Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 05.08.2003, Az.: L 1 RA 53/02

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Berufsunfähigkeit; Berücksichtigung des verbleibenden Restleistungsvermögens; Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen; Beschränkung der Einsatzmöglichkeiten auf leichte Tätigkeiten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
05.08.2003
Aktenzeichen
L 1 RA 53/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19943
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0805.L1RA53.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 31.01.2002 - AZ: S 1 RA 136/99

Redaktioneller Leitsatz

Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liegt dann nicht vor, wenn sich die festgestellten qualitativen Einschränkungen überwiegend schon aus der Beschränkung der Einsatzmöglichkeiten des Arbeitnehmers auf leichte Tätigkeiten ergeben.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig,

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ob der Kläger Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.

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Der 1948 geborene Kläger hat den Beruf des Elektroinstallateurs erlernt und war danach als Elektromonteur beschäftigt. Im Jahre 1981 legte er die Meisterprüfung ab und machte sich bis 1984 selbstständig. Danach war er zwei Jahre lang als angestellter Elektromeister tätig. Zuletzt arbeitete er nach längerer Arbeitslosigkeit nochmals von 1992 bis September 1993 in seinem erlernten Beruf. Seitdem ist der Kläger mehr berufstätig gewesen. Er bezieht Leistungen vom Arbeitsamt.

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Im März 1995 stellte der Kläger einen Rentenantrag wegen bestehender Wirbelsäulenprobleme. Die Beklagte zog einen Entlassungsbericht der Fachklinik D. vom 12. Januar 1994 bei und veranlasste dann eine Untersuchung und Begutachtung des Klägers durch den Orthopäden Dr. E ... Nachdem dieser Sachverständige in seinem Gutachten vom 6. Juni 1995 zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Kläger trotz sich nachteilig auswirkender Veränderungen im Bereich des Bewegungs- und Stützapparates noch vollschichtig leichte körperliche Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen und ohne besondere Belastung der Wirbelsäule unter Schutz vor Nässe und Kälte verrichten könne, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 1995 den Rentenantrag ab.

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Auf den Widerspruch des Klägers hin zog die Beklagte weitere medizinische Unterlagen bei und ließ den Kläger durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. und dem Orthopäden G. untersuchen und begutachten. Nachdem diese Sachverständigen in ihren Gutachten vom 2. August 1996 und 17. März 1997 übereinstimmend zu der Feststellung gelangt waren, dass dem Kläger mittelschwere körperliche Arbeiten ohne Zwangshaltungen vollschichtig zumutbar seien, bewilligte die Beklagte dem Kläger ein Heilverfahren, das in der Zeit vom 27. Juni bis zum Abbruch am 11. Juli 1997 in der H. durchgeführt wurde. Trotz der auch hier diagnostizierten chronischen Lumbalgien bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen und einer bestehenden Spondylolisthesis hielten die Ärzte den Kläger weiterhin für fähig, leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten zu leisten. Dennoch veranlasste die Beklagte ein weiteres Gutachten, in dem die Neurologen und Psychiater Dres. I. unter dem 17. Oktober 1997 zu dem Ergebnis kamen, dass eine Leistungsfähigkeit für mittelschwere körperliche Arbeiten noch vollschichtig gegeben sei. Das Heben und Tragen schwerer Lasten sowie Zwangshaltungen seien jedoch nicht zumutbar. Auch seien Arbeiten im Team nicht angezeigt. Die Beklagte machte sich diese Beurteilung des Leistungsvermögens zu eigen und wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 18. März 1998 zurück. In den Gründen führte sie aus, dass der Kläger zwar nicht mehr in seinem Hauptberuf als Elektroinstallateurmeister vollschichtig tätig sein könne, es bestehe jedoch ein Restleistungsvermögen für aufsichtsführende Tätigkeiten in seinem Berufsbereich. Außerdem seien auch Arbeiten als Kundenberater oder Fachverkäufer für ihn vollschichtig möglich.

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Hiergegen hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Detmold erhoben, die dann an das zuständige SG Hannover verwiesen worden ist. Zur Begründung hat er geltend gemacht, bei der Beurteilung des ihm verbliebenen Leistungsvermögens seien nicht alle Gesundheitsstörungen berücksichtigt und in ihrem Ausmaß nicht zutreffend beurteilt worden. Das SG hat Befundberichte des Arztes für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. J. vom 2. März 2000 sowie des Orthopäden K. vom 13. März 2000 beigezogen. Es hat den Kläger dann durch den Orthopäden Dr. L. untersuchen und begutachten lassen, der in seinem Gutachten vom 8. August 2000 zusätzlich zu den Veränderungen auf orthopädischem Gebiet die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörungen bei narzistischer Persönlichkeitsstörung und einer Tachykardie diagnostizierte. Das Leistungsvermögen hat er dahin gewürdigt, dass der Kläger noch körperlich leichte Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen in geschlossenen Räumen leisten könne. Arbeiten unter besonderen Zeitdruck oder Stress seien nicht möglich, ebenso könne er nicht auf Gerüsten und Leitern arbeiten. Mit diesen Einschränkungen sei der Kläger jedoch vollschichtig einsetzbar. Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Arzt für Neurochirurgie Prof. Dr. M. ein weiteres Gutachten erstattet. In seinem Gutachten vom 9. Mai 2001 hat er die bei dem Kläger festgestellten Gesundheitsstörungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates dahin gewürdigt, dass nur noch leichte Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Schutz vor Nässe und Kälte und mit den schon von den Vorgutachtern aufgeführten weiteren qualitativen Einschränkungen drei Stunden arbeitstäglich möglich seien. Das SG hat diese Feststellungen zum Anlass genommen, den Kläger noch einmal orthopädisch untersuchen und begutachten zu lassen. In seinem Gutachten vom 11. November 2001 ist der Arzt für Orthopädie Dr. N. zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Kläger trotz der von Seiten der Wirbelsäule bedingten Einschränkungen noch vollschichtig leichte Arbeiten im regelmäßigen Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen, überwiegend in temperierten Räumen ganztägig zumutbar seien. Mit Urteil vom 31. Januar 2002 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Gründen im Einzelnen ausgeführt, dass von einem vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers auszugehen sei. Insbesondere könne der Auffassung des gemäß § 109 SGG gehörten Arztes Prof. Dr. M. nicht gefolgt werden, da dieser Sachverständige keine zusätzlichen Befunde erhoben habe, die eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers rechtfertigen würden. Wenn aber von einem vollschichtigen Arbeitseinsatz auszugehen sei, bestehe ein Rentenanspruch nicht. Zwar könne der Kläger nicht mehr im handwerklichen Bereich tätig sein. Er müsse sich aber nach dem höchstrichterlich entwickelten Mehrstufenschema auf die Tätigkeit eines Angestellten mit einer über zwei Jahre dauernden Ausbildung sowie auch auf Tätigkeiten mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren verweisen lassen. Denkbar sei hier eine Tätigkeit als technischer Sachbearbeiter, Auftragssachbearbeiter oder Reklamationssachbearbeiter. Auch ein Arbeitseinsatz in der Qualitätskontrolle innerhalb der Elektroindustrie sei zumutbar.

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Gegen das ihm am 8. Februar 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 7. März 2002 eingelegte Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Er ist der Auffassung, dass eine Gesamtschau der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen und der damit verbundenen Leistungseinschränkungen nur den Schluss zulasse, dass sein Leistungsvermögen aufgehoben sei. Unabhängig davon ist er der Auffassung, dass die bei ihm bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf psychiatrischem Gebiet bisher nicht hinreichend abgeklärt seien. Auch auf orthopädischem Gebiet bestünde weiterer Aufklärungsbedarf.

8

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 31. Januar 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 8. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab 1. April 1995 zu zahlen.

9

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

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Sie hält die angefochtenen Bescheide nach wie vor für zutreffend und verweist ergänzend auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Darüber hinaus ist sie der Auffassung, dass von ärztlicher Seite ein komplettes Leistungsbild des Klägers erstellt worden sei, sodass eine weitere medizinische Sachaufklärung nicht erforderlich erscheine.

11

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatik Dr. O., P., vom 6. März 2003. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das vorgenannte Gutachten Bezug genommen.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil des Vorsitzenden ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten verwiesen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat konnte gemäß §§ 155 Abs. 3, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil des Vorsitzenden ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

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Die gemäß §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.

16

Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, und zwar weder auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU)/Berufsunfähigkeit (BU) nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht (§§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -SGB VI- a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.). Das SG hat in seinem Urteil die hier maßgeblichen Rechtsgrundlagen des alten Rechts geprüft und rechtsfehlerfrei angewendet und auch den medizinischen Sachverhalt aufgeklärt und nachvollziehbar gewürdigt. Es hat sich insbesondere auch mit der Frage der Verweisbarkeit des Klägers in nicht zu beanstandender Weise auseinander gesetzt. Nach allem ist es zu der richtigen Entscheidung gekommen, dass dem Kläger eine Versichertenrente nicht zugesprochen werden kann. Es wird deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Urteil vom 31. Januar 2002 Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG). Das Ergebnis ist auch unter Geltung des neuen Rechts zutreffend, das noch höhere Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rente hält.

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Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte nicht zu Tage getreten. Insbesondere haben sich in medizinischer Hinsicht keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das dem Kläger verbliebene, und vom SG seiner Entscheidung zu Grunde gelegte Leistungsvermögen nicht zutreffend beurteilt worden ist. Vielmehr sind die Feststellungen der im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens und im erstinstanzlichen Verfahren von Amts wegen eingeholten Gutachten bestätigt worden. Insbesondere haben sich auch auf psychiatrischem Fachgebiet keine zusätzlichen Einschränkungen ergeben, die eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers bedingen würden. Zwar hat der vom Senat beauftragte Sachverständige Dr. O. in seinem Gutachten nicht nur eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, sondern auch eine leichte bis allenfalls mittelgradig ausgeprägte depressive Störung festgestellt. Er hat des Weiteren aber nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass der Kläger durch diese zusätzlich diagnostizierten Gesundheitsstörungen nicht gehindert ist, vollschichtig und damit auch in dem von den Vorgutachtern für möglich gehaltenen Umfang tätig zu sein. Diesen Schlussfolgerungen schließt sich der Senat an. Zusätzlich zu den von orthopädischer Seite festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen ist lediglich festzustellen, dass dem Kläger Arbeiten unter besonderer psychischer Belastung, wie Arbeiten im Akkord, am Fließband und an Automaten, nicht mehr zugemutet werden können. Entgegen der von dem Kläger geäußerten Ansicht liegt auch keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Denn die festgestellten qualitativen Einschränkungen ergeben sich überwiegend schon aus der Beschränkung der Einsatzmöglichkeiten des Klägers auf leichte Tätigkeiten.

18

Entgegen der Auffassung des Klägers scheint der medizinische Sachverhalt auch geklärt. Insbesondere sah sich der Senat nicht gedrängt, den Sachverhalt auf orthopädischem Gebiet weiter aufzuklären. Abgesehen davon, dass der Sachverständige Dr. O. die Einholung weiterer Fachgutachten, insbesondere auch auf orthopädischem Fachgebiet, nicht für erforderlich gehalten hat, sind auch für den Senat keine Anhaltspunkte er-sichtlich, die es erforderlich erscheinen ließen, den Kläger, der im Verlaufe dieses Rentenverfahrens mehrfach untersucht und begutachtet worden ist, noch einmal einer Begutachtung zu unterziehen. Arztberichte, aus denen sich neue, bisher nicht berücksichtigte Befunde ergeben würden, liegen nicht vor. Derartige Befunde sind auch vom Kläger nicht konkret benannt oder gar durch medizinische Feststellungen belegt worden. Bei dieser Sachlage besteht die Notwendigkeit einer weiteren medizinischen Sachaufklärung nicht.

19

Nach allem hat das SG zu Recht entschieden, dass der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen nicht erwerbs- oder berufsunfähig ist. Nach dem für die Zeit ab 1. Januar 2001 anzuwendenden Neufassung des SGB VI hat der Kläger erst Recht keinen Rentenanspruch. Denn für die Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung und für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU (§§ 43, 240 SGB VI n.F.) müsste das zeitliche Leistungsvermögen sogar auf weniger als 3 bzw. auf weniger als 6 Stunden pro Tag herabgesunken sein. Eine derartige zeitliche Leistungseinschränkung hat sich jedoch - wie oben dargelegt - nach der umfangreichen medizinischen Aufklärung des Sachverhalts nicht nachweisen lassen.

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

21

Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen.