesondere die Beinverkürzung, die Bewegungseinschränkung und die Muskelverschmächtigungen am linken Unterschenkel seien im Vergleich zu den Befunden aus dem Jahre 1955 unverändert. Die vom Kläger vorgetragenen Schmerzzustände resultierten im Wesentlichen aus einer schicksalsmäßigen neurologischen Erkrankung des Klägers, auf Grund derer der Kläger in seiner Gehfähigkeit erheblich eingeschränkt sei. Die von Dr. J. in Erwägung gezogene Bewertung der MdE in Höhe von 40 v.H. auf Grund wiederkehrender arthrotischer Reizerscheinungen stünden nicht im Einklang mit den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), 1996. Eine besondere Schmerzsituation, die eine Höherbewertung rechtfertige, liege auf Grund der bei Dr. F. gemachten Angaben des Klägers nicht vor. Im Übrigen seien die Schmerzzustände in Verbindung mit der gravierenden neurologische Erkrankung des Klägers zu bringen.

9

Hiergegen richtet sich die am 22. Juni 2000 eingelegte Berufung. Der Kläger meint weiterhin, dass sich die retropatellare Arthrose im linken Kniegelenk schädigungsbedingt verschlimmert habe. Hierfür hat er sich erneut auf die Untersuchungsbefunde des Dr. H. aus 1997 und auf die des Prof. Dr. K. der Orthopädischen Klinik, L., aus dem Jahre 1995 berufen. Im Übrigen ist er der Auffassung, dass die MdE in derselben Höhe wie bei der erstmaligen Anerkennung im Jahre 1951 festgesetzt werden müsse.

10

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Braunschweig vom 28. April 2000, den Bescheid vom 11. Dezember 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 1997 und den Bescheid vom 9. November 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass die Gesundheitsstörung "retropatellare Arthrose im linken Knie" Schädigungsfolge im Sinne des BVG ist,

  3. 3.

    den Beklagten zu verpflichten, ihm ab 1. August 1996 Beschädigtenversorgung nach einer MdE um mindestens 40 v.H. zu gewähren.

11

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich hierfür auf die ärztliche Stellungnahme des Dr. M. vom 27. August 2001.

13

Nachdem der Kläger ausschließlich den behandelnden Orthopäden Dr. H. von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden hat, hat der Senat dort Befundberichte vom 13. Juli 2001 und vom 11. Juni 2003 eingeholt.

14

Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigten-Akten des Versorgungsamtes Braunschweig (N.) und die Schwerbehinderten-Akte (O.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält.

16

Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Neufeststellung einer weiteren Schädigungsfolge abgelehnt und eine wesentliche Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen verneint. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten erweisen sich als rechtmäßig. Das SG hat den Bescheid vom 9. November 1998 zutreffend in das Klagverfahren einbezogen (§ 96 SGG ).

17

Der gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässige Feststellungsantrag ist unbegründet, weil die retropatellare Arthrose im linken Kniegelenk nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in einem kausalen Zusammenhang zu der wehrdienstbedingten Schädigung steht (§ 1 Abs. 3 BVG). Hierfür wird auf die zutreffenden Ausführungen des SG Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG). Darüber hinaus haben die im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichte des Dr. H. und der Bericht des Prof. Dr. K. keine neuen Erkenntnisse ergeben, die eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten.

18

Sowohl Dr. F. wie auch Dr. J. bestätigten nach Auswertung der Röntgenbefunde altersentsprechende Veränderungen in beiden Kniescheibengleitlagern. Das Bewegungsausmaß dieser Gelenke war nahezu frei. Im linken Kniegelenk zeigte sich darüber hinaus eine geringfügige Kniegelenksarthrose, die beide Ärzte auf einen altersbedingten Verschleißprozess zurückführten. Soweit der Kläger meint, die vom linken Knie ausgehenden Schmerzzustände seien auf eine schädigungsbedingte Fehlbelastung des linken Beines zurückzuführen, widersprachen beide Mediziner dieser Meinung überzeugend. Auch die Fehlbelastung wurde von beiden Ärzten als geringfügig bezeichnet. Objektiviert werden konnte dies anhand nicht wesentlich veränderter Befunde im Bereich des linken Unterschenkels, anhand einer unveränderten Beinbeweglichkeit bzw. Beinverkürzung. Dr. J. stellte zudem einen Zusammenhang zu der langjährigen, schicksalsmäßigen neurologischen Erkrankung des Klägers her. Die halbseitige Lähmung bedingt ein weit gehend ataktisches Gangbild; sie zwingt den Kläger zur Benutzung des Rollstuhls außerhalb seiner häuslichen Umgebung und hat insgesamt zu einer Verschlimmerung des Schmerzzustandes des Klägers geführt.

19

Der zu 3. gestellte Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag auf Höherbewertung der MdE in Höhe von mindestens 40 v.H. ist ebenfalls nicht begründet. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 3. November 1955 vorgelegen haben, liegt nicht vor. Die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X lassen sich daher nicht feststellen. Entgegen der Auffassung des Klägers kommt es hierbei nicht auf die Höhe der MdE an, wie sie erstmals im Bescheid vom 3. April 1951 festgesetzt worden war. Denn der Bescheid vom 3. November 1955 hat diesen Erstbescheid wirksam und bestandskräftig abgeändert. Seit dem 9. Juli 1955 beträgt die MdE nach wie vor 30 v.H. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen im Vergleich zu diesem Bescheid liegt nicht vor. Diese Einschätzung entspricht den AHP, die als Ergebnis langjähriger medizinischer Erfahrungen wie antizipierte Sachverständigengutachten heranzuziehen sind und die der Gleichbehandlung aller Versicherten dienen (vgl. BSGE 72, 285). Auch für diese Bewertung sind die Befunde des Dr. F. und des Dr. J. zu Grunde zu legen, die beide eine wesentliche Zunahme der Beinverkürzung, der Bewegungseinschränkungen und der Muskelverschmächtigungen im linken Unterschenkel nicht feststellen konnten. Dies zeigte sich insbesondere auch anhand einer vergleichenden Bewertung der Röntgenaufnahmen. Darüber hinaus war der Kläger weder im erst- noch im zweitinstanzlichen Verfahren bereit, sich weiter gehend untersuchen zu lassen. Auch die im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichte des Dr. H. und der Bericht des Prof. Dr. K. haben nichts Neues erbracht. Sie bestätigen lediglich bereits bekannte Diagnosen.

20

Anders als Dr. J. meint, können die Schädigungsfolgen nicht bereits deshalb mit einer MdE in Höhe von 40 v.H. bewertet werden, weil der Kläger an arthrotischen Reizerscheinungen leidet. Wie das SG zutreffend festgestellt hat, rechtfertigen diese Schmerzen keine Höherbewertung der MdE. Nach den AHP (S. 152) rechtfertigt eine komplette Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenkes in günstiger Stellung eine MdE in Höhe von 30 v.H.; in ungünstiger Stellung eine MdE in Höhe von 40 v.H. Letzteres liegt bei dem Kläger nicht vor, da er an einer Teilversteifung des linken Fußgelenkes leidet. Die in den AHP angegebenen Werte schließen die üblicherweise mit diesen Funktionsbeeinträchtigungen vorhandenen Schmerzen mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände (AHP S. 33). Die vorliegenden medizinischen Befunde lassen auf eine besondere Schmerzsituation nicht schließen. Ungeachtet dessen hat die schicksalsmäßige halbseitige Lähmung des Klägers nicht unerheblich zu der Schmerzsituation des Klägers beigetragen.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

22

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).