Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 13.08.2003, Az.: L 3 P 35/02

Anspruch auf weitere Pflegesachleistungen zur Vermeidung von Härten für Pflegebedürftige der Stufe III bis zu einem Gesamtwert von 1.918,00 EUR monatlich ; Auslegung des Begriffs "außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand"; Bestimmung des Pflegeaufwands durch die Art, die Dauer und den Rhythmus der erforderlichen Pflegemaßnahmen; Erbringung der Grundpflege für die Pflegebedürftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflegekräften gemeinsam; Erforderlichkeit der Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität mindestens sieben Stunden täglich, davon wenigstens zwei Stunden in der Nacht; Erforderlichkeit der ständigen Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
13.08.2003
Aktenzeichen
L 3 P 35/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21039
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0813.L3P35.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Aurich - AZ: S 12 P 19/01

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die Pflegekassen können in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten Pflegebedürftigen der Stufe III weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von früher 3.750,00 DM und jetzt 1.918,00 EUR monatlich gewähren, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt.

  2. 2.

    Der Pflegeaufwand wird bestimmt durch die Art, die Dauer und den Rhythmus der erforderlichen Pflegemaßnahmen.

  3. 3.

    Der Pflegeaufwand ist erhöht, wenn die Grundpflege für die Pflegebedürftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflegekräften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden kann oder Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität mindestens sieben Stunden täglich, davon wenigstens zwei Stunden in der Nacht, erforderlich ist.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin ein Anspruch auf Leistungen gemäß § 36 Abs. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) - Härtefallregelung - zusteht.

2

Die im Jahre F. geborene Klägerin, die an einer fortgeschrittenen spastischen Spinalparalyse mit zunehmenden Schluckstörungen leidet, erhält seit Juli 1996 Leistungen nach der Pflegestufe III. Mit Schreiben vom 15. Juli 1999, bei der Be-klagten eingegangen am 20. Juli 1999, beantragte sie eine Höherstufung der Pflegestufe. Die Beklagte beauftragte daraufhin die Pflegefachkraft G. (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen/MDKN) mit der Erstellung eines Pflegegutachtens. Diese kam nach einer Untersuchung der Klägerin am 10. September 1999 zu dem Ergebnis, die Klägerin benötige Hilfe bei der Körperpflege, Ernährung und Mobilität im Umfang von insgesamt 318 Minuten pro Tag. Außerdem sei Hilfe bei der Hauswirtschaft in einem zeitlichen Umfang von 630 Minuten pro Woche erforderlich. Die Kriterien für einen Härtefall nach den Richtlinien der Pflegeversicherung seien noch nicht erfüllt. Die Hilfe bei der Grundpflege erreiche noch nicht die hierfür erforderlichen sieben Stunden täglich, davon zwei Stunden Pflege in der Nacht. Die Pflege an der Person werde auch nicht mit Hilfe von zwei Personen durchgeführt. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 22. Oktober 1999 ab.

3

Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 28. Oktober 1999, bei der Be-klagten eingegangen am 2. November 1999, Widerspruch ein und überreichte im Verlauf des Widerspruchsverfahrens ein von ihrem Ehemann geführtes Pflegetagebuch. Nach diesem erfolgen in der Zeit von 22.00 bis 6.00 Uhr Pflegetätigkeiten mit einem Zeitaufwand von insgesamt einer Stunde. Die Beklagte holte daraufhin ein Kurzgutachten nach Aktenlage durch den MDK-Arzt H. vom 17. Dezember 1999 ein. Dieser vertrat ebenfalls die Auffassung, dass ein Härtefall im Sinne des SGB XI nicht anerkannt werden könne. Nach den vorliegenden Unterlagen sei nicht nachvollziehbar, ob grundsätzlich bei der Körperpflege zwei Pflegepersonen erforderlich seien. Zudem betrage nach dem Pflegetagebuch die nächtliche Pflege nur eine Stunde und nicht wie gefordert zwei Stunden zu unvorhersehbaren Zeiten.

4

Mit Bescheid vom 20. Dezember 1999 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag der Klägerin erneut ab. Hiergegen legte diese am 6. Januar 2000 Widerspruch ein. In dem Widerspruchsverfahren überreichte sie zwei von ihrem Ehemann geführte Pflegetagebücher betreffend die Zeiträume 17. Januar 2000 bis 23. Januar 2000 und 24. Januar 2000 bis 30. Januar 2000, in denen folgender Zeitaufwand für Hilfeleistungen zwischen 22.00 und 6.00 Uhr dokumentiert ist:

1. Woche
17. Januar 200075 Minuten
18. Januar 2000187 Minuten
19. Januar 200081 Minuten
20. Januar 200074 Minuten
21. Januar 200080 Minuten
22. Januar 2000184 Minuten
23. Januar 200072 Minuten
2. Woche
24. Januar 200069 Minuten
25. Januar 2000168 Minuten
26. Januar 200066 Minuten
27. Januar 200077 Minuten
28. Januar 2000173 Minuten
29. Januar 200066 Minuten
30. Januar 2000102 Minuten.
5

Ferner legte die Klägerin die ärztliche Bescheinigung des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. I. vom 2. Februar 2000 vor. Die Beklagte beauftragte erneut den MDK-Arzt H. mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage (vom 24. März 2000). Dieser kam wiederum zu dem Ergebnis, dass die Anerkennung eines Härtefalls nicht gerechtfertigt sei.

6

Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin erneut mit Bescheid vom 28. März 2000 ab, wogegen die Klägerin am 12. April 2000 erneut Widerspruch einlegte. In diesem wies sie u.a. darauf hin, dass die Grundpflege von zwei Personen durchgeführt werde. Wenn eine Schwester der Hauskrankenpflege komme, helfe ihr Ehemann stets bei der Pflege mit. Außerdem betrage der Zeitaufwand für die erforderliche Hilfe mindestens sieben Stunden täglich, wovon zwei Stunden Hilfe in der Nacht erbracht würden. Auf den Widerspruch beauftragte die Beklagte erneut den MDK-Arzt H. mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser vertrat nach einer Untersuchung der Klägerin am 17. Oktober 2000 die Ansicht, dass Hilfe bei der Grundpflege in einem zeitlichen Umfang von insgesamt 415 Minuten pro Tag erforderlich sei. Die Voraussetzungen für einen Härtefall lägen damit nicht vor. Zudem würden nicht zwei Personen stets bei der Grundpflege benötigt. Nach mehrfacher Bestätigung der Pflegeperson seien zwei Personen im Rahmen der Körperpflege regelmäßig nur beim Duschen erforderlich. Zum An-kleiden des gesamten Körpers würden ebenfalls regelmäßig zwei Personen benötigt. Gelegentlich seien auch zum Transfer zwei Personen erforderlich, bei weitem jedoch nicht regelmäßig. Der nächtliche Grundhilfebedarf beschränke sich auf eine einmalige Hilfeleistung zwischen 5.00 und 5.30 Uhr. Zu dieser Zeit würde Flüssigkeit angereicht. Dafür seien auf keinen Fall zwei Stunden anzusetzen. Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2001 - der Klägerin zugestellt am 15. Februar 2001 - wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen.

7

Hiergegen hat die Klägerin am 15. März 2001 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Aurich erhoben. Entgegen der Auffassung der Beklagten liege ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vor. Die notwendige Hilfe bei der Körperpflege, Ernährung oder Mobilität betrage mindestens sieben Stunden täglich, davon auch wenigstens zwei Stunden in der Nacht; in der Zeit zwischen 22.00 und 6.00 Uhr falle mindestens zweimal ein Pflegebedarf an. Für die nächtliche Hilfeleistung sei ein längerer Zeitraum anzusetzen, da sie auf Grund ihrer Erkrankung insbesondere für die Darmentleerung, die in der Regel in den Nachtstunden stattfinde, eine längere Zeit benötige. Zwischen 5.00 und 5.30 Uhr werde ihr entgegen der Aussage im Pflegegutachten nicht nur ein Getränk angereicht. Da ihren Händen jede Greiffähigkeit fehle, bedürfe sie auch beim Trinken der Unterstützung. Hierfür sei eine wesentlich höhere Zeitspanne anzusetzen, da sie auf Grund des gestörten Schluckens deutlich längere Zeit für den Trinkvorgang benötige. Auch im Übrigen sei für die Ernährung ein höherer Zeitaufwand anzusetzen, ebenso wie für die Körperpflege. Diesbezüglich benötige sie auch ständig eine zweite Pflegeperson. Diese müsse sich ständig bereithalten, um unverzüglich und schnell Hilfe zu leisten, falls sich bei ihr Spasmen einstellten. Das SG hat den Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. Kolsch vom 9. Mai 2001 und das Gutachten der Dipl.-Pflegewirtin J. vom 3. Januar 2002 eingeholt. Diese ist zu folgendem Ergebnis gelangt: Der Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Körperpflege, Er- nährung und Mobilität belaufe sich auf 482 Minuten pro Tag. Der Pflegebedarf falle rund um die Uhr, auch nachts, an. Hinzu komme eine vollständige Übernahme der hauswirtschaftlichen Tätigkeiten durch Pflegepersonen mit einem Zeitaufwand von mindestens 90 Minuten täglich. Es liege ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand vor. Die täglich durchzuführenden Pflegemaßnahmen der Grundversorgung überstiegen das übliche Maß weit quantitativ und qualitativ. Die Voraussetzungen der Härtefallregelung seien jedoch nicht erfüllt. Die Grundpflege müsse nicht von mehreren Pflegekräften gemeinsam und zeitgleich erbracht werden. Die Pflegeleistungen bei der Klägerin erfolgten am Tag und in der Nacht durch eine Pflegeperson. Nach Angabe der befragten Personen benötige die Klägerin auch nicht wenigstens zwei Stunden Hilfe in der Nacht. Gegen 23.00 Uhr erfolgten eine Flüssigkeitsaufnahme und eine Lagerung. Die gleiche Handlung erfolge gegen 5.00 Uhr. Die Aufnahme einer kompletten Mahlzeit dauere durchschnittlich 25 Minuten. Eine Lagerung drei Minuten. Selbst wenn die Klägerin daher in der Nacht eine vollständige Mahlzeit einnehme, wäre die Mindestforderung der zwei Stunden nicht erfüllt.

8

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 6. Mai 2002 abgewiesen. Die Voraussetzungen für Leistungen nach der Härtefallregelung gemäß § 36 Abs. 4 SGB XI lägen nicht vor. Die Klägerin habe zwar in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität einen Pflegebedarf von deutlich mehr als sieben Stunden täglich; dieser falle jedoch nicht wenigstens zwei Stunden in der Nacht an. Nach den Feststellungen der Sachverständigen Häseler, denen die Kammer folge, finde bei der Klägerin jeweils um 23.00 Uhr und um 5.00 Uhr eine Flüssigkeitsaufnahme und eine Lagerung statt. Hierfür habe die Sachverständige schlüssig und nachvollziehbar einen Zeitbedarf von drei Minuten bzw. einen Zeitbedarf von unter 25 Minuten angesetzt. Soweit die Klägerin behaupte, darüber hinaus Hilfebedarf für einen nächtlichen Toilettengang zu haben, könne dies im Ergebnis dahinstehen. Die Pflegepersonen hätten dies gegenüber der Sachverständigen nicht bestätigt. Selbst wenn man diesen Hilfebedarf noch hinzurechnen würde, ergäbe sich insoweit lediglich ein zusätzlicher Zeitaufwand von 10 Minuten (Wasserlassen) bzw. 20 Minuten (Stuhlgang). Auch unter Annahme dieses Zeitaufwandes bliebe der nächtliche Hilfebedarf deutlich unter den erforderlichen zwei Stunden. Die Grundpflege für die Klägerin werde auch des Nachts in der Regel durch eine Pflegekraft und nicht notwendigerweise von mehreren Pflegekräften gemeinsam erbracht. Diese Feststellungen der Sachverständigen Häseler stünden im Einklang mit den Feststellungen des MDK, wonach lediglich für das Duschen und vollständige Ankleiden zwei Personen benötigt würden. Auch müsse (nur) bei der Körperpflege eine zweite Person in Rufbereitschaft sein, falls Spasmen aufträten. Anhaltspunkte dafür, dass die in der Nacht erforderlichen Pflegeleistungen nur von zwei Pflegekräften gemeinsam erbracht werden könnten, lägen somit nicht vor.

9

Gegen die ihr am 23. Mai 2002 zugestellte erstinstanzliche Entscheidung hat die Klägerin am 24. Juni 2002, einem Montag, Berufung bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen eingelegt. Ursprünglich hat die Klägerin vorgetragen, dass ihr nächtlicher Pflegebedarf ca. zwei Stunden betrage. Neben der Flüssigkeitsaufnahme und Lagerung sei ein nächtlicher Toilettengang zu berücksichtigen. Hierbei sei zu bedenken, dass sie für das Abführen von Stuhl und Urin wesentlich mehr Zeit benötige als andere Erkrankte. Der Zeitbedarf liege insoweit zum Teil zwischen 45 und 120 Minuten. Außerdem müsse sie auch beim Toilettengang ständig beaufsichtigt werden, da die Gefahr bestehe, dass sie durch Husten oder Ähnliches verrutsche und dann hinfalle. Selbst wenn man unterstelle, dass die Voraussetzungen der Härtefallrichtlinien nicht vorlägen, sei zu prüfen, ob bei ihr eine besondere Härte im Sinne des § 36 Abs. 4 SGB XI bestehe und von den typisierenden Vorgaben der Richtlinien abgewichen werden könne. In diesem Zusammenhang weist die Klägerin darauf hin, dass nach dem Gutachten der Frau Häseler ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand vorliege und die täglich durchzuführenden Pflegemaßnahmen der Grundversorgung in den Bereichen der Körperpflege, Ernährung und Mobilität das übliche Maß quantitativ und qualitativ weit überstiegen. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände müsse davon ausgegangen werden, dass ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand im Sinne des Gesetzes vorliege. Mit Schriftsatz vom 07. August 2003 hat die Klägerin mitgeteilt, ihr Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Uta. in der Nacht falle ein weiterer Hilfebedarf an, da sie vermehrt etwas zu trinken benötige und hierdurch bedingt öfter die Toilette aufsuchen müsse. Der diesbezügliche Hilfebedarf sei nachts mit 1 3/4 bis 2 1/2 Stunden anzusetzen. darüber hinaus schwitze sie den ganzen Sommer vermehrt, sodass sie zusätzlich in der Nacht gewaschen werden müsse. Der hierfür erforderliche Hilfebedarf sei ebenfalls zu berücksichtigen.

10

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 6. Mai 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 22. Oktober 1999, 20. Dezember 1999 und 28. März 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 20. Juli 1999 weitere häusliche Pflegesachleistungen im Sinne des § 36 Abs. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu gewähren.

11

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Die statthafte Berufung ist form- sowie fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.

15

Sie ist jedoch nicht begründet.

16

Streitgegenstand sind die Bescheide der Beklagten vom 22. Oktober 1999, 20. Dezember 1999 und 28. März 2000 sämtlichst in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2001. Die Erklärungen der Beklagten vom 22. Oktober und 20. Dezember 1999 sowie die vom 28. März 2000 sind Verwaltungsakte im Sinne des § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) Sie enthalten eine Regelung im Sinne dieser Norm; sie sind alle auf die Bewirkung einer Rechtsfolge in der Sache gerichtet. In jeder der vorgenannten Erklärungen hat die Beklagte nach Prüfung bzw. erneuter Prüfung des Sachverhalts in Auswertung und unter Hinweis auf die jeweils eingeholten bzw. vorgelegten medizinischen und pflegerischen Unterlagen entschieden, dass der Klägerin ein Anspruch auf Leistungen gemäß § 36 Abs. 4 SGB XI nicht zukommt. Dementsprechend ist jeder der Bescheide mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen (vgl. zur Unterscheidung zwischen so genannter wiederholender Verfügung und Zweitbescheid Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1998, § 12 Rdnr. 31, S. 280 f. und § 20 Rdnr. 18, S. 373 f.). Die Beklagte hat die frist- und formgerecht eingelegten Widersprüche der Klägerin gegen die vorgenannten Bescheide mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2001 teilweise ausdrücklich und im Übrigen jedenfalls in der Sache zurückgewiesen. Dass alle drei Verwaltungsakte Gegenstand des einen Vorverfahrens geworden sind, das mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2001 abgeschlossen worden ist, ergibt sich auch aus § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Wird während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert, so wird nach dieser Vorschrift auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens. Dabei ist die Norm aus Gründen der Prozessökonomie weit auszulegen und erfasst unter anderem auch bestätigende Verwaltungsakte (vgl. Meyer-Ladewig SGG, 7. Aufl. 2002, § 86 Rdnr. 2 i.V.m. § 96 Rdnr. 4).

17

Da sämtliche Ausgangsbescheide letztlich ihre Gestalt im Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2001 gefunden haben, hat die Klägerin diese bereits erstinstanzlich mitangefochten und ist die Klage auch insoweit vom Sozialgericht beschieden worden.

18

Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Klägerin steht ein Anspruch auf weitere Pflegesachleistungen nach § 36 Abs. 4 Satz 1 SGB XI nicht zu.

19

Nach dieser Vorschrift können die Pflegekassen in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten Pflegebedürftigen der Stufe III weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von früher 3.750,00 DM und jetzt 1.918,00 EUR monatlich gewähren, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt. Was unter dem Begriff "außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand" zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber nicht selbst definiert, sondern dies den Richtlinien der Spitzenverbände der Pfle-gekassen (§17 SGB XI) überlassen. Nach § 17 Abs. 1 Satz 3 SGB XI haben die Spitzenverbände der Pflegekassen unter Beteiligung des MDK gemeinsam und einheitlich Richtlinien zur Anwendung der Härtefallregelung des § 36 Abs. 4 SGB XI zu beschließen. Diesem Auftrag sind die Spitzenverbände der Pflegekassen durch die Richtlinien zur Anwendung der Härtefallregelungen (Härtefallrichtlinien-HRi) vom 10. Juli 1995, zuletzt geändert durch Beschluss vom 3. Juli 1996 nachgekommen. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat die HRi, wie nach § 17 Abs. 2 SGB XI vorgeschrieben, genehmigt. Ziffer 4 der HRi definiert die Merkmale für einen außergewöhnlich hohen Pflegeaufwand wie folgt: "Der Pflegeaufwand wird bestimmt durch die Art, die Dauer und den Rhythmus der erforderlichen Pflegemaßnahmen. Dieser kann sich auf Grund der individuellen Situation des Pflegebedürftigen als außergewöhnlich hoch bzw. intensiv darstellen, wenn die täglich durchzuführenden Pflegemaßnahmen das übliche Maß der Grundversorgung im Sinne von Ziffer 4.1.3. der Pflegebedürftigkeits-Richtlinien qualitativ und quantitativ weit übersteigen. Das ist der Fall, wenn die Grundpflege für die Pflegebedürftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflege-kräften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden kann oder Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität mindestens sieben Stunden täglich, davon wenigstens zwei Stunden in der Nacht, erforderlich ist. Zusätzlich muss ständige Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderlich sein."

20

Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht.

21

Die Grundpflege der Klägerin muss tagsüber zumindest nicht vollständig und auch nicht während der Nacht von mehreren Personen zeitgleich erbracht werden. Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des SG Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

22

Ferner bedarf die Klägerin auch keiner Hilfe von mindestens zwei Stunden in der Nacht.

23

Nach den Feststellungen der Sachverständigen K. , die auf einer Befragung der Helferin des ambulanten Dienstes der Firma "Pflegedienst L. ", Frau M. , und der Pflegeperson Frau N. beruhen, erfolgen bei der Klägerin gegen 23.00 Uhr und 5.00 Uhr jeweils eine Flüssigkeitsaufnahme und eine Lagerung. Da die Aufnahme einer kompletten Mahlzeit durchschnittlich 25 Minuten und eine Lagerung 3 Minuten dauere, würden zwei Stunden selbst dann nicht erreicht, wenn der Klägerin des Nachts eine vollständige Mahlzeit gereicht würde.

24

Die Voraussetzungen eines nächtlichen Hilfebedarfs von mindestens 2 Stunden sind aber auch dann nicht erfüllt, wenn man zusätzlich einen nächtlichen Toilettengang berücksichtigt, der zwar im Gutachten K. nicht erwähnt, dafür aber im MDK-Gutachten vom 17. Oktober 2000 angeführt ist. Im MDK-Gutachten vom 17. Oktober 2000 und im Gutachten K. wird ausgehend von der Verrichtung des Stuhlgangs viermal pro Woche ein durchschnittlicher Zeitaufwand pro Tag von 11 Minuten zu Grunde gelegt. Rechnet man diesen Wert mit den obigen Zeitansätzen für Lagerung und Flüssigkeitsaufnahme bzw. Aufnahme einer vollständigen Mahlzeit zusammen, ergibt sich ein nächtlicher Hilfebedarf von etwas mehr als einer Stunde. Dieser Wert stimmt im Übrigen annähernd mit den Angaben in dem zunächst überreichten, vom Ehemann der Klägerin geführten Pflegetagebuch überein.

25

Eine für die Klägerin günstigere Entscheidung wäre aber selbst dann nicht möglich, wenn man die maßgebliche Frage ausschließlich unter Zugrundelegung der Angaben in den Pflegetagebüchern vom 17. Januar 2000 bis 23. Januar 2000 und 24. Januar 2000 bis 30. Januar 2000 entscheiden wollte, in denen der Ehemann der Klägerin für die Verrichtung des Stuhlgangs Zeitwerte zwischen 45 Minuten und 130 Minuten angegeben hat. Rechnet man den dokumentierten Hilfebedarf für die vorgenannten zwei Wochen unter Berücksichtigung aller in den Pflegetagebüchern genannten Werte auf den durchschnittlichen nächtlichen Hilfebedarf um, ergeben sich Zeitwerte von 107,57 Minuten und 103 Minuten. Hierbei wäre auch eine Beaufsichtigung der Klägerin während des Toilettengangs abgedeckt, da die Aufsicht nicht länger dauern kann als der Toilettengang selbst.

26

Das nunmehrige pauschale Vorbringen der Klägerin, ihr Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, auch falle ein weiterer Hilfebedarf in der Nacht an, führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Klage. So teilt die Klägerin im weiteren lediglich mit, dass sie in der Nacht vermehrt Flüssigkeit benötige und hierdurch bedingt häufiger die Toilette aufsuchen müsse. Dass dies auf den geltend gemachten verschlechterten Gesundheitsstand zurückzuführen bzw. krankheitsbedingt ist, behauptet sie allerdings nicht. Zudem bemisst die Klägerin ihren jetzigen nächtlichen Hilfebedarf insoweit mit einem Zeitraum von 1 3/4 bis 2 1/2 Stunden. Ein jede Nacht anfallender Hilfebedarf von wenigstens 2 Stunden ergibt sich aus diesen Eckdaten jedoch nicht.

27

Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin ferner auf ein vermehrtes Schwitzen im Sommer und einen hierdurch bedingten nächtlichen Waschvorgang. Ein Hilfebedarf ist nur dann berücksichtigungsfähig, wenn er voraussichtlich für mindestens 6 Monate besteht (§ 14 Abs. 1 SGB XI). Dies trifft auf einen lediglich im Sommer auftretenden Hilfebedarf nicht zu.

28

Die Voraussetzungen der Härtefall-Richtlinien sind nach alldem nicht erfüllt.

29

Die Härtefallrichtlinien stellen bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung des Tatbestands-merkmals außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand eine abschließende Regelung dar. Der in § 36 Abs. 4 S. 1 SGB XI verwendete Begriff "können" berechtigt die Pflegekassen nicht, einen Härtefall auch dann anzuerkennen, wenn die Voraussetzungen der Ziffer 4 der HRi zwar nicht erfüllt sind, aber sonstige außer-gewöhnliche Umstände vorliegen, die eine Einstufung als Härtefall rechtfertigen könnten. Ein Ermessensspielraum steht den Pflegekassen insoweit nicht zu. Zur Wahrung des aus Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) folgenden Gebots zur Gleichbehandlung aller Versicherten der Sozialen Pflegeversicherung sind die Pflegekassen an die Härtefallrichtlinien gebunden, die bundesweit einheitlich gelten und zu Recht regionale Abweichungen ausschließen (Ziffer 1 HRi; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2001 - B 3 P 2/01 R S. 5).

30

Zwar hat das Bundessozialgericht des Weiteren ausgeführt, dass die geltenden Härtefallrichtlinien zu eng gefasst seien und überarbeitet werden müssten. Es hat jedoch gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Richtlinien bisher noch als rechtmäßig anzusehen und bis zu ihrer Neufassung weiter zu beachten seien (BSG a.a.O. S 6,7).

31

Nach Auffassung des erkennenden Senats ist eine Bindung der Pflegekassen und der Gerichte an die Härtefallrichtlinien in ihrer jetzigen Fassung im Interesse der Versicherten nur für einen vorübergehenden Zeitraum hinnehmbar. Kommen die Spitzenverbände der Pflegekassen ihrer Pflicht zur Überarbeitung der Richtlinien in einem angemessenen Zeitraum nicht nach, werden auf die Richtlinien gestützte ablehnende Bescheide wegen Rechtswidrigkeit dieses Regelwerks keinen Bestand haben können.

32

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, d.h. weniger als 2 Jahre nach der o.g. Entscheidung des Bundessozialgerichts, sind die Richtlinien jedoch noch weiter anwendbar. Da die Überarbeitung der Richtlinien eine Auswertung der bisherigen bundesweiten Erfahrungen und evt. neue statistische Erhebungen erforderlich macht, ist dieser Zeitraum noch nicht als unangemessen lang anzusehen.

33

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

34

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.