Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 22.08.2003, Az.: L 5 VG 10/00
Umfang und Bewertung von Schädigungsfolgen; Zuerkennung der Verschlimmerung der schon festgestellten Schädigungsfolgen; Gesundheitsstörungen auf neurologisch/psychiatrischem Gebiet
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 22.08.2003
- Aktenzeichen
- L 5 VG 10/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 21128
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0822.L5VG10.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - AZ: S 18 VG 92/96
Rechtsgrundlagen
- § 48 Abs. 1 SGB X
- § 153 Abs. 2 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Psychische Gesundheitsstörungen können nicht als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungs-recht festgestellt werden, wenn die Beeinträchtigung des Antragstellers nicht durch eine Tätlichkeit entstanden oder verschlimmert worden ist und andere Ursachen nicht sicher ausgeschlossen werden können.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Berufung betrifft Umfang und Bewertung von Schädigungsfolgen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG).
Bei dem am E. geborenen Kläger sind nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zuletzt mit Bescheid vom 30. November 1992 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche "G", "H", "RF", "B" und "BL" festgestellt worden. Als Schädigungsfolgen sind nach dem OEG wegen einer im Jahre 1987 erlittenen Körperverletzung mit Bescheid vom 10. Februar 1989 Sensibilitätsstörung im Gesicht nach traumatischer Jochbeinfraktur rechts, Gehirnerschütterung mit postcommotionellen Beschwerden festgestellt. Die sich daraus ergebende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) war geringer als 25 v.H.
Am 18. Februar 1992 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag. Das Versorgungsamt (VA) forderte Befundberichte des Internisten Dr. F. (mit dem MDK-Gutachten der Frau G. vom 5. Februar 1992 sowie einem Arztbrief des Arztes für Nerven- und Gemütsleiden Dr. H. vom 1. Oktober 1991) und des Radiologen Dr. I. vom 24. August 1992 an. Nachdem der Nervenarzt J. das versorgungsärztliche Untersuchungsgutachten vom 9. September 1992 erstattet hatte, bezeichnete das VA mit Bescheid vom 13. November 1992 die Schädigungsfolgen unter Beibehaltung der MdE um weniger als 25 v.H. neu mit Sensibilitätsstörung und Geschmacksstörung nach traumatischer Jochbeinfraktur rechts.
Der auf Attest des Internisten Dr. F. vom 5. Januar 1993 sowie der Neurologin und Psychiaterin Dr. K. vom 29. Januar 1993 gestützte Widerspruch blieb nach versorgungsärztlicher Stellungnahme des Nervenarztes J. erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. August 1993).
Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 27. August 1993 erhobenen Klage gewandt. Er hat vorgetragen, als weitere Schädigungsfolge sei ein psychisches Leiden festzustellen, was zu einer MdE um mehr als 25 v.H. führen müsse. Seit dem tätlichen Angriff 1987 leide er an therapieresistenten depressiven Verstimmungen in Verbindung mit Angstneurosen und Schlafstörungen, Verfolgungswahn, Alpträumen sowie Schweißausbrüchen.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat Befundberichte der Neurologin und Psychiaterin Dr. K. vom 31. Januar 1994 und des Internisten Dr. F. vom 31. Mai 1994 eingeholt und Entlassungsberichte der L. (Fachkrankenhaus für Psychosomatik, Rehabilitationszentrum für Innere Medizin) in M. vom 23. Juli 1992, 29. Juni 1994, 28. Juli 1998 und 6. September 1999 beigezogen. Ferner hat es Beweis erhoben durch ein nervenfachärztliches Untersuchungsgutachten des Dr. N. vom 30. März 2000. Dem Gutachten folgend hat es durch Urteil vom 8. Juni 2000 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) seien nicht erfüllt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne das psychiatrische Leiden nicht als Schädigungsfolge festgestellt werden, weil es seine Ursache nicht in der im Januar 1987 erlittenen Körperverletzung habe. Der Kläger leide an einem sensitiven bzw. asthenischen Persönlichkeitsprofil. Die vom Kläger allein auf die Gewalttat vom 10. Januar 1987 bezogenen Symptome hätten sich bereits 1978 bis 1985 gezeigt. Dabei sei im Jahre 1981 sogar von Selbstmordphantasien die Rede gewesen. Der Kläger leide nicht an einer posttraumatischen Belastungsstörung, sondern an einer Persönlichkeitsstörung seit frühester Kindheit. Die Gewalttat im Januar 1987 habe sie weder hervorgerufen noch verschlimmert.
Gegen das am 4. Juli 2000 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 3. August 2000 eingegangenen Berufung. Er macht geltend, die Schädigungsfolgen hätten sich nachweisbar verschlechtert. Der erstinstanzliche Sachverständige sei von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Weder habe der Kläger früher Selbstmordphantasien geäußert noch sei er im Januar 1987 in eine Schlägerei verwickelt worden. Vielmehr habe es sich um einen völlig überraschenden einseitigen Angriff auf ihn gehandelt. Gerade dieser Umstand mache dem Kläger verstärkt zu schaffen, zumal die Tätlichkeit in Gegenwart seiner Kinder erfolgt sei.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich dem Sinne nach,
- 1.
das Urteil des SG Hannover vom 8. Juni 2000 und den Bescheid vom 13. November 1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 1993 aufzuheben,
- 2.
"neurotische Depression mit multiplen funktionellen Beschwerden" als weitere Schädigungsfolge festzustellen,
- 3.
den Beklagten zu verpflichten, Versorgung nach einer MdE um mindestens 25 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte tritt dem angefochtenen Urteil bei.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten des VA Hannover (Antragslisten-Nr. O.), die Schwerbehinderten-Akten des VA Hannover (P.) sowie die Streitakten der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hannover (Q.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
II.
Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für entbehrlich hält.
Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Der gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässige Antrag, die Gesundheitsstörungen auf neurologisch/psychiatrischem Gebiet als Schädigungsfolgen festzustellen, ist ebenso unbegründet wie der Antrag, eine Verschlimmerung der bisher schon festgestellten Schädigungsfolgen zuzuerkennen.
Nicht ergänzungsbedürftig hat das SG die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X dargestellt. Nicht zu beanstanden sind seine Ausführungen, dass die psychische Erkrankung des Klägers durch die rechtswidrige Gewalttat vom Januar 1987 weder ausgelöst noch verschlimmert worden ist und dass die Sensibilitätsstörung und Geschmacksstörung nach traumatischer Jochbeinfraktur rechts sich nicht verschlimmert hat. Der Senat schließt sich diesen Ausführungen des SG zur Zurückweisung der Berufung nach eigener Prüfung inhaltlich an, § 153 Abs. 2 SGG. Das SG hat insoweit zutreffend sowohl das erstinstanzlich eingeholte Untersuchungsgutachten des Dr. N. als auch die durch das Untersuchungsgutachten des Herrn J. im Verwaltungsverfahren gewonnenen Befunde ausgewertet. Den Umstand, dass sich der Kläger bereits vor der Gewalttat vom Januar 1987 in psychosomatischer Behandlung befunden hat, hat es anhand des Inhalts der Schwerbehinderten-Akte sowie der in den Akten der LVA Hannover enthaltenen Entlassungsberichte der R. von 1981 und 1985 sowie 1989 gewürdigt. Die damaligen Beurteilungen im Rahmen der mehrwöchigen Klinikaufenthalte des Klägers, insbesondere aber auch das nervenärztliche Untersuchungsgutachten des Dr. H. vom 15. September 1988 stützen die Befunde und Bewertungen durch Herrn J. sowie die des erstinstanzlichen Sachverständigen Dr. N. und des SG. Dr. H. hat in seinem Gutachten von einer ganz massiven somatisierenden Neurose insbesondere mit kardiovaskulären Beschwerden und anhaltender Selbstwertproblematik berichtet. Er hat darauf hingewiesen, dass es anamnestisch vielerlei reaktive Hinweise gebe, die zur Erklärung der neurotischen Symptomatik dienen können. Die in den Jahren 1981/1985 notwendigen Heilverfahren zeigten bereits die neurotische Entwicklung mit mannigfachen Somatisierungstendenzen. Dr. H. hat darauf hingewiesen, dass sie einerseits durch wenig belastbare Konstitution des Klägers und vielerlei reaktive Momente hervorgerufen wurden, insbesondere aber durch die hochgradige myopiebedingte Sehstörung mit mehreren Netzhautablösungen. Die von dem Kläger in der Auseinandersetzung mit dem Gutachten des Dr. N. abgestrittenen Suizidgedanken sind in dem Entlassungsbericht der R. vom 7. Juli 1981 dokumentiert. Dort ist überdies bereits auf die depressiven Verstimmungen mit funktionellen Körperbeschwerden bei einer grundsätzlichen Selbstwertproblematik hingewiesen worden. Zutreffend hat das SG auch auf die Äußerung des Neurologen und Psychiaters Dr. S. in dem Befundbericht vom 23. Juni 1977 im Schwerbehindertenverfahren hingewiesen, in dem vasomotorische Kopfschmerzen bei allgemeiner psychovegetativer Labilität und asthenischer Persönlichkeitsstruktur berichtet worden sind. Schon damals ist eine psychogene Ursache der Kopfschmerzen nicht sicher auszuschließen gewesen. Auch der Entlassungsbericht der Kurklinik T. vom 1. September 1978 weist auf ein erhebliches psychovegetatives Syndrom hin. Die gegen die Ausführung des Sachverständigen Dr. N. gerichteten Angriffe vermögen die Feststellung des SG, dass die psychische Beeinträchtigung des Klägers durch die Tätlichkeit im Januar 1987 weder entstanden noch verschlimmert worden ist, nicht zu erschüttern.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.