Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 07.08.2003, Az.: L 10 RI 354/02
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit/ Berufsunfähigkeit/ Erwerbsminderung; Verweisung auf Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; Berufsschutz als Berufskraftfahrer; Mehrstufenschema des Bundessozialgerichtes; Soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 07.08.2003
- Aktenzeichen
- L 10 RI 354/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 19951
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0807.L10RI354.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 15.08.2000 - AZ: S 5 RI 176/00
Rechtsgrundlagen
- § 43 Abs. 2 S. 4 SGB VI
- § 44 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB VI
- § 43 Abs. 3 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Tätigkeiten, die über die allereinfachste Art hinausgehen, zeichnen sich dadurch aus, dass für sie etwa eine Einweisung oder Einarbeitung oder das Vorhanden-Sein verwertbarer betrieblicher oder beruflicher Vorkenntnisse erforderlich sind; als solche Verweisungstätigkeiten kommen insbesondere die einer Hilfskraft in der Registratur, eines Aktenboten oder eines Verwalters von Büromaterial in Betracht.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 15. August 2000 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU) zusteht.
Der 1940 geborene Kläger hat in den Jahren von 1955 bis 1958 eine Berufsausbildung zum Bäcker durchlaufen, war aber in der Folgezeit in der Landwirtschaft und seit 1963 als LKW-Fahrer erwerbstätig. Im Mai 1988 hat er vor der Industrie- und Handelskammer I. die Prüfung zum Berufskraftfahrer - Personenverkehr - abgelegt. Seit 1991 war er als LKW-Fahrer im Baustellenverkehr tätig. Seit September 1997 ist der Kläger für diese Tätigkeit arbeitsunfähig, zunächst wegen Schmerzen in den Unterarmen, später wegen Lumbalgien und Wadenschmerzen. Im Jahr 1998 wurden zwei Heilverfahren durchgeführt. Seit März 1999 ist der Kläger arbeitslos.
Im November 1999 beantragte der Kläger die Bewilligung von Rente wegen EU oder BU. Zur Begründung verwies er auf Verschleiß an Rücken und Ellenbogen und fügte seinem Antrag einen Befundbericht der Allgemeinmedizinerin J. bei. Die Beklagte ließ den Kläger von Dr. K. auf neurologisch-psychiatrischem und Dr. L. auf chirurgischem Fachgebiet begutachten und lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 10. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2000 ab. Auf Grund des Ergebnisses der durchgeführten Begutachtung sei der Kläger weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Er könne trotz der gesundheitlichen Einschränkungen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten. Berufsschutz als Facharbeiter genieße er nicht.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Stade erhoben und weiterhin die Gewährung von Rente begehrt. Zur Begründung hat er sich insbesondere auf ein von ihm vorgelegtes Attest des Internisten Dr. J. bezogen. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen und ihn sodann von Dr. M. auf chirurgischem und Dr. N. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet begutachten lassen. Die Chirurgin Dr. M. hat bei dem Kläger insbesondere Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrome sowie rezidivierende belastungsabhängige Beschwerden im rechten Ellenbogen festgestellt. Sie hat ihn für in der Lage gehalten, vollschichtig körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen mit gewissen weiteren Einschränkungen zu verrichten. Dr. N. hat auf seinem Fachgebiet keinen Anlass für weiter gehende Einschränkungen des Leistungsvermögens des Klägers gesehen.
Daraufhin hat das SG die Klage mit Urteil vom 15. August 2002 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Er könne zwar die Tätigkeit als LKW-Fahrer auf Grund der gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr verrichten. Er genieße aber auch als Berufskraftfahrer keinen Berufsschutz, sodass er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden könne.
Gegen das ihm am 6. November 2002 zugestellte Urteil wendet sich die am 12. November 2002 bei dem SG eingelegte Berufung des Klägers, mit der er insbesondere geltend macht, dass ihm infolge der abgeschlossenen Ausbildung als Berufskraftfahrer Berufsschutz als Facharbeiter zustehe. Darüber hinaus sei bei ihm inzwischen eine Spinalkanalstenose festgestellt worden, die zu weiteren Einschränkungen des Leistungsvermögens führe. Bereits nach dem Ergebnis der in erster Instanz festgestellten Gesundheitsstörungen sei er nicht mehr in der Lage, vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Schließlich sei im Februar 2003 eine Bandscheibenoperation durchgeführt worden.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 15. August 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 10. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2000 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 15. August 2002 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend. Auch die in zweiter Instanz bekannt gewordenen medizinischen Erkenntnisse rechtfertigten eine andere Entscheidung nicht.
Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat der Senat Entlassungsberichte des Zentralkrankenhauses O. und des Reha-Zentrums P. beigezogen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass dem Kläger Rente wegen EU oder BU nach altem Recht oder wegen Erwerbsminderung nach neuem Recht nicht zusteht.
Dem Kläger steht Rente wegen EU oder BU gemäß §§ 44, 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden alten Fassung (a.F.) nicht zu. Die genannten Vorschriften sind gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI weiter anwendbar, soweit der Eintritt eines Leistungsfalles vor dem 1. Januar 2001 zu prüfen ist. Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI a.F., wer eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht ausüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen von mehr als 630,00 DM (seit 1. Januar 2002: rund 322,00 EUR) monatlich nicht erzielen kann. Berufsunfähig ist gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Dies setzt nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschema voraus, dass der Versicherte auch in der gegenüber seinem bisherigen Beruf nächst niedrigeren Stufe der Arbeiterberufe nicht mehr zumutbar arbeiten kann (vgl. nur Urteil des Bundessozialgerichtes - BSG - vom 26. Juni 1990, Az: 5 RI 46/89, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 5). Erwerbs- oder berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI a.F.
Aus den vorgenannten Voraussetzungen der geltend gemachten Renten wird deutlich, dass demjenigen Versicherten Rente wegen EU nicht zusteht, der nicht einmal berufsunfähig ist. Auf Grund des Ergebnisses der im Verwaltungsverfahren durchgeführten medizinischen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger nicht berufsunfähig ist.
Im Vordergrund der Funktionsstörungen des Klägers stehen krankhafte Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule, der Lendenwirbelsäule sowie der Ellenbogen, insbesondere rechts. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus der Gesamtheit der über den Kläger bekannt gewordenen medizinischen Erkenntnisse und steht sowohl im Einklang mit dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten ausführlichen Begutachtungen als auch der in zweiter Instanz vorgelegten Entlassungsberichte. Das SG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen jedenfalls noch körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung und unter Witterungsschutz vollschichtig verrichten kann. Nicht zumutbar sind ihm lediglich Tätigkeiten in Zwangshaltungen, unter Zeitdruck oder am Fließband sowie Tätigkeiten mit häufigem Heben oder Tragen von Lasten über 10 kg oder auf Leitern und Gerüsten oder auf unebenem Gelände, mit häufigem Bücken oder Hocken oder mit starken Vibrationen oder Erschütterungen.
Insbesondere ergeben sich für den Senat keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Kläger trotz der gesundheitlichen Einschränkungen noch vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Es ist nämlich nicht nachzuvollziehen, warum der Kläger durch die Gesundheitsstörungen gehindert sein sollte, solche Tätigkeiten auszuüben, die insgesamt mit geringen körperlichen Belastungen verbunden sind, die die Lendenwirbelsäule durch nur geringe Hebe- und Trage- und Gehbelastung schonen und die Halswirbelsäule vor ständigen Zwangshaltungen bewahren und die darüber hinaus für die gesamte Wirbelsäule einen gelegentlichen Haltungswechsel ermöglichen. Damit befindet sich der Senat auch in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme. Die Gutachten sind in sich schlüssig und für den Senat insbesondere hinsichtlich der von den Sachverständigen geäußerten Einschätzung des Restleistungsvermögens nachvollziehbar.
Dem steht insbesondere auch nicht der Umstand der im Februar 2003 durchgeführten Bandscheibenoperation entgegen. Nach der Operation hat sich das Leistungsvermögen des Klägers alsbald wieder stabilisiert, sodass bei Ende des Anschlussheilverfahrens Mitte März 2003 bereits wieder Arbeiten mit den genannten Einschränkungen möglich waren. Zwar ist nicht auszuschließen, dass es im Vorfeld der Operation zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes gegenüber den früher von den Sachverständigen festgestellten Befunden gekommen sein könnte, sodass möglicherweise für eine gewisse Zeit stärkere Leistungseinschränkungen bestanden haben könnten. Eine rentenberechtigende Leistungsminderung lässt sich hieraus aber nicht herleiten. Es handelt sich bei dem Bandscheibenvorfall um eine zu vorübergehender Arbeitsunfähigkeit führende akute Erkrankung. Diese war jedoch, wie die vorliegenden Entlassungsberichte ausweisen, einer medizinischen Behandlung zugängig und besserungsfähig. Eine dauernde Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit ist dadurch nicht bewirkt worden.
Mit den vorgenannten Gesundheitsstörungen kann der Kläger zwar die zuletzt verrichtete Tätigkeit als LKW-Fahrer wohl nicht mehr vollschichtig ausüben. Der Annahme von BU steht jedoch entgegen, dass der Kläger andere, ihm sozial zumutbare Tätigkeiten verrichten kann. Sozial zumutbar kann er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit Ausnahme derjenigen allereinfachster Art verwiesen werden. Denn sein bisheriger Beruf übersteigt nicht die Qualifikationsstufe des - gehobenen - Angelernten (vgl. zu der Bewertung des Berufsschutzes eines Berufskraftfahrers Urteil des BSG vom 4. November 1998, Az.: B 13 RJ 27/98 R, Die Sozialgerichtsbarkeit 1999, 75-76).
Tätigkeiten, die über die allereinfachste Art hinausgehen, zeichnen sich dadurch aus, dass für sie etwa eine Einweisung oder Einarbeitung oder das Vorhanden-Sein verwertbarer betrieblicher oder beruflicher Vorkenntnisse erforderlich sind (vgl. etwa Urteil des BSG vom 22. Oktober 1996, Az.: 13 RJ 35/96, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 55). Als solche Verweisungstätigkeiten kommen insbesondere die einer Hilfskraft in der Registratur, eines Aktenboten oder eines Verwalters von Büromaterial in Betracht. Nach den in dem Verfahren Landessozialgericht Niedersachsen, Az.: L 10 RI 23/99, von dem Sachverständigen Q. am 18. Mai 2001 dargelegten Beschreibungen handelt es sich bei der Tätigkeit einer Hilfskraft in der Registratur um körperlich leichte Arbeit, die in selbstbestimmbarem Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen verrichtet werden kann. Da die hierbei anfallenden Arbeiten keine erhöhten Anforderungen an die manuelle Geschicklichkeit stellen, können sie auch vorwiegend mit der linken Hand verrichtet werden, sodass die rechte Hand nur als Beihand fungiert. Dadurch kann der Kläger bei dieser Tätigkeit auf etwa von dem rechten Ellenbogen ausgehende Beschwerden Rücksicht nehmen. Die genannte Äußerung des Sachverständigen ist mit den Beteiligten bereits mit Schreiben vom 4. Februar 2003 zur Kenntnis gebracht worden.
Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Kläger wegen der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage und/oder wegen seines Lebensalters keine Chance hat, eine derartige Arbeitsstelle tatsächlich zu bekommen (vgl. Beschluss des BSG vom 19. Dezember 1996, Az.: GS 2/95, SozR 3-2600 § 43 Nr. 16).
Der Kläger ist auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert i.S. des § 43 SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden neuen Fassung (n.F.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI n.F. ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Da der Kläger, wie bereits ausgeführt, vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, fehlen bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen für die Annahme einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung. Im Hinblick auf die - wie bereits dargelegt - fehlende BU kommt für den Kläger auch nicht die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU gemäß § 240 SGB VI n.F. in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.