Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 20.08.2003, Az.: L 4 KR 223/02

Anspruch auf den behindertengerechten Umbau des Familienfahrzeugs mit einem Kassettenlift; Erkrankung eines Kindes an Trisomie 2q, einer schweren psychomotorischen Retardierung, einer hypotonen Tonusregulationsstörung und an Schwerhörigkeit; Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 sowie der Merkzeichen "G", "H" und "AG"; Fortbewegung mit Hilfe eines Rollstuhls, wobei der Transport zur Schule durch den Schulträger sichergestellt wird; Umfang des gesetzlichen Anspruchs auf Hilfsmittel; Erforderlichkeit des beantragten Hilfsmittels

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.08.2003
Aktenzeichen
L 4 KR 223/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20352
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0820.L4KR223.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - AZ: S 6 KR 11/02

Redaktioneller Leitsatz

Soweit der Transport eines körperlich behinderten Kindes zur Schule durch den Schulträger sichergestellt wird, reicht für die Erschließung des körperlichen Freiraums des Kindes grundsätzlich der Rollstuhl aus. Auf die Erschließung eines darüber hinausgehenden Freiraums durch Beförderung in einem Kraftfahrzeug hat das versicherte Kind keinen Anspruch.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft den behindertengerechten Umbau eines Mercedes Vito mit einem Kassettenlift.

2

Die Klägerin ist im August 1995 geboren und leidet an einer Trisomie 2q, einer schweren psychomotorischen Retardierung, einer hypotonen Tonusregulationsstörung und an Schwerhörigkeit. Bei ihr sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen "G", "H" und "AG" anerkannt. Sie ist seitens der Beklagten mit einem Sitzschalensystem mit Panda-Untergestell (spezielle Rollstuhlanfertigung) und einem behindertengerechten Autokindersitz versorgt. Im Juni 2001 beantragte die Mutter der Klägerin für diese den behindertengerechten Umbau des vorhandenen Mercedes Vito auf Grund einer Verordnung durch Dr. D. vom 18. Juni 2001. In der Verordnung hieß es, dass das Hilfsmittel erforderlich sei wegen einer schweren spastischen Tetraparese und einer geistigen Behinderung der Klägerin. Dem Antrag war ein Angebot der Firma E. vom 12. Juni 2001 beigefügt, nach dem der Umbau mit einem Gesamtbetrag von 9.955,12 Euro veranschlagt wurde.

3

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Juni 2001 die Gewährung des beantragten Hilfsmittels ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Benutzung des Pkw und die damit verbundene Vergrößerung des persönlichen Freiraums kein Grundbedürfnis darstelle und demnach der behindertengerechte Umbau nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen sei. Die vorhandenen Hilfs-mittel (Sitzschale mit Untergestell, Rollstuhl und Autokindersitz) reichten aus, um die Grundbedürfnisse der Klägerin zu decken.

4

Mit ihrem Widerspruch vom 25. Juli 2001 machte die Klägerin geltend, dass die vorhandenen Hilfsmittel nicht ausreichten, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Der Kindersitz sei im Fahrzeug der Lebenshilfe festgeschraubt, mit dem sie täglich ihren Schulweg zurücklege. Der Sitz werde lediglich zu Urlaubs- und Ferienzeiten ausgebaut und dann in das Privatfahrzeug eingebaut. Für alle anderen Alltagsfahrten stehe kein Hilfsmittel zur Verfügung.

5

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 6. Dezember 2001 zurück. Sie erläuterte, dass die Klägerin bereits ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt sei.

6

Mit ihrer am 9. Januar 2002 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Sie hat geltend gemacht, dass sie nicht laufen, sondern nur sitzen könne. Stehen gelänge nur mit einem Stehständer und Fortbewegung nur mit Hilfe eines Rollstuhls. Auf Grund des zunehmenden Gewichts und der Größe der Klägerin sei in absehbarer Zeit ohnehin nur noch ein Transport im Rollstuhl möglich. Der Umbau des vorhandenen Familienfahrzeugs sei vor diesem Hintergrund unerlässlich. Dem hat die Beklagte entgegen gehalten, dass die Klägerin bereits mit einem Reha-Mobil "Kangoo" ausgestattet sei.

7

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 22. Oktober 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es dargelegt, dass das Auto fahren nicht zu den Grundbedürfnissen der gesetzlich Krankenversicherten gehöre. Dementsprechend bestände auch kein Anspruch darauf, ein vorhandenes Fahrzeug entsprechend den gegebenen Behinderungen umzurüsten.

8

Gegen diesen den Bevollmächtigten der Klägerin am 28. Oktober 2002 zugestellten Gerichtsbescheid ist am 25. November 2002 rechtzeitig Berufung eingelegt worden. Mit der Berufung wird geltend gemacht, dass die Klägerin als Kind einen Anspruch auf einen im Vergleich zu Erwachsenen erweiterten Freiheitsraum habe. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) in vielen Entscheidungen betont. Diesem Anspruch könne nur mit Hilfe des behinderten gerechten Umbaus des Familienfahrzeuges entsprochen werden.

9

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 22. Oktober 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, den behindertengerechten Umbau des Mercedes Vito entsprechend dem Angebot der Firma E. vom 12. Juni 2001 zu übernehmen.

10

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung und die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.

12

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes die Mutter der Klägerin in dem Erörterungstermin vor der Berichterstatterin am 12. Mai 2003 zur Sache angehört. Auf die Niederschrift vom gleichen Tage wird Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Über die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 Ziffer 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG- statthafte, form- und fristgerecht eingelegte, mithin zulässige Berufung konnte der Senat mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (vgl. § 124 Abs. 2 SGG).

15

Das Rechtsmittel ist unbegründet.

16

Das SG und die Beklagte haben zu Recht entschieden, dass die Klägerin nicht beanspruchen kann, dass das vorhandene Familienfahrzeug Mercedes Vito entsprechend dem Angebot der Firma E. vom 12. Juni 2001 behindertengerecht umgebaut wird.

17

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch -SGB V- haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V u.a. die Versorgung mit Hilfsmitteln. Versicherte haben gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Kör-perersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Gem. § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

18

Der Senat hat bereits entschieden, dass es bei den Umbauanteilen für die behindertengerechte Ausstattung eines Kraftfahrzeuges nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt (vgl. Urteil vom 22. März 2000, Az.: L 4 KR 59/99). Bei diesen handelt es um spezielle Geräte bzw. Umbauanteile, die für die besonderen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt und hergestellt worden sind oder von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend benutzt werden. Diese sind grundsätzlich nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen (vgl. BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 27).

19

Die Umbauanteile sind auch nicht durch eine Rechtsverordnung des Bundesministers für Gesundheit nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen.

20

Bei den Umbauanteilen für die behindertengerechte Ausstattung des Fahrzeuges der Familie der Klägerin handelt es sich damit - bezogen auf den individuellen Bedarf der Klägerin - grundsätzlich um ein in Betracht kommendes Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung im Sinne der 2. Alternative des § 33 Abs. 1 SGB V. Das BSG hat bereits entschieden, dass die behindertengerechte Ausstattung eines Kraftfahrzeuges zwar weit gehend die beeinträchtigte Funktion der Gliedmaßen ausgleiche, sie setze aber nicht unmittelbar am Körper an, sondern am zu bedienenden Gerät. Dieser mittelbare Ausgleich wäre deshalb nur dann zur Begründung der Leistungspflicht der Krankenkasse ausreichend, wenn er der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dienen würde. Nach ständiger Rechtsprechung gehörten zu derartigen Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die dazu erforderlich Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Information, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfasse. Maßstab sei stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke und behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation und mit Hilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen solle (SozR 3-2500 § 33 Nr. 29). Das BSG betont in ständiger Rechtsprechung darüber hinaus, dass eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme sei (vgl. BSG a.a.O.).

21

Im Hinblick auf das Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" hat das BSG ebenfalls in ständiger Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass dieser nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden werden kann (vgl. Urteil vom 21. November 2002, Az: B 3 KR 8/02 R, Umdruck Seite 4/5; und zuletzt Urteil vom 26. März 2003, B 3 KR 23/02 R, Umdruck Seite 5).

22

Aus den Bekundungen der Mutter der Klägerin im Erörterungstermin vor der Berichterstatterin geht hervor, dass die Klägerin zum Ausgleich ihrer Behinderungen bereits ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt ist. Insbesondere die Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums gelingt mit der Hilfe eines Rollstuhls. Auf die Erschließung eines darüber hinausgehenden Freiraums durch Benutzung eines Kraftfahrzeuges hat die Klägerin hingegen nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG - insbesondere nach dem Urteil vom 26. März 2003, B 3 KR 23/02 R, (S. 7) - keinen Anspruch. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des SGB XI.

23

Auch im Hinblick auf den Schulbesuch der Klägerin ist das beantragte Hilfsmittel nicht erforderlich. Nach § 114 des Niedersächsischen Schulgesetzes hat die Klägerin für den Besuch der Behindertenschule einen Anspruch auf Beförderung durch den Schulträger. Aus den Bekundungen der Mutter der Klägerin geht hervor, dass dieser Transport durch die Bediensteten der Lebenshilfe auch sichergestellt wird. Soweit sie erläutert hat, dass es gelegentlich vorkomme, dass die Lebenshilfe die Beförderung im Winter bei schlechten Wetterverhältnissen ablehne oder die Klägerin gelegentlich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig von der Schule abgeholt werden müsse, vermag daraus gegen die Krankenkasse kein Anspruch darauf begründet zu werden, in solchen Fällen durch das eigene Fahrzeug transportiert zu werden. Das Grundbedürfnis des Schulbesuchs ist vielmehr durch die öffentliche Schülerbeförderung sicher gestellt.

24

Nach allem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

26

Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.