Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 01.09.2003, Az.: L 10 RI 384/02
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Anspruch wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit; Mehrstufenschema zur Bestimmung der Wertigkeit des Berufs; Verrichtung körperlich leichter Arbeiten; Erfüllung einer vollschichtigen Tätigkeit; Verweisung auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 01.09.2003
- Aktenzeichen
- L 10 RI 384/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 19923
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0901.L10RI384.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 26.09.2002 - AZ: S 11 RI 56/00
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB VI a.F.
- § 44 SGB VI a.F.
- § 300 Abs. 2 SGB VI
- § 43 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Demjenigen Versicherten, der nicht berufsunfähig ist, steht erst recht keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 26. September 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht.
Der 1939 geborene Kläger war in der Zeit von 1955 bis 1960 als Schiffsbauhelfer und im Anschluss daran bis 1974 in einer Reihe unterschiedlicher Tätigkeiten, möglicherweise nach seinem Vorbringen überwiegend als Schweißer, beschäftigt. Von 1977 bis 1991 war er in einem Imbiss selbstständig tätig, von März 1996 bis November 1997 war er als Taxifahrer beschäftigt. Seither ist er arbeitslos.
Im Februar 1999 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU) unter Bezugnahme auf einen im Vormonat wegen Nichterfüllens der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abgelehnten Rentenantrag. Die Beklagte ließ den Kläger von der Internistin Dr. D. begutachten. Diese Gutachterin diagnostizierte Veränderungen der Lendenwirbelsäule, eine Atemwegserkrankung, Beeinträchtigungen der Knie sowie eine linksseitige Hörminderung, hielt den Kläger gleichwohl für in der Lage, vollschichtig einfache und körperlich leichte Tätigkeiten in gelegentlich wechselnder Körperhaltung ohne Nachtschicht oder besonderen Zeitdruck sowie ohne Bücken, Hocken, Knien oder einseitige Körperhaltungen und ohne Lärmeinwirkungen zu verrichten. Der im Widerspruchsverfahren mit der Erstattung eines Gut-achtens beauftragte Orthopäde E. stellte darüber hinaus Veränderungen auch der Hals- und Brustwirbelsäule fest und empfahl für den Kläger Tätigkeiten vorwiegend im Sitzen. Überkopfarbeiten solle er nicht verrichten. Mit Bescheid vom 29. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2000 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen EU oder BU ab. Trotz der gesundheitlichen Einschränkungen könne der Kläger ihm sozial zumutbare Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben. Tätigkeiten überwiegend im Sitzen könne er nicht mehr verrichten, wie sich bereits daraus ergebe, dass er die Arbeit als Taxifahrer habe aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Darüber hinaus bestehe eine Einschränkung des Gehvermögens. Arbeiten mit Publikumsverkehr könne er ebenfalls nicht mehr verrichten. Das SG hat zunächst Berichte der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen und sodann den Orthopäden Dr. F. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Der Sachverständige hat bei dem Kläger funktionell bedeutsame Störungen nur im Bereich der Brustwirbelsäule festgestellt, den Kläger damit aber für in der Lage gehalten, körperlich leichte bis gelegentlich leichtere Tätigkeiten vollschichtig zu verrichten. Tätigkeiten mit häufigem Bücken, mit einseitigen Belastungen, mit Heben und Tragen von mehr als 5 bis 7 kg sowie mit der Einwirkung von Kälte und Nässe seien ihm nicht mehr zuzumuten.
Insbesondere auf dieses Beweisergebnis gestützt hat das SG die Klage mit Urteil vom 26. September 2002 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger könne noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten verrichten, sodass der Arbeitsmarkt für ihn nicht als verschlossen anzusehen sei. Zur Beurteilung der BU könne er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden.
Gegen das ihm am 19. November 2002 zugestellten Urteil wendet sich die am 12. Dezember 2002 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung weist er darauf hin, dass er entgegen der Auffassung des Sozialgerichtes nicht mehr vollschichtig arbeiten könne.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 26. September 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 29. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2000 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 26. September 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.
Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat erneut einen Befundbericht von dem Orthopäden Dr. G. beigezogen, dem weitere Unterlagen beigefügt waren.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass dem Kläger Rente wegen EU oder BU nach altem Recht oder wegen Erwerbsminderung nach neuem Recht nicht zusteht.
Dem Kläger steht Rente wegen EU oder BU gemäß §§ 44, 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden alten Fassung (a.F.) nicht zu. Die genannten Vorschriften sind gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI weiter anwendbar, soweit der Eintritt eines Leistungsfalles vor dem 1. Januar 2001 zu prüfen ist. Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI a.F., wer eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht ausüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen von mehr als 630,00 DM (seit 1. Januar 2002: rund 322,00 EUR) monatlich nicht erzielen kann. Berufsunfähig ist gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Dies setzt nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschema voraus, dass der Versicherte auch in der gegenüber seinem bisherigen Beruf nächst niedrigeren Stufe der Arbeiterberufe nicht mehr zumutbar arbeiten kann (vgl. nur Urteil des Bundessozialgerichtes - BSG - vom 26. Juni 1990, Az: 5 RI 46/89, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 5). Erwerbs- oder berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI a.F.
Aus den vorgenannten Voraussetzungen der geltend gemachten Renten wird deutlich, dass demjenigen Versicherten Rente wegen EU nicht zusteht, der nicht einmal berufsunfähig ist. Auf Grund des Ergebnisses der im Verwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren durchgeführten medizinischen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger nicht berufsunfähig ist.
Im Vordergrund der Funktionsstörungen des Klägers stehen krankhafte Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule und der Knie. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus der Gesamtheit der über den Kläger bekannt gewordenen medizinischen Erkenntnisse und steht sowohl im Einklang mit dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten ausführlichen Begutachtung als auch der beigezogenen Befundberichte und der von dem Kläger vorgelegten ärztlichen Atteste. Das SG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen jedenfalls noch körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung und unter Witterungsschutz vollschichtig verrichten kann. Nicht zumutbar sind ihm lediglich Tätigkeiten in Zwangshaltungen oder mit einseitigen Belastungen oder mit Heben oder Tragen von mehr als 5 bis 7 kg. Arbeiten unter Lärmeinwirkung oder mit erhöhten Anforderungen an das Hörvermögen soll der Kläger ebenfalls nicht verrichten. Entgegen der von dem Gutachter E. geäußerten Auffassung besteht jedoch kein Anlass, den Kläger auf vorwiegend im Sitzen zu verrichtende Arbeiten zu beschränken. Der Gutachter hat diese Einschränkung in seinem Gutachten nicht näher begründet. Denkbar könnte ein Zwang zum überwiegenden Sitzen allenfalls im Hinblick auf die posttraumatischen Veränderungen an dem linken Knie des Klägers sein. Jedoch ist die Funktion des Gelenkes sowohl bei dem Orthopäden E. als auch bei dem Sachverständigen Dr. F. unbeeinträchtigt gewesen. Immerhin liegt der Unfall auch bereits mehr als 40 Jahre zurück, ohne dass seine Folgen den Kläger in seinem bisherigen Erwerbsleben zu überwiegend im Sitzen zu verrichtenden Tätigkeiten gezwungen hätten.
Insbesondere ergeben sich für den Senat keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Kläger trotz der gesundheitlichen Einschränkungen noch vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Für den Senat ist nämlich nicht nachzuvollziehen, warum der Kläger durch die Gesundheitsstörungen gehindert sein sollte, solche Tätigkeiten auszuüben, die insgesamt mit geringen körperlichen Belastungen verbunden sind, die die Wirbelsäule durch nur geringe Hebe- und Trage- und Gehbelastung und durch Witterungsschutz schonen, vor ständigen Zwangshaltungen bewahren und die darüber hinaus einen gelegentlichen Haltungswechsel ermöglichen. Damit befindet sich der Senat auch in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme. Das Gutachten ist in sich schlüssig und für den Senat insbesondere hinsichtlich der von dem Sachverständigen geäußerten Einschätzung des Restleistungsvermögens nachvollziehbar. Dem stehen insbesondere auch nicht die Atteste und Befundberichte des Dr. G. entgegen, die im Übrigen eine konkrete Einschätzung des Restleistungsvermögens nicht enthalten. Zwar hat Dr. G. eine Fülle von Detaildiagnosen mitgeteilt, Beschreibungen von für die Erwerbsfähigkeit allein bedeutsamen Funktionsstörungen finden sich jedoch nicht, jedenfalls gehen sie nicht über die Feststellungen des Sachverständigen hinaus.
Für die Beurteilung des Berufsschutzes des Klägers ist auf die zuletzt von ihm verrichtete versicherungspflichtige Beschäftigung abzustellen, also auf diejenige als Taxifahrer. Eine förmliche Berufsausbildung oder eine längere Ausbildung ist für die vollwertige Verrichtung einer solchen Tätigkeit nicht erforderlich. Sie ist deshalb jedenfalls unterhalb der Qualifikationsgruppe der oberen Angelernten einzuschätzen. Ausgehend hiervon kann er sozial zumutbar auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, ohne dass die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich wäre (vgl. Beschluss des BSG vom 19. Dezember 1996, Az: GS 2/95, SozR 3-2600, § 43 Nr. 16). Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung, die gleichwohl die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich machten, liegen bei dem Kläger nicht vor.
Für die Prüfung des streitigen Rentenanspruches kommt es nicht darauf an, ob der Kläger wegen der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage und/oder wegen seines Lebensalters etwa keine Chance hat, eine Arbeitsstelle in einer ihm sozial zumutbaren Tätigkeit tatsächlich zu bekommen (vgl. Beschluss des BSG vom 19. Dezember 1996, Az.: GS 2/95, SozR 3-2600 § 43 Nr. 16).
Der Kläger ist auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert i.S. des § 43 SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden neuen Fassung (n.F.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI n.F. ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Da der Kläger, wie bereits ausgeführt, vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, fehlen bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen für die Annahme einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung. Im Hinblick auf die - wie bereits dargelegt - fehlende BU kommt für den Kläger auch nicht die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU gemäß § 240 SGB VI n.F. in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.