Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.08.2003, Az.: L 10 RI 264/02
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit; Zumutbare Arbeit nach Mehrstufenschema; Vorübergehende weitere Minderung der Leistungsfähigkeit; Ausübung einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit; Lösung von höher qualifizierten Tätigkeit; Verweisung auf allgemeinen Arbeitsmarkt ohne konkrete Benennung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 28.08.2003
- Aktenzeichen
- L 10 RI 264/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20034
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0828.L10RI264.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 03.07.2002 - AZ: S 4 RI 188/01
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB VI a.F.
- § 44 SGB VI a.F.
- § 300 Abs. 2 SGB VI
- § 43 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Demjenigen Versicherten steht keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht zu, der keinen Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit hat.
Dem Rentenanspruch steht die Möglichkeit des Versicherten entgegen, bei einem beliebigen anderen Arbeitgeber eine seinem körperlichen Leistungsvermögen angepasste Tätigkeit verrichten zu können.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 3. Juli 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU) zusteht.
Der 1946 geborene Kläger hat in der Zeit ab 1962 eine Berufsausbildung zum Elektromaschinenbauer durchlaufen, diese jedoch ohne Ablegen der Abschlussprüfung abgebrochen. In der Folgezeit hat er in drei jeweils kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen im Metallbereich gearbeitet. Seit 1967 ist der Kläger bei der Firma I. Bandweberei in J. tätig. Er war zunächst als Versandarbeiter und später als Versandvorarbeiter beschäftigt, zuletzt bis etwa 1997 als Versandleiter im Angestelltenverhältnis. Nachdem dieses Arbeitsverhältnis wegen schlechter Auftragslage von dem Arbeitgeber gekündigt worden war, hat der Kläger nach seinem Vorbringen eine andere Arbeitsstelle nicht gefunden und war unter Inkaufnahme einer Einkommenseinbuße bei demselben Arbeitgeber weiter beschäftigt, zunächst als Lagerist, schließlich als Kommissionierer. Bei dieser Tätigkeit hat es sich um eine ungelernte Tätigkeit gehandelt, die neben einem Staplerführerschein nur eine Einweisung von zwei bis drei Wochen voraussetzte. Seit Dezember 2000 ist der Kläger durchgängig arbeitsunfähig.
Im November 2000 beantragte der Kläger die Bewilligung von Rente wegen EU oder BU und nahm zur Begründung auf die beigefügten medizinischen Unterlagen Bezug, wonach bei ihm ein Polymyalgiesyndrom, eine Erkrankung der Lendenwirbelsäule und eine Gonalgie vorlägen. Die Beklagte ließ den Kläger daraufhin von der Internistin Dr. K. begutachten, die Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule und des linken Knies sowie eine CK-Wert-Erhöhung unklarer Ursache feststellte. Sie hielt den Kläger gleichwohl für in der Lage, vollschichtig körperlich mittelschwere Arbeiten mit gewissen weiteren Einschränkungen zu verrichten. Darauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2001 die Gewährung von Rente ab. Der Kläger könne vollschichtig mittelschwere Arbeiten verrichten und sei deshalb weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Er könne auf alle gesundheitlich geeigneten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Er hat sein Begehren aufrecht erhalten und zur Begründung auf einen nervösen Erschöpfungszustand, dauerhafte Schmerzen sowie eine depressive Verstimmung hingewiesen. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte, die schwer Behindertenakte des Versorgungsamtes L. sowie eine Auskunft der Firma I. beigezogen und den Kläger dann von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie M. begutachten lassen. Diese hat die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Angst und eine leichte depressive Störung für eingeschränkt gehalten, ihm aber vollschichtig geistig bis mittelschwere und körperlich leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Haltungswechsel mit gewissen weiteren Einschränkungen zugetraut. Eine Besserung des Gesundheitszustandes könne nur eintreten, wenn die Tätigkeit, die für den Kläger körperlich machbar sei, ihm auch genug Ansehen bringe. Bei Wiederaufnahme der zuletzt verrichteten Tätigkeit sei mit wiederholten Arbeitsunfähigkeitszeiten zu rechnen, wenn das Selbstwertgefühl des Klägers nicht stabilisiert werden könne. Das SG hat darüber hinaus noch das arbeitsamtsärztliche Gutachten des Sozialmediziners N. beigezogen und die Klage dann mit Urteil vom 3. Juli 2002 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Zwar könne er die zuletzt verrichtete Tätigkeit nicht mehr verrichten. Er könne aber noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten verrichten. Berufsschutz habe er nicht, sodass er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ohne das Erfordernis der konkreten Benennung einer Tätigkeit verwiesen werden könne.
Gegen das ihm am 5. August 2002 zugestellte Urteil wendet sich die am 20. August 2002 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers. Er hält daran fest, dass die Voraussetzungen einer Rentengewährung vorlägen. Die Rückkehr an den alten Arbeitsplatz sei wegen der dann täglich empfundenen Kränkung nicht zumutbar. Andere Tätigkeiten könne er nur verrichten, wenn sie sein Selbstwertgefühl stärkten. Er könne daher nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 3. Juli 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2001 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 3. Juli 2002 zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Rentenakte der Beklagten sowie der schwer Behindertenakte des Versorgungsamtes L. Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass dem Kläger Rente wegen EU oder BU nach altem Recht oder wegen Erwerbsminderung nach neuem Recht nicht zusteht.
Dem Kläger steht Rente wegen EU oder BU gemäß §§ 44, 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden alten Fassung (a.F.) nicht zu. Die genannten Vorschriften sind gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI weiter anwendbar, soweit der Eintritt eines Leistungsfalles vor dem 1. Januar 2001 zu prüfen ist. Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI a.F., wer eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht ausüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen von mehr als 630,00 DM (entsprechen rund 322,00 EUR) monatlich nicht erzielen kann. Berufsunfähig ist gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Dies setzt nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschema voraus, dass der Versicherte auch in der gegenüber seinem bisherigen Beruf nächst niedrigeren Stufe der Arbeiterberufe nicht mehr zumutbar arbeiten kann (vgl. nur Urteil des Bundessozialgerichtes - BSG - vom 26. Juni 1990, Az: 5 RI 46/89, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 5). Erwerbs- oder berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI a.F.
Aus den vorgenannten Voraussetzungen der geltend gemachten Renten wird deutlich, dass demjenigen Versicherten Rente wegen EU nicht zusteht, der nicht einmal berufsunfähig ist. Auf Grund des Ergebnisses der im Verwaltungsverfahren durchgeführten medizinischen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger nicht berufsunfähig ist.
Im Vordergrund der Funktionsstörungen des Klägers stehen krankhafte Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule und des linken Knies, eine möglicherweise mit dem erniedrigten CK-Wert in Zusammenhang stehende allgemeine schnelle Erschöpfbarkeit insbesondere bei körperlich schweren Tätigkeiten sowie eine leichte depressive Störung. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus der Gesamtheit der über den Kläger bekannt gewordenen medizinischen Erkenntnisse und steht sowohl im Einklang mit dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten ausführlichen Begutachtung als auch der beigezogenen Befundberichte und der von dem Kläger vorgelegten ärztlichen Atteste. Das von dem Kläger im Termin der mündlichen Verhandlung vorgelegte Attest des Dr. O. ohne Datum gibt keine Veranlassung zu weiterer Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes. Zwar deutet das Attest auf eine Verschlechterung des Zustandes des Klägers hin. Weil diese für Dr. O. jedoch Anlass für die Einleitung einer ambulanten Krankenhaustherapie war, ist zunächst davon auszugehen, dass sie einer Behandlung zugänglich ist und voraussichtlich nur zu einer vorübergehenden weiteren Minderung der Leistungsfähigkeit des Klägers führt. Das SG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen jedenfalls noch geistig bis zu mittelschwere und körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung und unter Witterungsschutz vollschichtig verrichten kann. Nicht zumutbar sind ihm lediglich Tätigkeiten in Zwangshaltungen, Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten oder mit Treppensteigen, mit Bücken, häufigem Knien oder mit Überkopfarbeit.
Insbesondere ergeben sich für den Senat keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Kläger trotz der gesundheitlichen Einschränkungen noch vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Für den Senat ist nämlich nicht nachzuvollziehen, warum der Kläger durch die Gesundheitsstörungen gehindert sein sollte, solche Tätigkeiten auszuüben, die insgesamt mit geringen körperlichen Belastungen verbunden sind, die die Lendenwirbelsäule durch nur geringe Hebe- und Trage- und Gehbelastung schonen und die Halswirbelsäule vor ständigen Zwangshaltungen bewahren und die darüber hinaus für die Wirbelsäule einen gelegentlichen Haltungswechsel ermöglichen. Damit befindet sich der Senat auch in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme. Das Gutachten ist in sich schlüssig und für den Senat insbesondere hinsichtlich der von der Sachverständigen geäußerten Einschätzung des Restleistungsvermögens nachvollziehbar.
Die Frage der BU des Klägers ist im Hinblick auf die von ihm zuletzt dauerhaft ausgeübte Tätigkeit zu prüfen, also diejenige des Kommisionierers. Diese ist der Qualifikationsgruppe der Ungelernten zuzuordnen, denn nach der Auskunft des Arbeitgebers war für die Tätigkeit nur eine bis zu dreiwöchige Einweisung erforderlich. Auf die früher ausgeübte höher qualifizierte Tätigkeit als Versandleiter kann demgegenüber nicht abgestellt werden, weil der Kläger sich von dieser - zwar möglicherweise unfreiwillig - jedenfalls nicht aus gesundheitlichen Gründen gelöst hat. Allein solche Gründe würden den Berufsschutz bestehen bleiben lassen. Ausgehend hiervon kann der Kläger sozial zumutbar auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, ohne dass die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich wäre (vgl. Beschluss des BSG vom 19. Dezember 1996, Az: GS 2/95, SozR 3-2600, § 43 Nr. 16). Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung, die gleichwohl die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich machten, liegen bei dem Kläger nicht vor. Dies gilt selbst, soweit man den von der Sachverständigen M. aufgezeigten Folgerungen im Hinblick auf das Selbstwertgefühl folgt. Danach könnte man allenfalls daran denken, dass der Kläger eine gering qualifizierte Tätigkeit bei der Fa. I. nicht weiter verrichten kann, weil dies etwa seiner psychischen Gesundheit abträglich sein könnte. So weit gehend hat selbst die Sachverständige ihre Forderungen nicht formuliert, wenn sie lediglich darlegt, eine Besserung des Gesundheitszustandes sei nur bei dem Wechsel des Arbeitgebers zu erreichen. Rentenversicherungsrechtlich kommt es darauf aber nicht an. Dem geltend gemachten Rentenanspruch steht bereits die Möglichkeit des Klägers entgegen, bei einem beliebigen anderen Arbeitgeber eine seinem körperlichen Leistungsvermögen angepasste Tätigkeit verrichten zu können. Dass der Kläger dies kann, ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zweifelhaft.
Für die Prüfung des streitigen Rentenanspruches kommt es nicht darauf an, ob der Kläger wegen der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage und/oder wegen seines Lebensalters etwa keine Chance hat, eine Arbeitsstelle in einer ihm sozial zumutbaren Tätigkeit tatsächlich zu bekommen (vgl. Beschluss des BSG vom 19. Dezember 1996, Az.: GS 2/95, SozR 3-2600 § 43 Nr. 16).
Der Kläger ist auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert i.S. des § 43 SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden neuen Fassung (n.F.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI n.F. ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Da der Kläger, wie bereits ausgeführt, vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, fehlen bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen für die Annahme einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung. Im Hinblick auf die - wie bereits dargelegt - fehlende BU kommt für den Kläger auch nicht die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU gemäß § 240 SGB VI n.F. in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.